Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


Krankengeschichte I

Körperliche Symptomatik

Die körperlichen Symptome der Emmerick lassen sich nur schwer in psychogene und somatogene scheiden. Kein Mediziner - und schon gar kein Historiker - kann nach fast 200 Jahren mit Sicherheit die Ätiologie eines oder mehrerer Symptome diagnostizieren, es geht immer um Annahmen, Arbeitshypothesen, die besseren Argumenten weichen müssen. Plausibel wird eine Diagnose, wenn nicht nur isolierte Symptome gedeutet werden müssen, sondern eine Entwicklung nachvollzogen werden kann. Der Verlauf dieser Krankengeschichte ist sinnvoll rekonstruierbar, da es zuverlässige Quellen und eine nachvollziehbare Steigerung gibt, die zu bestimmten Lebensphasen zugeordnet werden kann. Zudem wird dieser Prozeß von unterschiedlichen Quellen beschrieben, so daß eine Schnittmenge gemeinsamer und voneinander unabhängiger Beobachtungen existiert. Sicher ist, daß Läsionen einzelner Organe oder Organgruppen vorhanden waren. Immer wiederkehrende Beschwerden, beispielsweise Husten und Katarrhe, welche die Emmerick seit der Jugend begleiteten, weisen darauf hin.

Die Krankheitsgeschichte läßt sich grob in drei Phasen unterteilen, die annähernd analog den Lebenseinschnitten der Emmerick folgen. Die erste Phase möchte ich auf die Zeit ihrer Jugend bis in die ersten Jahre ihrer Klosterzeit legen, wo vorwiegend Beschwerden in den Atmungsorganen auftreten. Darauf folgt ab etwa 1807 eine Zeit mit verstärkten Dysfunktionen der Verdauungsorgane. Ab 1809, besonders seit 1812 bilden sich daneben hysterische Auffälligkeiten, wie Störungen in der Motorik und ekstatische Visionen heraus, die sie bis zu ihrem Tode beibehält bzw. steigert.. Auffällig ist eine Kulmination um 1808/1809, wo sich die körperlichen Symptome voll ausgebildet haben und die psychischen offen in Erscheinung treten. 1812 treten dann auch die Blutungen an Händen, Füßen, Bauch, Brust und Kopf auf. Erst die Zuordnung dieser Hautdefekte zur regionalen religiösen Kultur rückt die Kranke aus der Anonymität, der sekundäre Krankheitsgewinn ist unübersehbar.

Kindheit und Jugend

In der Kindheit und Jugend sind bis auf die "Rachitis" und Atemwegsbeschwerden keine weiteren Symptomgruppen zu finden, wenn man davon absieht, daß die Emmerick schon immer eine gewisse Appetitlosigkeit aufwies. Wesener bemerkt in seiner "Kurzgedrängten Geschichte", die Emmerick sei von frühester Jugend schwächlich gewesen, und trüge noch die unzweifelhaften Spuren einer in frühester Jugend erlittenen Rachitis an sich. Weder Krauthausen noch Druffel bemerken diese Spuren.

Angaben über körperliche Beschwerden finden sich für die Zeit bis zum Klostereintritt nur spärlich, die Emmerick behauptet sogar, sie sei gesund gewesen. 1793/94 bricht sie wegen Krankheit ihre Lehre als Näherin ab. Mathes gibt als Grund für den Abbruch der Lehre eine TBC an. In der Vernehmung der Lehrfrau Elisabeth Krabbe spricht diese nur von "Krankheit". Ein wesentliches Hindernis für die Aufnahme ins Kloster Agnetenberg war neben ihrer Armut ihre schwächliche Konstitution. Außer den Selbstzeugnissen bei Stolberg und Brentano gibt es für diesen Zeitabschnitt keine Informationen, die auf eine bestimmte Krankheit schließen lassen. Die Angaben sind jedoch retrospektiv und bereits in bestimmte Bedeutungszusammenhänge eingewoben.

Klosterzeit

Genauere Aufzeichnungen setzen mit dem Eintritt ins Kloster ein. Dr. Krauthausen, der dort tätige Arzt, hat eine Chronologie der Erkrankungen seit 1802 erstellt. Im Anfang der Klosterzeit finden sich relativ harmlose Beschwerden: Katarrhe, Verstopfung, Appetitverlust mit Erbrechen, Krämpfe und Wechselfieber. 1804 und danach häufen sich Erkrankungen bei gleichbleibendem Krankheitsbild, die Emmerick ist jedoch nicht bettlägerig. 1806 registriert Krauthausen Wurmbefall, den auch Wegener später wieder feststellt. 1805 erleidet sie einen Unfall, von dem ein "Geschwulst" an der linken Hüfte zurückbleibt.

Um 1807/1808 verschlechtert sich der Gesundheitszustand rapide. Beschwerden in den Verdauungsorganen stehen im Vordergrund. Erstmals zeigt sich Bluterbrechen und Blutabgang mit der Fäzes, die Appetitlosigkeit verstärkt sich. Krauthausen stellt periodisches Aufschwellen des Unterleibes fest. 1808 setzen die "Ohnmachten" ein, nach den Aufzeichnungen Overbergs beginnen jetzt auch die motorischen Ausfälle.

1809 kulminiert das Krankheitsbild: starkes Blutbrechen, Beklemmungen und Schmerzen in Brust und Unterleib. Für dieses Jahr wird ein Ereignis besonders herausgestellt, nämlich eine mehrtägige Bewußtlosigkeit, die mit plötzlichem Erbrechen einer größeren Menge Sekrete (nach Wesener Eiter, nach Emmerick stinkende, blutige Jauche) endet. Krauthausen beschreibt das erbrochene Blut als dick und braunrot.

1810 behandelt Krauthausen ein zwei Monate anhaltendes "Nervenfieber", erstmals wird auch das starken Schwitzen der Emmerick erwähnt. Ohnmachten, Schmerzen und Zuckungen wechseln sich ab. 1811 diagnostiziert Krauthausen "rheumatische Schmerzen" und eine "rheumatische Augenentzündung". Augenentzündungen werden seitdem, wenn auch in größeren Abständen, immer wieder erwähnt. Vor ihrem Tod hält eine Augenentzündung ein halbes Jahr an, die Emmerick klagt über gräßliche Schmerzen in den Augenhöhlen.

Die Zeit nach dem Kloster

Im November 1811 wird das Kloster aufgehoben, die Emmerick verläßt als letzte Nonne das Haus etwa im Mai 1812 und zieht als Haushilfe mit dem Klosterpater Lambert in eine Privatwohnung (bei der Witwe Roters). Im August erscheinen die Hautdefekte, die keine oberflächlichen Verletzungen sind, sondern in einer Art Blutschwitzen auftreten. Die Blutungen treten jedoch nicht gleichzeitig auf, sondern beginnen am Augustinustag (Emmerick ist Augustinerin), also am 28. August 1812 mit Blutungen am Oberbauch über dem Magen. Die Beschreibungen wiedersprechen sich über die Ausbreitung des Phänomens am Körper der Kranken. Die zeitnächste Beschreibung ist die von Overberg. Danach folgt sechs Wochen später ein Kreuz unter der (rechten) Brust, am Katharinatag das Kreuz auf dem Brustbein. Weihnachten beginnen Blutungen an Händen und Füßen, bis Neujahr an der Seite. Für den Beginn der Blutungen am Kopf gibt es unterschiedliche Angaben, wahrscheinlich ist die Zeit zwischen Ende November und Neujahr.

Um Weihnachten 1812 verstärken sich die motorischen Störungen, sie werden nach wie vor als als Schwäche gedeutet und nicht als Lähmung beschrieben. Obwohl Krauthausen wiederholt längere Bettlägerigkeit - auch über Monate - erwähnt, wird dieses Hauptsymptom erst jetzt als solches wahrgenommen. Allerdings ist seit Ende März 1813 Dr. Wesener der behandelnde Arzt der Kranken, er wird zu einer maßgebenden Figur sowohl in der Diagnose, als auch in der Therapie. Wesener muß eine starke Wirkung auf die Emmerick gehabt haben, besucht er sie doch zweimal täglich und führt ein Tagebuch, auf die sich die weitere Zusammenfassung stützt. Mit Weseners Auftreten stellt sich zwar kein radikaler Symptomwandel ein, eine gewisse Verlagerung ist allerdings nicht von der Hand zu weisen.

Weseners Augenmerk richtet sich auf die "starken Schweiße", die Emmerick ist wohl immer mehr oder weniger stark durchgeschwitzt, die Blutungen und die Nahrungsaufnahme. Gleichzeitig mit dem Auftreten Weseners, im Frühjahr 1813, verstärkt sich die Anorexia, die Nahrungsaufnahme beschränkt sich auf ein Minimum, allerdings nimmt die Emmerick große Mengen klaren Wassers zu sich. Seit Fastnacht 1813 ist die Emmerick endgültig unfähig zu gehen und zu stehen.. Infolge der Bettlägerigkeit entsteht ein Decubitus, eine wundgelegene Stelle, vermutlich am Kreuzbein. Anfälle von motorischen Störungen (starrer, schlaffer und konvulsischer Art) treten nun regelmäßig mehrmals täglich auf.

Im Herbst 1813 lassen die Nachtschweiße nach. Von Frühjahr bis Sommer 1814 nimmt die Symptomatik im Verdauungsbereich wieder zu. Wesener beobachtet Auftreibungen des Bauches und einen Erstickungsanfall, bei dem die Emmerick blau anläuft und dann wiederum Blut erbricht. Er berichtet von krampfartigem Schlingen, Krämpfen in Magen und Schlund. Schließlich erbricht die Kranke nochmals einige "Borken eines gelben, koagulierten Schleimes von der Größe eines 2ggr. Stücks".

In seiner "kurzgedrängter Geschichte" faßt Wesener die Erkrankungen der Emmerick während seiner Behandlungszeit kurz zusammen: Pleuritis, Hepatitis, Magenkrämpfe, Gicht, Augenentzündungen, konvulsisches Erbrechen, Blutauswurf beim Husten, hartnäckige Katarrhe, konvulsisches Husten, Wechselfieber, Wassersucht.

Für die Zeit zwischen 1819 und dem Tod der Emmerick am 9. Februar 1824 gibt es kaum Aufzeichnungen, was den Gesundheitszustand der Emmerick betrifft, da Brentano, der nach Wesener der Vertraute der Kranken wurde, sein Augenmerk mehr auf ihre Ekstasen und Visionen richtete. Anzunehmen ist, daß der Zustand der Emmerick in körperlicher Hinsicht sich nicht wesentlich geändert hat. Weseners Beschreibungen ihrer Todesumstände deuten auf starke Schädigung der Körperabwehr hin, Todesursache sei eine Pleuritis gewesen, die mit Lungenlähmung endete.

Die Ernährung der Emmerick bestand seit ihrer Säkularisierung vorwiegend aus flüssigen Bestandteilen. Sie verweigerte niemals jegliche Nahrung. Immer wieder nimmt Wesener diesen Punkt auf: mal genoß sie den Saft von Früchten, dann aber auch in geringen Mengen Kuhmilch, Fleischbrühen, Gersten- und Haferschleim, daneben auch täglich die Hostie. Ein Jahr lang, von Oktober 1817 bis Oktober 1818 wurde sie zusätzlich von einer Amme mit Muttermilch ernährt. Dies stellte insgesamt sicher nur eine Minimalernährung im Grenzbereich zum Verhungern dar, scheint aber zur Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen der Organe ausgereicht zu haben. In der Zeit der staatlichen Untersuchung im August 1818 hat die Emmerick völlig abstinent gelebt. Das Ergebnis der dreiwöchigen Nulldiät war eine völlige Entkräftung, Wesener bemerkt an ihr "einen Leichengeruch, durch Mund und Nase geht eine aashaft riechende Materie ab. Sie erholt sich von den Ereignissen nicht: "Mit ihren körperlichen Verhältnissen ist eine merkwürdige Änderung vorgegangen. Im Ganzen ist sie seit vorigem Herbst äußerst matt und hinfällig geworden und ihr Körper ist nun nichts mehr als ein Gerippe."

Ihre Ausscheidungen waren meist flüssig mit darin herumschwimmenden, Hasenkot ähnlichen Klümpchen. Haufig erwähnen Krauthausen und Wesener Obstipationen. Diese könnten im Zusammenhang mit Verstopfung erzeugenden Medikamenten gestanden haben. Insbesondere ist hierbei an die Opiumpräparate zu denken, die innerlich angewendet Verstopfungen verursachen. Die Emmerick hatte durchgängig Würmer, wie sowohl Krauthausen als auch Wesener bezeugen.

Die Behandlung Weseners scheint sich überwiegend auf äußerliche Mittel beschränkt zu haben. Er erwähnt Opium- und Moschustinktur, deren Pulver er eingenäht in Säckchen etwa auf den Magen gelegt hätte, um Wechselfieber zu heilen. Äußerlich haben diese Mittel, ebenso wie blasenziehende Pflaster, vermutlich nur einen Placeboeffekt. Von wirksamen therapeutischen Maßnahmen Weseners ist dem Tagebuch nichts zu entnehmen.

Die Monatsblutungen sind schon mindestens seit 1807 unregelmäßig und unterbleiben auch immer wieder für längere Zeit, besonders seit 1812. Im Juni / Juli 1814 blutet sie aus den Genitalien drei Tage lang und hat einen geschwollenen, gespannten Unterleib.

Sie leidet wiederholt an Harnrückhaltung, einen Zusammenhang mit den Monatsblutungen stellt Wesener mit dem Vorfall im Juni 1814 her.

Allen Beobachtern fällt der abgemagerte Körperzustand der Emmerick auf. Sie scheint über keine Fettreserven zu verfügen, der Muskelapparat scheint auf das Minimum reduziert. Eine abweichende Beschreibung gibt Dr. Bodde, der im Bericht die Emmerick als nicht mager ("gesundes Fleisch umkleidete ihre Gliedmaßen") beschrieb. Sie ist in der Lage, ihre starren und konvulsischen Anfälle durchzuhalten. Ebenso behält sie ihre Gewohnheit bei, in ekstatischen Anfällen minutenlang mit ausgestreckten Armen zu verharren, was alle Anwesenden mit einiger Zuverlässigkeit zum Erstaunen bringt. Die Entkräftung schien sich also in Grenzen zu halten.

Ständig klagt die Emmerick über Schlaflosigkeit, kann oftmals nur einige Stunden hintereinander durchschlafen. Das Bett ist meist durchgeschwitzt, häufig muß die Bettwäsche gewechselt werden. Im Kloster soll die Wäsche durch das starke Schwitzen sogar festgefroren sein, eine eher unwahrscheinliche Behauptung, die das Geschehen aber in zweierlei Hinsicht illustriert. Erstens soll unterstrichen werden, in welchem Ausmaß die Emmerick im Kloster diskriminiert und vernachlässigt wurde, zum anderen wird deutlich, daß schon in jener Zeit äußerst starke Nachtschweiße aufgetreten sind. Das Wundliegen im Jahr 1813 wurde durch eine Roßhaarmatratze gemindert. Es ist jedoch verwunderlich, daß sich bei der empfindlichen Haut der Emmerick nicht neue Beschwerden einstellten. So müssen bettlägerige Kranke, insbesondere gelähmte Patienten, nachts mehrfach gewendet werden, um die Entzündungen zu vermeiden. Patienten, die lange Zeit bettlägerig sind, weisen oft trotz aller Pflege wunde Stellen auf, die nur mit chirurgischen Eingriffen zu beherrschen sind.

Die körperliche Symptomatik kann für eine Diagnose folgendermaßen zusammengefaßt werden:

  • Husten und Katarrhe
  • Blutauswurf beim Husten
  • Pleuritis
  • innere Blutungen unbestimmter Herkunft
  • Fieber
  • Nachtschweiße
  • "Spuren einer Rhachitis"
  • Schlaflosigkeit
  • Appetitlosigkeit
  • Erbrechen
  • Hepatitis
  • allgemeine Auszehrung
  • Harnverhalten
  • Geschwulst infolge eines Unfalls
  • Augenentzündungen