Körperliche Symptomatik
Die körperlichen Symptome der Emmerick lassen sich nur schwer in
psychogene und somatogene scheiden. Kein Mediziner - und schon gar kein
Historiker - kann nach fast 200 Jahren mit Sicherheit die Ätiologie
eines oder mehrerer Symptome diagnostizieren, es geht immer um Annahmen,
Arbeitshypothesen, die besseren Argumenten weichen müssen. Plausibel
wird eine Diagnose, wenn nicht nur isolierte Symptome gedeutet werden
müssen, sondern eine Entwicklung nachvollzogen werden kann. Der Verlauf
dieser Krankengeschichte ist sinnvoll rekonstruierbar, da es zuverlässige
Quellen und eine nachvollziehbare Steigerung gibt, die zu bestimmten Lebensphasen
zugeordnet werden kann. Zudem wird dieser Prozeß von unterschiedlichen
Quellen beschrieben, so daß eine Schnittmenge gemeinsamer und voneinander
unabhängiger Beobachtungen existiert. Sicher ist, daß Läsionen
einzelner Organe oder Organgruppen vorhanden waren. Immer wiederkehrende
Beschwerden, beispielsweise Husten und Katarrhe, welche die Emmerick seit
der Jugend begleiteten, weisen darauf hin.
Die Krankheitsgeschichte läßt sich grob in drei Phasen unterteilen,
die annähernd analog den Lebenseinschnitten der Emmerick folgen.
Die erste Phase möchte ich auf die Zeit ihrer Jugend bis in die ersten
Jahre ihrer Klosterzeit legen, wo vorwiegend Beschwerden in den Atmungsorganen
auftreten. Darauf folgt ab etwa 1807 eine Zeit mit verstärkten Dysfunktionen
der Verdauungsorgane. Ab 1809, besonders seit 1812 bilden sich daneben
hysterische Auffälligkeiten, wie Störungen in der Motorik und
ekstatische Visionen heraus, die sie bis zu ihrem Tode beibehält
bzw. steigert.. Auffällig ist eine Kulmination um 1808/1809, wo sich
die körperlichen Symptome voll ausgebildet haben und die psychischen
offen in Erscheinung treten. 1812 treten dann auch die Blutungen an Händen,
Füßen, Bauch, Brust und Kopf auf. Erst die Zuordnung dieser
Hautdefekte zur regionalen religiösen Kultur rückt die Kranke
aus der Anonymität, der sekundäre Krankheitsgewinn ist unübersehbar.
Kindheit und Jugend
In der Kindheit und Jugend sind bis auf die "Rachitis" und
Atemwegsbeschwerden keine weiteren Symptomgruppen zu finden, wenn man
davon absieht, daß die Emmerick schon immer eine gewisse Appetitlosigkeit
aufwies. Wesener bemerkt in seiner "Kurzgedrängten Geschichte",
die Emmerick sei von frühester Jugend schwächlich gewesen, und
trüge noch die unzweifelhaften Spuren einer in frühester Jugend
erlittenen Rachitis an sich. Weder Krauthausen noch Druffel bemerken diese
Spuren.
Angaben über körperliche Beschwerden finden sich für die
Zeit bis zum Klostereintritt nur spärlich, die Emmerick behauptet
sogar, sie sei gesund gewesen. 1793/94 bricht sie wegen Krankheit ihre
Lehre als Näherin ab. Mathes gibt als Grund für den Abbruch
der Lehre eine TBC an. In der Vernehmung der Lehrfrau Elisabeth Krabbe
spricht diese nur von "Krankheit". Ein wesentliches Hindernis
für die Aufnahme ins Kloster Agnetenberg war neben ihrer Armut ihre
schwächliche Konstitution. Außer den Selbstzeugnissen bei Stolberg
und Brentano gibt es für diesen Zeitabschnitt keine Informationen,
die auf eine bestimmte Krankheit schließen lassen. Die Angaben sind
jedoch retrospektiv und bereits in bestimmte Bedeutungszusammenhänge
eingewoben.
Klosterzeit
Genauere Aufzeichnungen setzen mit dem Eintritt ins Kloster ein. Dr.
Krauthausen, der dort tätige Arzt, hat eine Chronologie der Erkrankungen
seit 1802 erstellt. Im Anfang der Klosterzeit finden sich relativ harmlose
Beschwerden: Katarrhe, Verstopfung, Appetitverlust mit Erbrechen, Krämpfe
und Wechselfieber. 1804 und danach häufen sich Erkrankungen bei gleichbleibendem
Krankheitsbild, die Emmerick ist jedoch nicht bettlägerig. 1806 registriert
Krauthausen Wurmbefall, den auch Wegener später wieder feststellt.
1805 erleidet sie einen Unfall, von dem ein "Geschwulst" an
der linken Hüfte zurückbleibt.
Um 1807/1808 verschlechtert sich der Gesundheitszustand rapide. Beschwerden
in den Verdauungsorganen stehen im Vordergrund. Erstmals zeigt sich Bluterbrechen
und Blutabgang mit der Fäzes, die Appetitlosigkeit verstärkt
sich. Krauthausen stellt periodisches Aufschwellen des Unterleibes fest.
1808 setzen die "Ohnmachten" ein, nach den Aufzeichnungen Overbergs
beginnen jetzt auch die motorischen Ausfälle.
1809 kulminiert das Krankheitsbild: starkes Blutbrechen, Beklemmungen
und Schmerzen in Brust und Unterleib. Für dieses Jahr wird ein Ereignis
besonders herausgestellt, nämlich eine mehrtägige Bewußtlosigkeit,
die mit plötzlichem Erbrechen einer größeren Menge Sekrete
(nach Wesener Eiter, nach Emmerick stinkende, blutige Jauche) endet. Krauthausen
beschreibt das erbrochene Blut als dick und braunrot.
1810 behandelt Krauthausen ein zwei Monate anhaltendes "Nervenfieber",
erstmals wird auch das starken Schwitzen der Emmerick erwähnt. Ohnmachten,
Schmerzen und Zuckungen wechseln sich ab. 1811 diagnostiziert Krauthausen
"rheumatische Schmerzen" und eine "rheumatische Augenentzündung".
Augenentzündungen werden seitdem, wenn auch in größeren
Abständen, immer wieder erwähnt. Vor ihrem Tod hält eine
Augenentzündung ein halbes Jahr an, die Emmerick klagt über
gräßliche Schmerzen in den Augenhöhlen.
Die Zeit nach dem Kloster
Im November 1811 wird das Kloster aufgehoben, die Emmerick verläßt
als letzte Nonne das Haus etwa im Mai 1812 und zieht als Haushilfe mit
dem Klosterpater Lambert in eine Privatwohnung (bei der Witwe Roters).
Im August erscheinen die Hautdefekte, die keine oberflächlichen Verletzungen
sind, sondern in einer Art Blutschwitzen auftreten. Die Blutungen treten
jedoch nicht gleichzeitig auf, sondern beginnen am Augustinustag (Emmerick
ist Augustinerin), also am 28. August 1812 mit Blutungen am Oberbauch
über dem Magen. Die Beschreibungen wiedersprechen sich über
die Ausbreitung des Phänomens am Körper der Kranken. Die zeitnächste
Beschreibung ist die von Overberg. Danach folgt sechs Wochen später
ein Kreuz unter der (rechten) Brust, am Katharinatag das Kreuz auf dem
Brustbein. Weihnachten beginnen Blutungen an Händen und Füßen,
bis Neujahr an der Seite. Für den Beginn der Blutungen am Kopf gibt
es unterschiedliche Angaben, wahrscheinlich ist die Zeit zwischen Ende
November und Neujahr.
Um Weihnachten 1812 verstärken sich die motorischen Störungen,
sie werden nach wie vor als als Schwäche gedeutet und nicht als Lähmung
beschrieben. Obwohl Krauthausen wiederholt längere Bettlägerigkeit
- auch über Monate - erwähnt, wird dieses Hauptsymptom erst
jetzt als solches wahrgenommen. Allerdings ist seit Ende März 1813
Dr. Wesener der behandelnde Arzt der Kranken, er wird zu einer maßgebenden
Figur sowohl in der Diagnose, als auch in der Therapie. Wesener muß
eine starke Wirkung auf die Emmerick gehabt haben, besucht er sie doch
zweimal täglich und führt ein Tagebuch, auf die sich die weitere
Zusammenfassung stützt. Mit Weseners Auftreten stellt sich zwar kein
radikaler Symptomwandel ein, eine gewisse Verlagerung ist allerdings nicht
von der Hand zu weisen.
Weseners Augenmerk richtet sich auf die "starken Schweiße",
die Emmerick ist wohl immer mehr oder weniger stark durchgeschwitzt, die
Blutungen und die Nahrungsaufnahme. Gleichzeitig mit dem Auftreten Weseners,
im Frühjahr 1813, verstärkt sich die Anorexia, die Nahrungsaufnahme
beschränkt sich auf ein Minimum, allerdings nimmt die Emmerick große
Mengen klaren Wassers zu sich. Seit Fastnacht 1813 ist die Emmerick endgültig
unfähig zu gehen und zu stehen.. Infolge der Bettlägerigkeit
entsteht ein Decubitus, eine wundgelegene Stelle, vermutlich am Kreuzbein.
Anfälle von motorischen Störungen (starrer, schlaffer und konvulsischer
Art) treten nun regelmäßig mehrmals täglich auf.
Im Herbst 1813 lassen die Nachtschweiße nach. Von Frühjahr
bis Sommer 1814 nimmt die Symptomatik im Verdauungsbereich wieder zu.
Wesener beobachtet Auftreibungen des Bauches und einen Erstickungsanfall,
bei dem die Emmerick blau anläuft und dann wiederum Blut erbricht.
Er berichtet von krampfartigem Schlingen, Krämpfen in Magen und Schlund.
Schließlich erbricht die Kranke nochmals einige "Borken eines
gelben, koagulierten Schleimes von der Größe eines 2ggr. Stücks".
In seiner "kurzgedrängter Geschichte" faßt Wesener
die Erkrankungen der Emmerick während seiner Behandlungszeit kurz
zusammen: Pleuritis, Hepatitis, Magenkrämpfe, Gicht, Augenentzündungen,
konvulsisches Erbrechen, Blutauswurf beim Husten, hartnäckige Katarrhe,
konvulsisches Husten, Wechselfieber, Wassersucht.
Für die Zeit zwischen 1819 und dem Tod der Emmerick am 9. Februar
1824 gibt es kaum Aufzeichnungen, was den Gesundheitszustand der Emmerick
betrifft, da Brentano, der nach Wesener der Vertraute der Kranken wurde,
sein Augenmerk mehr auf ihre Ekstasen und Visionen richtete. Anzunehmen
ist, daß der Zustand der Emmerick in körperlicher Hinsicht
sich nicht wesentlich geändert hat. Weseners Beschreibungen ihrer
Todesumstände deuten auf starke Schädigung der Körperabwehr
hin, Todesursache sei eine Pleuritis gewesen, die mit Lungenlähmung
endete.
Die Ernährung der Emmerick bestand seit ihrer Säkularisierung
vorwiegend aus flüssigen Bestandteilen. Sie verweigerte niemals jegliche
Nahrung. Immer wieder nimmt Wesener diesen Punkt auf: mal genoß
sie den Saft von Früchten, dann aber auch in geringen Mengen Kuhmilch,
Fleischbrühen, Gersten- und Haferschleim, daneben auch täglich
die Hostie. Ein Jahr lang, von Oktober 1817 bis Oktober 1818 wurde sie
zusätzlich von einer Amme mit Muttermilch ernährt. Dies stellte
insgesamt sicher nur eine Minimalernährung im Grenzbereich zum Verhungern
dar, scheint aber zur Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen der Organe
ausgereicht zu haben. In der Zeit der staatlichen Untersuchung im August
1818 hat die Emmerick völlig abstinent gelebt. Das Ergebnis der dreiwöchigen
Nulldiät war eine völlige Entkräftung, Wesener bemerkt
an ihr "einen Leichengeruch, durch Mund und Nase geht eine aashaft
riechende Materie ab. Sie erholt sich von den Ereignissen nicht: "Mit
ihren körperlichen Verhältnissen ist eine merkwürdige Änderung
vorgegangen. Im Ganzen ist sie seit vorigem Herbst äußerst
matt und hinfällig geworden und ihr Körper ist nun nichts mehr
als ein Gerippe."
Ihre Ausscheidungen waren meist flüssig mit darin herumschwimmenden,
Hasenkot ähnlichen Klümpchen. Haufig erwähnen Krauthausen
und Wesener Obstipationen. Diese könnten im Zusammenhang mit Verstopfung
erzeugenden Medikamenten gestanden haben. Insbesondere ist hierbei an
die Opiumpräparate zu denken, die innerlich angewendet Verstopfungen
verursachen. Die Emmerick hatte durchgängig Würmer, wie sowohl
Krauthausen als auch Wesener bezeugen.
Die Behandlung Weseners scheint sich überwiegend auf äußerliche
Mittel beschränkt zu haben. Er erwähnt Opium- und Moschustinktur,
deren Pulver er eingenäht in Säckchen etwa auf den Magen gelegt
hätte, um Wechselfieber zu heilen. Äußerlich haben diese
Mittel, ebenso wie blasenziehende Pflaster, vermutlich nur einen Placeboeffekt.
Von wirksamen therapeutischen Maßnahmen Weseners ist dem Tagebuch
nichts zu entnehmen.
Die Monatsblutungen sind schon mindestens seit 1807 unregelmäßig
und unterbleiben auch immer wieder für längere Zeit, besonders
seit 1812. Im Juni / Juli 1814 blutet sie aus den Genitalien drei Tage
lang und hat einen geschwollenen, gespannten Unterleib.
Sie leidet wiederholt an Harnrückhaltung, einen Zusammenhang mit
den Monatsblutungen stellt Wesener mit dem Vorfall im Juni 1814 her.
Allen Beobachtern fällt der abgemagerte Körperzustand der Emmerick
auf. Sie scheint über keine Fettreserven zu verfügen, der Muskelapparat
scheint auf das Minimum reduziert. Eine abweichende Beschreibung gibt
Dr. Bodde, der im Bericht die Emmerick als nicht mager ("gesundes
Fleisch umkleidete ihre Gliedmaßen") beschrieb. Sie ist in
der Lage, ihre starren und konvulsischen Anfälle durchzuhalten. Ebenso
behält sie ihre Gewohnheit bei, in ekstatischen Anfällen minutenlang
mit ausgestreckten Armen zu verharren, was alle Anwesenden mit einiger
Zuverlässigkeit zum Erstaunen bringt. Die Entkräftung schien
sich also in Grenzen zu halten.
Ständig klagt die Emmerick über Schlaflosigkeit, kann oftmals
nur einige Stunden hintereinander durchschlafen. Das Bett ist meist durchgeschwitzt,
häufig muß die Bettwäsche gewechselt werden. Im Kloster
soll die Wäsche durch das starke Schwitzen sogar festgefroren sein,
eine eher unwahrscheinliche Behauptung, die das Geschehen aber in zweierlei
Hinsicht illustriert. Erstens soll unterstrichen werden, in welchem Ausmaß
die Emmerick im Kloster diskriminiert und vernachlässigt wurde, zum
anderen wird deutlich, daß schon in jener Zeit äußerst
starke Nachtschweiße aufgetreten sind. Das Wundliegen im Jahr 1813
wurde durch eine Roßhaarmatratze gemindert. Es ist jedoch verwunderlich,
daß sich bei der empfindlichen Haut der Emmerick nicht neue Beschwerden
einstellten. So müssen bettlägerige Kranke, insbesondere gelähmte
Patienten, nachts mehrfach gewendet werden, um die Entzündungen zu
vermeiden. Patienten, die lange Zeit bettlägerig sind, weisen oft
trotz aller Pflege wunde Stellen auf, die nur mit chirurgischen Eingriffen
zu beherrschen sind.
Die körperliche Symptomatik kann für eine Diagnose folgendermaßen
zusammengefaßt werden:
- Husten und Katarrhe
- Blutauswurf beim Husten
- Pleuritis
- innere Blutungen unbestimmter Herkunft
- Fieber
- Nachtschweiße
- "Spuren einer Rhachitis"
- Schlaflosigkeit
- Appetitlosigkeit
- Erbrechen
- Hepatitis
- allgemeine Auszehrung
- Harnverhalten
- Geschwulst infolge eines Unfalls
- Augenentzündungen
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