Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


Krankengeschichte II

Die Wunden

Anzahl, Lokalisierung

Über die Beschaffenheit und Form der Hautdefekte gibt es eine Reihe verschiedener Quellen, so das Tagebuch Weseners, die Untersuchungsprotokolle der beiden Kommissionen und Beschreibungen von Ärzten. Übereinstimmend werden die Wunden an den gleichen Körperpartien lokalisiert: auf dem Rücken der Hände und Füße, in den inneren Flächen der Hände, sowie unter den Fußsohlen. Dasselbe gilt für die Hautdefekte im Haaransatzbereich. Unterschiedlich ist jedoch die Lokalisierung der Wunden am Oberkörper.

Uneinheitlich beschreiben die Quellen ein doppelkreuzförmiges Mal auf der Brust. Rave findet am 22.2. 1817 feine, rötliche und kreuzförmige Narbenauf der Brust. Im Juli 1813 erwähnt Rensing ein doppeltes Kreuz auf dem Brustknochen, Wesener gibt auch den Brustkochen an,ebenso Druffel. Overberg ortet ein Kreuz an der unteren Brust, ebenfalls Rave, der unter der rechten Brust eine Narbe findet.

Desweiteren gibt es eine kreuzförmige Wunde über dem Magen, welche weder mit der Wunde unter der Brust noch mit der Seitenwunde identisch ist. Beschrieben wird dieses "Magenkreuz" von Dr. Vogt, Limberg, Overberg, Wesener usw.

Als dreizehnte Wunde findet sich eine seitliche Wunde auf der rechten Seite zwischen der vierten und fünften Rippe.

 

Form und Größe

Von den Wunden sind Abdrücke erhalten, die im Redemptoristenkloster Gars aufbewahrt werden. Die Abdrücke ergeben - wenn sie echt sind - Größe und Form der Wunden.

Die Wunden auf der Brust hatten die Form zweier aufeinandergestellter Kreuze in der Art eines verdoppelten Coesfelder Kreuzes. Dieses Kreuz ist eine Mischung aus einem lateinischen und einem Andreaskreuz, d.h. der waagrechte Balken ist an den äußeren Enden nach unten durch zwei schräge Stützbalken mit dem senkrechten Balken verbunden. Die Wunde hatte eine Gesamthöhe von 10 cm bis 12 cm und eine Breite von oben 3,8 bis 5,5 cm, unten 3,2 bis 4,5 cm.

Die Seitenwunde hat eine Läge von 5 bis 7 cm.

Die Hautdefekte am Kopf umfaßten den Stirnbereich und vereinzelte Stellen am Hinterkopf, eine Schätzung nach dem Abdruck dürfte ein Bereich von etwa 15 x 4 cm verdichteter Punkte im Stirnbereich betroffen gewesen sein. Die Größe der Hand- und Fußmale entsprachen etwa die eines Zweigroschenstückes, an den Innenseiten der Hände waren sie kleiner.

Das Magenkreuz hatte etwa gleich lange und breite Balken, wobei sie überproportional dick waren. Die Balken waren etwa vier Zoll lang und ½ Zoll breit.

 

Beginn und Ende der Blutungen

Im Mai 1812 verließ die säkularisierte Nonne das Kloster und zog in in das Haus der Witwe Rothers, nur wenige Schritte entfernt, um. Nach Overbergs Aufzeichnungen (Angaben Emmericks 1813) zeigte sich die erste Wunde über dem Magen am 28. August desselben Jahres, dem Augustinustag (Ordensstifter d. Klosters), also mit einer zeitlichen Versetzung von drei Monaten. Das untere Kreuz auf der Brust ungefähr sechs Wochen später, am Katharinentag (Namenstag d. Emmerick, der ist aber im November) ), das obere Kreuz am Christfest, die Wunden an Händen und Füßen und in der Seite zwischen Weihnachten und Neujahr. In der Reihenfolge ist diese Aussage richtig, doch sind die Daten durch nichteindeutige Interpunktion des Originaltextes auch anders lesbar: "das untere Kreuz auf der Brust ungefähr sechs Wochen nachher, am Feste St. Catharinae Mart. das obere Kreuz auf der Brust; am letzten Weihnachtsfest die Wunden an Händen und Füßen und in der Seite zwischen Weihnachten und Neujahr. Diese Version ist wohl die richtige, weil der Katharinatag im November und nicht sechs Wochen nach dem 28. August ist.

Der Beginn der Blutungen am Kopf ist nicht genau rekonstruierbar, weil die Angaben teils voneinander abweichen, teils, was die Stirnblutungen betrifft, unglaubwürdig sind. Die Emmerick will Schmerzen um die späteren Wunden am Kopf schon in der Zeit bei dem Organisten Söntgen bekommen haben. Clara Söntgen bestätigt dies. Drei bis vier Jahre später sollen die Kopfmale dann geblutet haben. Weder der Arzt Krauthausen, noch irgendeine Person des Klosters bestätigen diese Angaben.

Im Untersuchungsprotokoll von Rave (1817) findet sich ein anderer Hergang. A. K. Emmerick will die Wunden 1812 auf einmal, nach einer schweren Krankheit, bekommen haben. Auch soll die Kopfwunde schon beim Klostereintritt geblutet haben.

Die Wunden hörten spätestens am Weihnachtstag 1818 auf zu bluten, nachdem die Hand- und Fußblutungen schon am Karfreitag 1816 endigten. Wie öfter in den Quellentexten widersprechen sich auch in diesem Punkt die Angaben. In seinem Entwurf für eine Krankengeschichte, die der Landrat Bönninghausen angefordert hatte, schreibt Wesener im August 1819, daß im Jahr 1816 nur die Blutungen auf dem Brustbeine ausblieben, Hände und Füße jedoch bis 1818 regelmäßig freitags bluteten. An Brentano schreibt Wesener im Januar 1819:

Am 23. Dezember aber, es war Mittwochen, blutete abends das Kreuz auf der Brust und das Seitenmal, am 25. Dezember bluteten beide nochmal und auch der Kopf heftiger als lange vorher. Dabei blieben die Hand- und Fußmale trocken. Am 28. Dez. fielen die Krusten von Händen und Füßen ab, die Male waren verschwunden und bluten seit der Zeit gar nicht mehr, dagegen ergießt sich das Blut jetzt an den Freitagen aus dem Kopf, aus dem Kreuze und aus den Seitenmalen, auch einigemale durch Erbrechen aus dem Magen oder aus der Brust."

Mit den Zeiträumen des Ausbleibens der Blutungen können Bezüge zur Diskussion um eine neue - staatliche - Untersuchungskommission hergestellt werden, weil diese Erörterungen wohl nicht ungehört an der Kranken vorübergegangen sein werden. Vereinzelt sollen die Wunden später noch geblutet haben. Der Untersuchungskommission war Anfang 1818, als entsprechende Überlegungen schon sehr konkret waren, jedoch erst einmal das Objekt genommen. Insbesondere bei Rensing hat die Tatsache der plötzlich versiegenden Blutungen einen Zweifel genährt, der später in seiner kritischen Revision zur Geltung kam. Das Ausbleiben der Blutungen 1816 scheint im Zusammenhang mit neuerlichen öffentlichen Diskursen und in Erwartung einer erneuten Untersuchung gestanden zu haben. Rensing berichtet dem Generalvikar im Mai von seinen aufkommenden Zweifeln und begründet sie mit den Zeitungsberichten über die Verurteilung der Betrügerin Maria Agnese Firrao Romana, einer Franziskanerin, in Rom. Diese hatte sich Stigmata selbst beigebracht, das Urteil wurde am 14. Februar 1816 verkündet, kann die öffentliche Meinung der Kleinstadt Dülmen und damit die Emmerick also bequem vor Karfreitag (12. April) erreicht haben. Ob hierbei eine unmittelbare Kausalität gegeben ist, sei dahingestellt. Die zeitliche Nähe des Ausbleibens der Blutungen zu einer drohenden Einsetzung einer Untersuchungskommission ist jedenfalls verblüffend.

 

Hergang der Blutungen und Beschaffenheit der Wunden

Die Blutungen erschienen in regelmäßiger Folge alternierend. Wesener ist der genaue Chronist und Beobachter der Vorgänge. Zunächst, in den ersten Jahren, bluteten Hände und Füße alle Nachmittage zwischen drei und fünf Uhr, während die Emmerick in "Betrachtungen" - offenbar ein tranceartiger Zustand - weilte. Das Doppelte Kreuz auf dem Brustbein blutete meistens mittwochs, Seite und Stirn freitags.

Waren die Blutungen an sich Gegenstand des öffentlichen Interesses an der "Stigmatisierten", so war die Beschaffenheit der Wunden Beobachtungsobjekt der akademisch gebildeten Ärzte und Geistlichkeit, schließlich gab die Art der Wunden Auskunft über Metaphysik oder Kausalität. Bis Mitte 1816 sollen laut Rensing schon über 20 Ärzte die Kranke und deren Wunden inspiziert haben. Wesener scheint der einzige, der den Beginn der Blutungen genau beobachtet und aufgeschrieben hat. Allerdings hat er laut eigenen Angaben ausschließlich den Beginn der Blutungen an Hand- und Fußrücken beobachtet. Er beschreibt den Vorgang:

Der Hergang bei diesem Bluten war folgender, wie ich's hundertfältig beobachtet und mit der Lupe untersucht habe. Kurz vor dem Blutergusse bemerkte man eine Turgeszens in den Hautgefäßen, es entstand ein roter Hof um die Stellen auf den Rücken der Hände und Füße (in den Flächen derselben habe ich denselben nie deutlich gesehen). Wenn die Kranke bei sich war, so zuckte sie und wand sich oft vor dem heftigen Stechen, welches sie jetzt in den Malen empfand. Nun hob sich die Kruste des eingetrockneten cruors, der von der vorigen Blutung zurückgeblieben war und ich sah eine seröse Feuchtigkeit hervorquellen, der röteres und röteres und endlich ganz dunkelrotes, klebriges Blut nachfolgte. Auf dem Brustbeine und am Kopfe habe ich die Entstehung des Blutes nie beobachten können, denn solange ich beide Teile entblößt hielt, rötete sich das Kreuz wohl, aber beide Stellen bluteten nicht. Wahrscheinlich verhinderte dieses die adstringierende Kraft der atmosphärischen Luft an beiden Teilen, die dadurch empfindlicher geworden waren, weil sie beständig bedeckt und sehr warm gehalten wurden. Ich habe aber gleich, sowie ich einige Tropfen Blutes unter der Kopfbedeckung hervorkommen sah, letztere abgenommen, die Stirn mit lauem Wasser abgewaschen, und entdeckte nun durch eine gute Lupe die erweiterten Pori, die das Blut ergossen hatten, und ich kann daher diese Blutungen mit vollem Rechte für ein lokales Blutschwitzen ausgeben. An der Stirn und rund um den Kopf, wo das Blut in Form einer Krone hervorkam, konnte ich nach völlig beendeter Blutung nichts mehr sehen, alles hatte die natürliche Hautfarbe, aber das Kreuz auf dem Brustbeine und auch das Seitenmal ließen auch im untätigen Zustande längliche Furchen zurück, die größte Ähnlichkeit mit den natürlichen Furchen in den Händen hatten. Die Male an Händen und Füßen waren wirkliche Wunden, sie drangen aber nur bis in die Fetthaut, und ich habe mit der Lupe im Sonnenlichte, nachdem ich die Blutkruste losgeweicht und eine Wunde auf dem Rücken der Hand ausgewaschen hatte, die feinen Fettklümpchen in den Zellen deutlich liegen gesehen.

Noch muß ich eines zweiten rechtwinklichten Kreuzes erwähnen, welches sich unmittelbar unter dem Nabel befand und durch eine bräunliche Hautfarbe sich zu erkennen gab. Es war zirka 4 Zoll lang, ebenso breit, die Balken aber maßen ½ Zoll in der Breite. Aus diesem Kreuze ergoß sich manchmal der Schweiß stromweise, so daß ein vierfach zusammengelegtes Sacktuch in 5 Minuten so durchnäßt war, daß man es ausringen konnte. Zuweilen bei Urinverhaltung bildeten sich Wasserblasen auf diesem Kreuze, als wenn sie ein Vesikator veranläßt hätte. Wenn die Blasen platzten, waren die Stellen gleich wieder trocken."

Auch Overberg hatte den Ausbruch der Blutungen beinahe beobachten können, aber eben nur beinahe. Er beschreibt, wie die Wunden an den Händen anschwellen, dann aber nicht zu bluten beginnen. A. K. Emmerick erklärt darauf, das wäre immer so, wenn die Wunden am nächsten Tag (!) bluten würden.

Das Kreuz auf der Brust war durch Einschnitte in die Haut verursacht, was nach der feinen Definition der Wunde und deren Rändern auch nicht anders möglich wäre:

"Ich sah nach der Form des Kreuzes kleine kreuzförmige Einschnitte in der Haut..."

Auch die Seitenwunde hatte einen Schnitt zur Ursache:

"Über dieser Wunde, in ihrem ganzen Verlaufe, war ein bräunlicher, etwa drei Linien, oder wie wir zu sagen pflegen, einen Pfeifenstiel dick, breiter Rand, eine Sugillation, die in dem Hautgebilde entstehen muß, wenn dasselbe in schiefer Richtung durchschnitten oder durchstochen wird. Dieser sugillierte Rand, den wie ich schon bemerkte, alle übersahen, wenigstens nicht angaben, war mir sehr auffallend...."

Nach Rensing wollen die untersuchenden Ärzte keine Wunde gesehen haben:

"Das Kreuz und die Seitenwunde liegen, nach Zeugnis der Ärzte in der gar nicht verletzten Haut, und das Blut dringet daraus hervor wie der Schweiß aus den Schweißlöchern..."

Overberg entdeckte nach abwaschen des Blutes einen dünnen hellroten Strich in der Form des Kreuzes.

Wie unterschiedlich die Angaben auch sein mögen, einheitlich ist die Feststellung einer Sugillation an Brustkreuz und Seitenwunde. Sugillationen - flächenhafte Hautblutungen - treten sowohl nach Schnittverletzungen als auch bei krankhaften Blutungsneigungen auf. Dr. Rave fand als Arzt der staatlichen Untersuchungskommission - also nach Versiegen der regelmäßigen Blutungen - sowohl an der Stelle des Brustkreuzes als auch der Seitenwunde Narben, was auf eine äußere Verletzung schließen läßt. Die Wunden an Händen und Füßen hinterließen teils schwielenartige, teils hautverfärbende Narben.

Die Stirnblutungen werden von allen Beobachtern ähnlich beschrieben. Das Blut trat aus kleinen, Poren oder Flohstichen ähnlichen Stellen aus, so daß der Eindruck von Blutschwitzen entstand. Diese Stellen könnten wie ein Guß bluten. Eine abweichende Schilderung gibt Dr. Bodde.