Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


Versuch einer psychologischen Deutung

 

Daß Anna Katharina Emmerick hysterisch schwer erkrankt war, kann als hinreichend belegt angesehen werden. Sie selbst vermittelte Brentano den wichtigsten Grund ihres Ausweichens ins Kloster und in die Hysterie: die Abscheu wider das "Heuraten". Dies wäre für sie der Grund für den Eintritt ins Kloster gewesen. Sie schilderte ihm die Situationen, in denen sie mit sexuellen Angeboten und Phantasien konfrontiert war. In Brentanos Aufzeichnungen wird ihre Sexualangst (und impliziert -lust) überdeutlich; einmal durch die mehrfache Wiederholung der Bedrohlichkeit, zweitens durch die willkürliche Hervorhebung und überstarke Betonung dieses Motivs.

Das Leben mit Lambert muß ebenfalls eine solche Konfrontation mit ihren Triebwünschen dargestellt haben, schließlich war er offensichtlich der einzige Mensch außer Klara Söntgens, der sich ihr in der Klosterzeit zuwandte. Eine gegenseitige Anziehung muß wohl bestanden haben. Lambert nahm sie aus dem aufgehobenen Kloster in seinen Haushalt als - einzige - Gehilfin auf. Schon dadurch war eine Konstellation gegeben, die eine enge Beziehung weiter förderte. Erst als sie in Lamberts Wohnung mit ihm lebte, traten die Krankheitserscheinungen massiv auf. Ihres und Lamberts Zimmer war mit einer Tür verbunden. Wenn dies vielleicht auch keine tatsächliche Gefährdung ihrer Triebabwehr darstellte, dann doch immerhin eine potentielle. Die unbewußten Triebimpulse der Emmerick waren nach wie vor durch ihr Gelübde, welches von ihr Sexualverzicht forderte, gebunden. Das Zusammenleben mit einem Mann mußte verschiedene Ängste provozieren. Die Bedrohung des Gelübdes, gleichzeitig die reale Möglichkeit, den unbewußten Triebimpulsen zu folgen, möglicherweise der unbewußte Wunsch dazu, kann als eine von mehreren Ursachen für das Auftreten neuer Symptome zumindest nicht ausgeschlossen werden. Die Abasie - Astasie, die andauernde Bettlägerigkeit der Kranken birgt als Symptom noch weitere Aspekte. Da ist einmal der starke sekundäre Krankheitsgewinn, dann die Spiegelung der fehlenden Reintegrationsmöglichkeiten in die Gesellschaft. Wenn man darüber hinaus die hysterischen Symptome als versteckten Ausdruck von Wünschen erachtet, könnte die Bettlägerigkeit neben dem Zimmer ihres Dienstherrn als eine Aufforderung daran teilzunehmen, als Belagerung oder als eifersüchtige Bewachung verstanden werden; gleichzeitig würde die Angst, tatsächlich in eine verfängliche Situation zu kommen, ins Unermessliche wachsen. Allgemein wurde von der Bevölkerung von der Mithilfe Lamberts bei der Hervorbringung der Stigmata gemunkelt. Daß es sich um solcherlei Mithilfe handeln könnte, daran war nicht gedacht

Somit scheint die erst so späte, dafür um so drastischere Reaktion erklärlich. Dies waren vermutlich nicht die einzigen Ursachen für die Zuspitzung der Krankheit. Vorangegangen waren traumatische Enttäuschungen und Kränkungen. Nicht nur die Ablehnung durch die Mitschwestern innerhalb der Klostergemeinschaft stellte eine Enttäuschung der Erwartungen von einem paradiesischen gemeinsamen Leben dar. Auch das Wegfallen der äußerlichen Barrieren gegen die Welt war ein traumatisches Erlebnis. Das Kloster stellte eine Form der institutionalisierten Abwehr dar, d. h. seine Bewohner konnten im Schutz der sozial akzeptierten Rolle, z. B. als Nonne, gesellschaftlichen Rollenanforderungen, sprich an die Sexualität, entgehen. Bedrohlich mußten ihr die neuen Lebensumstände außerhalb der Klostermauern erschienen sein, in die sie hineingeriet und denen sie unabwendbar ausgesetzt war.

Aber welche Lebenswelt war denn nun beendet, was war der Verlust, den sie hinnehmen mußte? Die Aufhebung des Klosters hatte für A. K. Emmerick gegensätzliche Gesichtspunkte: die ständige Mißachtung ihrer Mitschwestern, eine scheußliche Isolation innerhalb der Gruppe, die andauernden Kränkungen fielen weg. Eine Befreiung der Emmerick, könnte man meinen. Doch die Mißachtung, die Abwendung der Mitschwestern barg auch einen erheblichen narzißtischen Gewinn. Anna Katharina Emmerick konnte sich fortwährend ihre vermeintliche Autonomie beweisen - die Anorexia spielt psychisch gesehen eine entsprechende Rolle. Sie konnte sich durch die Zurückweisung von Seiten ihrer Mitschwestern als etwas Besonderes, Hervorgehobenes erleben. Eine gleichartige, gleichwertige, gewöhnliche Klosterfrau - so konnte sie ihre Situation interpretieren - wäre wohl nicht auf derart starken Widerstand gestoßen. Ihre Symptome sprechen dabei eine eigene Sprache: durch das merkwürdige Verhalten, also Ohnmachten, Weinen ohne äußeren Anlaß, Halluzinieren, Beten außerhalb der dafür vorgesehenen Zeiten usw. nahm sie tatsächlich eine Sonderrolle ein. Für sich konnte sie dieses Verhalten narzißtisch überhöhen - als heiligenmäßig, als Martyrium für die Wahrheit (für die der Selbstrepräsentanz vesteht sich) deuten; Vorbilder hatte sie in den Heiligengeschichten genug. Ihre Rolle im Kloster entsprach ja tatsächlich einem Martyrium - ein Leiden am Klosterleben. Leiden war nicht nur für sie Ausdruck von Gläubigkeit, eine merkwürdige Verkehrung, die auf dem kulturellen Hintergrund der christlichen Askese gedieh. Ihr Motto: "Herr wie Du willst und nicht, wie ich will, oder Herr gib mir Geduld und dann schlag tüchtig zu" belegt die Verkehrung ihrer Wünsche ins moralisch - Masochistische. Die Leiden hat sie tatsächlich als Glaubenszeugnis übernommen, obwohl ihre ursprüngliche Vorstellung von der Klostergemeinschaft anders gewesen sein mögen. Keuschheit, Schlafentzug, Fasten und harte Arbeit wurde von allen Nonnen selbstverständlich erwartet. Die starke selbstbestrafende Komponente hat Anna Katharina Emmerick sicher klaglos hingenommen. Die fortwährende narzißtische Kränkung gehörte jedoch nicht zur selbstbestimmten Askese, sie mußten irgendwie verarbeitet und in ihre psychischen Strukturen integriert werden. Dies geschah mit der Umdeutung der persönlichen Kränkung als Martyrium für den Glauben. Allmählich änderte sich im Kloster ihre Selbstrepräsentanz (unbewußtes Selbstbild); von der Nonne - Braut Christi in der Leidensnachfolge Christi - hin zur Märtyrerin für die Wahrheit. Dieses war kein bewußter Prozeß, sondern war eine sukzessive unbewußte Veränderung der Selbstrepräsentanz. Die vielen nach und nach immer schwereren Erkrankungen, wenn man sie als psychosomatische Konversionssymptome deutet, scheinen die psychischen Belastungen widerzuspiegeln. Immerhin hatte diese Veränderung den Vorteil, daß sie einen gewissen narzißtischen Gewinn abwarf, denn als Märtyrerin stand sie Christus besonders nah (der sekundäre Krankheitsgewinn war ihr wohl verweigert worden, wenn man ihren Schilderungen von der schäbigen Pflege glauben darf). Sie empfand sich also schon im Kloster als Märtyrerin, die Symptome sollten diese intrapsychische Tatsache der Außenwelt vermitteln. Nur hatte diese vermeintliche Tatsache vor dem Auftreten der Stigmata und der damit verbundenen religiösen Aufwertung niemand so recht bemerkt, A. K. Emmerick galt bis zu diesem Zeitpunkt eher als kränklich und höchstens sonderbar - eben hysterisch.

Der Verlust der Klosterwelt war also mehrfach: erstens war ihre narzißtische Illusion von der Besonderheit gestört, ihre Selbstrepräsentanz war in Frage gestellt. Zweitens konnte sie sich durch den Wegfall der äußerlichen Beschränkungen ihren Triebimpulsen nicht mehr so spektakulär entstellt nachgeben (Wegfall der institutionalisierten Abwehr). Drittens hatte sie das Publikum für ihre Inszenierung verloren. Der erste Aspekt war sicherlich der schwerwiegendste und so war nicht allein die Aufhebung des Klosters ein Anschlag auf ihre Integrität, sondern der Wegfall der stützenden psychischen Funktionen, die das Kloster für sie hatte. Sie reagierte also in ihrem bewährten Abwehrmuster, der Hysterie. Die Verluste konnte sie in ihrer Rolle als "Leidensbraut" kompensieren. Vor allem aber konnte sie ihre Selbstrepräsentanz aufrecht erhalten, der Selbstauflösung oder dem Akzeptieren der äußeren Realität entgehen. Ihr Weg war der der hysterischen Inszenierung, den sie schon im Kloster erprobt hatte. Auslöser für die erneute Inszenierung war das enge Beisammenseien mit Lambert. Ihren narzißtischen Gewinn konnte sie durch die anerkennende Duldung durch die Kirchenobrigkeit sogar noch erhöhen. Andererseits war sie durch ihr heiligenmäßiges Gebaren jeglichen Anfechtungen entzogen, indem sie ihre Triebimpulse weiterhin in religiös - hysterischen Anfällen ausleben konnte. Auf diese Weise hatten die "ungewöhnlichen Erscheinungen bei einer mehrjährigen Kranken." für sie eine psychische Mehrfachfunktion: Kontinuität der Selbstrepräsentanz, Autonomie über ihren Körper, Aufrechterhaltung der Abwehrmechanismen, konvertiertes Ausagieren der Triebimpulse und damit verbunden ein erheblicher narzißtischer Krankheitsgewinn.

Eine Folgerung aus der stereotypen Rollenfestlegung der Mitschwestern ist die, daß es völlig gleichgültig ist, ob die Mitschwestern die Nonne A. K. Emmerick real zurückgewiesen haben oder es nur ihre subjektive, hysterisch überspitzte Zuschreibung war. Die Funktion des Leidens war ja, einen narzißtischen Gewinn zu erzielen, sich selbst zu erhöhen oder sich so zu empfinden. Eine solche Situation kann unbewußt und gegenseitig hergestellt werden. Dieses Modell nennt sich nach Willi "Kollusionsmodell" und dient dazu, psychosoziale Systeme zu stabilisieren und sich gegenseitig die Funktion der Abwehrmechanismen zu sichern. Mentzos vertiefte die Überlegungen Willis, die ja ursprünglich von der Paarbeziehung ausging, und übertrug das Modell auf alle psychosoziale Beziehungen. Er beschrieb die interpersonale Abwehrkonstellation als Bündnis verschiedener Individuen, gemeinsam die Gefährdungen der intrapsychischen Abwehr abzuwenden. Die Aufrechterhaltung dieser Fähigkeit macht nach Mentzos eine großen Anteil gruppendynamischer Prozesse aus. Im Bereich der narzißtischen Störungen erwähnt er das Splitting (ihr seid absolut schlecht/gut, stark/schwach, ich bin absolut gut/schlecht, stark/schwach). Interaktionell kann dem Splitting entsprochen werden, indem anderen die Rolle zugeschrieben wird, genau diesem Bild zu entsprechen und/oder retrojektiv das eigene Bild zu bestätigen. Also, je widriger die Mitschwestern waren, desto unschuldiger konnte A. K. Emmerick ihren Größenphantasien entsprechen; das hysterische Selbstbild verschafft sich sein Recht, abhängig davon ist die Symptombildung Dabei mußten die Schwestern gar nicht unbedingt übelmeinend gewesen sein, für die Aufrechterhaltung der Illusion reichte völlig die hysterische Verkennung.

Noch eine letzte Überlegung. Der Rückzug aus dem tasächlichen Leben in das Kloster (nach Mentzos institutionalisierte Abwehr) allein kann schon als Akt einer angestrebten dauernden Verdrängung (Abwehrmechanismus der Hysterie, A. Freud s. o.) betrachtet werden. Mit der Verdrängung der realen Welt wird das reale Ich auch nicht mehr gespiegelt. Was also außerhalb der Klostermauern ein völliges Versagen sein kann (z.B. nicht verheiratet sein), entspricht im Kloster der Rolle einer Nonne.

Nur innerhalb der Klostermauern konnte Anna Katharina Emmerick ihre Größenphantasien ungebrochen leben, weil sie im Grunde nur und ausschließlich durch die Mitschwestern gespiegelt wurde, die Realität vor den Toren blieb. Selbst innerhalb dieser Welt war das Selbstbild nicht ganz geglückt, weil ja schließlich niemand bemerkte, daß sie ein Martyrium erlitt. Ihr Selbstbild mußte sie sich deshalb selbst ständig neu beweisen; durch Leiden aller Art. Am erfolgreichsten war sie mit der Nahrungsverweigerung. Richtig erfolgreich war sie erst in einer noch engeren Klausur, im Bett. Erst dort und nach der Klosterzeit konnten sich die Größenphantasien realisieren, wirklich statthaben. Brentano, Sailer, Rensing und wie sie alle hießen bestätigten ihr Selbstbild. Ohne das fördernde Umfeld wären entweder die Abwehrmechanismen zusammengebrochen oder ihre reale Existenz.