Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


 

Das Unheimliche in der Psychoanalyse

1919 veröffentlichte Freu d einen Aufsatz über das Unheimliche. Dieser Aufsatz befaßt sich mit einer wichtigen Komponente der Romantik, die auch dem Emmerick - Ereignis und der sich darum rankenden Literatur als Unterbau dient. Im folgenden ist Freuds Arbeit in seinen Kerngedanken zusammengefaßt.

Freud versucht sich dem Gegenstand über eine sprachliche Analyse zu nähern. Er bemerkt, daß das "Unheimliche" nicht immer in einem scharf umgrenzten Sinne gebraucht wird, jedoch immer mit etwas Angsterregendem zusammenfällt. Das Ergebnis seiner sprachlichen Untersuchung ist, daß das "Unheimliche" jene Art des Schreckhaften sei, welches auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht. Unheimlich sei vorgeblich der Gegensatz zu heimlich, heimisch, vertraut. Vieles Neuartige sei leicht schreckhaft und unheimlich, durchaus aber nicht alles. Oberflächlich betrachtet wäre das Unheimliche dasjenige, in dem man sich nicht auskenne. Bei der ausführlichen Analyse stößt Freud darauf, daß die Unterscheidung heimlich / unheimlich doch nicht so eindeutig ist. Er verweist auf den Urromantiker Schelling, der bemerkt habe, unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, was im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten sei und kommt zu Schluß: "Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt."

Freud entnimmt der phantastischen Literatur das Beispiel des Sandmanns von Hoffmann und zieht daraus die ersten Schlüsse. Er entwickelt darüber hinaus verschiedene Erklärungen für das Unheimliche:

1.) Kastrationsangst

Freud deutet aus der Geschichte, daß das Unheimliche direkt an der Person des Sandmannes hafte, an der Vorstellung, der Augen beraubt zu werden. Er folgert, daß die Angst zu erblinden häufig ein Ersatz für die Kastrationsangst sei.

2.) Die Ich - Spaltung im Bild vom Doppelgänger

Das zweite sei das Motiv des Doppelgängers. Ursprünglich sei die Vorstellung des Doppelgängers eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs gewesen. Freud führt dagegen seine Ich - Theorie ins Feld, den Gegensatz zwischen der kritischen Ich - Instanz und dem unbewußt Verdrängten. Er gibt als Beispiel das Dichterwort von den zwei Seelen in einer Brust. Der Doppelgänger (also der Verdrängte Anteil des Ichs) sei damit zum Schreckbild geworden, wie die Götter nach dem Sturz ihrer Religion zu Dämonen würden (nach Heine, die Götter im Exil).

3.) Wiederholungszwang

Unheimliches sei, was an den inneren infantilen Wiederholungszwang apelliere. Das Unheimliche sei die gleichartige Wiederkehr von Erlebnissen, Zahlen, Namen usw. in eigentlich unzusammenhängenden Ereignissen (z.B. wenn einem mehrmals am Tag die gleiche Zahl begegnet, ist man geneigt, dem eine Bedeutung zuzumessen)

4.) "Allmacht der Gedanken" (Animismus)

Dem eigenen Seelenleben wird eine Macht über die Realität zugeschrieben. Dabei wird auf infantile oder primitive Mechanismen des Animismus zurückgegriffen. Letztlich handelt es sich um einen regressiven psychischen Mechanismus, auf dessen Basis auch die Magie funktioniert. Spuren der animistischen Entwicklungsphase des Menschen (historisch und individuell) gäbe es in jedem Menschen. Das Anrühren an diese Phase des überzogenen Narzißmus würde als "unheimlich" empfunden. Freud führt als Beispiel den Ring des Polykrates an, dessen Träger alle Wünsche sofort erfüllt werden (sehr häufiges Märchenmotiv!), die Angst vorm "bösen Blick". Relikte fänden sich bei Zwangsneurotikern, denen just das wiederfährt, woran sie gerade gedacht oder was sie gewünscht haben. Zwangsneurotiker verknüpften ihre Wünsche mit der Realität in einer Weise, in der die narzißtischen Bedürfnisse befriedigt würden (sie hätten "Ahnungen", die "meistens" eintreffen würden).

5.) Die Angst vor dem Verdrängtem

Jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig welcher Art, würde durch die Verdrängung in Angst verwandelt. Es müsse also unter den Ängstlichen eine Gruppe geben, in der sich zeigen lasse, daß dies Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlichen wäre eben das Unheimliche.Wenn dies wirklich die geheime Natur des Unheimlichen sei, so ist zu verstehen, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in das Unheimliche übergehen läßt, denn dies Unheimliche sei wirklich nichts Fremdes oder Neues, sondern etwas dem Seelenleben seit alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden sei.

6.) Beziehung zum Tod: der Tote als Feind des Überlebenden

Unheimlich erscheine vielen Menschen, was mit Tod, Leichen, Wiederkehr der Toten, Geistern und Gespenstern zusammenhängt.

Der Satz: alle Menschen müssen sterben , paradiere zwar in den Lehrbüchern der Logik als Vorbild einer allgemeinen Behauptung, aber keinem Menschen leuchte er ein, und unser Unbewußtes hat jetzt so wenig Raum wie vormals für die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit. Die Religionen bestreiten noch immer der unableugbaren Tatsache des individuellen Todes ihre Bedeutung und setzen die Existenz über das Lebensende hinaus fort. Da fast alle von uns in diesem Punkt so denken wie die Wilden, ist es auch nicht verwunderlich, daß die primitive Angst vor dem Toten bei uns noch so mächtig ist und bereitliegt sich zu äußern, sowie irgendetwas ihr entgegenkommt. Wahrscheinlich hat sie auch noch den alten Sinn, der Tote sei zum Feind des Überlebenden geworden und beabsichtige, ihn mit sich zu nehmen als Genossen seiner neuen Existenz. Da diese Vorstellungen offiziell verdrängt seien, komme auch hier das Unheimliche zum Zuge.

7.) Nähe zu Wahnsinn und Krankheit

Menschen sind uns unheimlich, wenn wir ihnen böse Absichten zutrauen, also besondere Kräfte vermuten, die uns schaden könnten. Das Unheimliche der Fallsucht, des Wahnsinns hat denselben Ursprung. Der Laie sieht hier Äußerungen von Kräften vor sich, die er im Nebenmenschen nicht vermutet hat, deren Regungen er aber in entlegenen Winkeln seiner eigenen Persönlichkeit dunkel zu spüren vermag.

8.) Wunsch im Mutterleib zu leben

In der Angst vor dem Scheintod sitzt die Angst, lebendig begraben zu werden, für viele Menschen die Krone der Unheimlichkeit. Diese Phantasie ist tatsächlich die Umwandlung des Wunsches vom Leben im Mutterleib. Ebenso oft kommt vor, daß neurotische Männer erklären, das weibliche Genitale sei ihnen etwas Unheimliches. Dieses Unheimliche ist der Eingang zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat. Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe "Un" an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.

Literatur und das Unheimliche

In der Dichtung ist vieles nicht unheimlich, was unheimlich wäre, wenn es sich im Leben ereignete. In der Dichtung bestehen viele Möglichkeiten, unheimliche Wirkungen zu erzielen, die fürs Leben wegfallen. Zu den Freiheiten des Dichters gehört auch die, seine Darstellungswelt nach Belieben so zu wählen, daß sie mit der uns vertrauten Realität zusammenfällt oder sich von ihr entfernt.

Zusammenfassung

Es erscheint oft unheimlich, wenn die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt wird, wenn etwas real vor uns tritt, was wir bisher für phantastisch gehalten haben, wenn ein Symbol die volle Leistung und Bedeutung des Symbolisierten übernimmt und dergleichen mehr (hier hinein fällt das Phänomen Stigmatisierung). Hierauf beruht auch ein gutes Stück der Unheimlichkeit , die den magischen Praktiken anhaftet. Das Infantile daran, was auch das Seelenleben der Neurotiker beherrscht, ist die Überbetonung der psychischen Realität im Vergleich zur materiellen, ein Zug, welcher sich der Allmacht der Gedanken anschließt.

Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.

Die literarische Verarbeitung des Unheimlichen hat nicht die Voraussetzungen oder die Qualität des erlebten Unheimlichen. Das Unheimliche hervorzurufen gelingt dem Autor nur, wenn er seinen Leser über die Bedingungen seiner poetischen Komposition im unklaren läßt.

Schauergeschichten heute

Die Form der mündlich überlieferten Schauergeschichte hat sich bis heute als Teil der "oralen Kultur" erhalten. 1990 wurde eine Sammlung moderner Sagen unter dem Titel "Die Spinne in der Yucca - Palme: Sagenhafte Geschichten von heute" veröffentlicht. Das kleine Taschenbuch wurde sofort ein Bestseller (370.000 Auflage!). In dem kleinen Band finden sich Volksmythen, die jeder kennt und sie nicht unbedingt als solche erkannt hätte. Ein bekanntes Beispiel ist die "gefährliche" Coca - Cola, in der sich über Nacht ein Stück Fleisch oder sogar eine komlette Ratte auflösen sollen. Diesen Mythos konnten die Volkstumforscher bis 1968 zurückverfolgen. Die Geschichte stammt aus dem Ursprungsland der Limonade, in Europa existieren mehrere Varianten. Amerikanische Folkloristen haben für diese Geschichten inzwischen die Bezeichnung "Cokelore" eingeführt. Daneben gibt es sozusagen ewige Mythen, die je nach Umständen abgewandelt auftauchen. Manche prototypischen Sagen lassen sich über Jahrhunderte zurückverfolgen. Das Motiv der Beule, aus der eines Tages Ungeziefer bricht, kannte bereits Jeremias Gotthelf, "Die schwarze Spinne", 1842. Ein wirklich moderner Mythos ist der kopflose Motorradfahrer, der beim Einbiegen auf die Autobahn die herausragende Ladung eines LKWs übersieht. Die Metallplatten trennen den Kopf des Motorradfahrers ab, der dann "kopflos" den Wagen überholt und den Fahrer derart erschreckt, daß dieser in den Graben fährt. Diese Sage läßt sich sicherlich auch auf einen Reiter übertragen und es wäre kein Wunder, wenn sich eine ähnliche Geschichte in der Romantik finden würde. Eine ganze Reihe solcher Geschichten, läßt sich tatsächlich bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts und weiter zurück verfolgen, nur daß sich die Requisiten etwas geändert haben.

Der Kern dieser Erzählungen dürfte in den meisten Fällen das Unerhörte, Außergewöhnliche und Rätselhafte sein. Die Ereignisse, Erlebnisse und Erscheinungen werden mit dem Anspruch der Glaubhaftigkeit berichtet. Auf der Suche nach Erklärungen schöpfen die Erzähler aus den Quellen des Volksglaubens und des Mythos. Das den Menschen Unheimliche, das Unerklärliche und Angsterregende wird durch das genaue Betrachten gemildert oder gebannt. Ähnlich dürften moderne Horrorfilme funktionieren, die in den letzten zwanzig Jahren eine eigenartige Konjunktur erleben.

Der Wunderglaube, auch der kirchliche dürfte sich aus gleichen Quellen speisen. Bewiesen ist mit den volkskundlichen Studien Brednichs die anhaltende Bereitschaft, solche Wunder- und Schauergeschichten zu glauben. Die genaueren Bedingungen solchen Verhaltens können unter dem Begriff "Angstlust" nachgeschlagen werden. Übertragbar ist diese Angstlust ohne weiteres auf die Geschichte der Emmerick, die nach ähnlichen Gesetzen funktioniert, wie eben die Wunder- und Schauergeschichte. Aus diesem Grunde wird das Wunder in der katholischen Kirche nach wie vor goutiert, das Unheimliche und das Heimliche, die Gefahr und deren wundersame Abwendung können unter dem Schutz der Religion erinnert und gebannt werden. Die Kirche selbst bietet dann ihre Religion dann als Erklärung der wundersamen Rettung an.