Der Poet
In Hinblick auf Brentano trifft Hans-Joachim Schoeps bei seinem Versuch,
die Romantiker zu charakterisieren den Punkt vielleicht am genauesten
: "..., romantisch steht immer als Kennzeichen an der Grenze zwischen
Wirklichkeit und Dichtung, zwischen Sein und Schein, zwischen Wachsein
und Traum. Und das ist auch unser heutiger Vulgärsprachgebrauch. Wenn
wir etwa sagen: Der Mann ist ja ein Romantiker, dann meinen wir, der Betreffende
habe kein Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern lebe in einem Traumland.
Ferner meinen wir mit romantisch etwas Gegenwartsfernes oder gar Flucht
in die Vergangenheit oder Utopie und Flucht in die Zukunft. Oder wir meinen
mit romantisch etwas sehr Stimmungsvolles, Phantasiebeladenes, aber doch
darin und damit unwirklich und träumerisch, exaltiert und irreal."
Phantasiebeladen, exaltiert und irreal sind Beschreibungen, die unbedingt
auf Clemens Brentano zutreffen. Clemens Brentano stand als Lyriker und
Sammler bzw. Redakteur deutscher Volkslieder im Zentrum der Hochromantik.
Die Herausgabe der Liedersammlung "Des Knaben Wunderhorn" gemeinsam
mit Achim von Arnim begründet seine Stellung als romantischer Dichter.
Dem Erfolg "Des Knaben Wunderhorn" konnte Brentano jedoch keinen
weiteren hinzufügen, seine lyrische und erzählende Produktion erlangte
keine nennenswerten Auflagen. Was Clemens Brentano mit den romantischen
Kreisen weiterhin verband, war seine physische und geistige Präsenz in
der romantisch gesinnten kulturellen Elite des Reiches, ein exklusiver
Kreis, in dem jeder jeden kannte, literarisch jeder über jeden klatschte
sowie Tagebücher und Briefe für die Nachwelt verfaßte. Brentano war immer
am richtigen Ort, sei es Jena, Heidelberg oder Berlin und kannte jeden
und jede. Seine materielle Unabhängigkeit gestattete ihm dieses Leben.
Nach dem Wunsche seines Vaters hätte Brentano einen kaufmännischen Beruf
erlernen sollen, doch darin scheiterte er rasch. "Je mehr Anforderungen
das praktische Leben an ihn stellte, desto mehr verkroch er sich in ein
märchenhaftes Traumleben und legte bald augenscheinliche Proben seiner
Untauglichkeit ab", urteilte Ricarda Huch.
Herkunft
Der Frankfurter Patriziersohn Clemens Maria Wenzeslaus Brentano,
geboren am 9. September 1778 in Ehrenbreitstein /Koblenz, entstammt einer
der führenden Frankfurter Familien, deren Wurzeln im deutsch / italienischen
Niederadel gründen. Die Familien von La Roche und Brentano waren verschwistert
und verschwägert im südwestlichen Reich und ihre Mitglieder hatten es zu
angesehenen Positionen in Politik, der Kunst und im Handel gebracht. Besonders
zu nennen wären die Großeltern von La Roche. Großvater Georg Michael war
Kanzler des Kurfürsten von Trier und sein Haus am Fuß der Festung Ehrenbreitstein
war Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen der Aufklärung. Seine Frau,
Sophie von La Roche hatte den Reichsgrafen Johann Philipp Stadion, den Staatsminister
von Kurmainz, zum Vater. Frau von La Roche war eine Berühmtheit, eine Femme
de lettres, eine angesehene Schriftstellerin und eine der gebildetsten Frauen
des 18. Jh.s in Deutschland. In ihre Nachfolge wären die Wortführerinnen
der Berliner Salons wie Rachel Varnhagen, Henriette Hertz oder Dorothea
Veit einzuordnen. Sophie von La Roche hielt Verbindungen zu den herausragenden
Künstlern ihrer Zeit, zu nennen wären hier besonders ihr früherer Verlobter
Wieland aber auch Goethe, ein Jugendfreund, oder Beethoven. Die Großmutter
hatte einen starken Einfluß auf die Erziehung Brentanos, indem sie eine
Art ruhenden Pol der Familie darstellte und immer wieder die Kinder in ihr
Haus aufnahm.
Kindheit
Brentanos frühe Sozialisation läßt sich, mit heutigen Maßstäben gemessen,
getrost als Katastrophe bezeichnen. Die mehr oder minder gestörte Kindheit
läßt sich jedoch nur mit der Elle seiner Zeit und Schicht messen. "Kaufleute,
Beamte und Akademiker, die sich zum höheren Bürgertum zählten, unterschieden
sich von den übrigen Ständen dadurch, daß sie ihre Position stets aufs
neue durch Arbeit und Leistung erringen mußten. Diese typisch 'bürgerlichen'
Lebensbedingungen prägten vor allen anderen Rücksichten das Verhältnis
zu den Kindern. Die Erziehung der Nachkommenschaft zu den Erwerbs- und
Sicherungstugenden, zu Fleiß, Leistungs- und Risikobereitschaft, zu Ordnungsliebe,
Beherrschung und sparsamen Genügen, bestimmte die Lebensform bürgerlicher
Kinder, die mit Hilfe einer angemessenen Ausbildung für ihre späteren
Aufgaben gerüstet werden mußten. ... Oft genug bestand allerdings die
Gefahr, daß Kinder dem hohen elterlichen Erwartungsdruck nicht gewachsen
waren und im Netzwerk familiärer Zwänge zerbrachen"
Goethe berichtete 1775 vom Frankfurter Elternhaus "Zum Goldenen Kopf",
es sei ein düsteres Handelshaus gewesen, in dem sich Maximiliane, Brentanos
Mutter, nicht eingewöhnen konnte. Maximiliane war als zweite Frau des
Peter Anton Brentano um 21 Jahre jünger als ihr Gatte. Der Vater hatte
die Position eines Geheimen Rates und Residenten bei der Freien Reichsstadt
Frankfurt des Kurfürsten Clemens Wenzeslaus von Trier, dem Taufpaten Clemens
Brentanos, erreicht. Als Generaleinnehmer der Finanzen des Kurrheinischen
Kreises hatte er kaum noch Zeit für die eigenen Geschäfte, die er seinem
Sohn Franz übertrug. Meist lebte P. A. Brentano am Hofe des Kurfürsten
in Koblenz, also in unmittelbarer Nähe des LaRoche'schen Hauses.
Brentanos Flucht in die Träumerei entstand sicherlich aus der Zerrissenheit
seiner aufstrebenden Familie. Die Beziehung zu den Eltern war immer wieder
gestört durch lange Abwesenheit vom Frankfurter Elternhaus, durch Unterbringung
bei der Tante, der Großmutter, in Internaten usw.. Brentano und seine
Geschwister wuchsen mehr oder minder getrennt voneinander auf, wobei die
älteren Geschwister im Sinne der Eltern die angepaßteren waren.
Brentanos uneingeschränkte Liebe galt der Mutter, der er nie nahe genug
sein konnte, der er näher stand, als die anderen Geschwister. Mit seinen
vielen Geschwistern mußte er sie teilen, während seiner häufigen Abwesenheit
sie gänzlich entbehren. Seine unerfüllte Sehnsucht drückt sich deutlich
in seinem literarischen Werk aus, aber auch sein Lebensweg ist gekennzeichnet
durch die Suche nach einem ein Wiederfinden der Mutter in anderen Frauen.
Ein anderes weibliches Modell fand er in seinen Schwestern. Mit seiner
Schwester Sophie verbündet er sich, als er gemeinsam mit ihr 1784 zu seiner
lieblosen und unmütterlichen Tante zur Erziehung gegeben wird. "Ihr
Hund stand der Tante näher als die Kinder. Er hatte die originelle Eigenschaft,
Nüsse zu fressen, und Clemens und Sophie mußten ihm nach Tisch jedesmal
zehn Nüsse aufknacken; die elfte durften sie zur Belohnung gemeinsam verzehren.
Anschließend wurden sie, damit sie sich gerade hielten, mit zusammengebundenen
Ellenbogen Rücken an Rücken aufgestellt, nachdem die Schwester noch in
die Schnürbrust gezwängt worden war.'So mußten wir..., um unserer Muhme
zum Nachtisch einen Spaß zu machen, auswärts stehen, bis wir umfielen'".
Über die Dressur hinaus kümmerte sich die Tante kaum um die Kinder. Sie
überließ sie der Gesellschaft eines Dieners ihres Mannes, der so roh war
wie sein Herr und dem Kanarienvogel der 'tierliebenden' Tante mit einem
glühenden Draht die Augen ausstach. Er hörte ihnen, während er die Stiefel
wichste, Geographielektionen ab und ließ sie die Hauptstädte Europas auswendig
hersagen. Wenn sie zu schnell mit ihrer Aufgabe fertig wurden, bestrafte
er sie.
Beide Kinder flüchteten aus diesen Verhältnissen in eine Traumwelt, die
sie mehr und mehr ausgestalteten.Auch später behielten sie diese Gemeinsamkeit
bei. Sie zogen sich beispielsweise im Elternhaus auf den Speicher zurück
und gründeten das Phantasiereich 'Vaduz', das sie gemeinsam regierten.
Das allein mag eine adäquate Reaktion sein und für sich eine harmlose
Phantasterei. Diese Reaktion hat jedoch für Brentano offensichtlich Modellcharakter.
Die gemeinsame Flucht in eine Scheinwelt und die Konfrontation mit der
Behinderung - Sophie hatte als Kind ein Auge verloren - weist eine Parallele
zur späteren Konstellation Emmerick / Brentano auf. In beiden Fällen sind
es weibliche Bündnispartner. Krankheit und Todesnähe (im Fall Sophie als
nachträgliche Erfahrung) sowie die Flucht aus einer unerträglichen Gegenwart
in eine sehr detailliert ausgestaltete Phantasiewelt geben ein erkennbares
Muster vor.
Die praktische Seite des Lebens repräsentierte der Vater, der es als Großkaufmann
zu Ansehen und Wohlstand gebracht hatte. Dieser war zwar kaum im Hause,
seinen patriarchalischen Vorgaben hatte sich dennoch die Familie zu beugen.
Er stellte an den Sohn Forderungen, die dieser - anders als seine älteren
Brüder - nicht erfüllte oder erfüllen konnte. So scheint es der Vater
gewesen zu sein, der den Sohn immer wieder ins "Exil" trieb,
der ihn von der Mutter trennte. Clemens reagierte mit Verweigerung, offen
indem er in konkreten Anforderungen versagte, verborgen indem er in seine
Phantasiewelt flüchtete, subversiv indem er einen renitenten Witz entwickelte
und indem er mit den Geschwistern intrigierte. Brentano scheute auch in
seinem späteren Leben konkrete Herausforderungen, so erwarb er keinen
Bildungsabschluß und erlernte auch keinen Beruf.
Brentanos Schulausbildung lag in den Händen von Jesuiten. Nach Vorbereitung
in einem Jesuitenpensionat besuchte er ab 1787 in Koblenz drei Jahre ein
Jesuitengymnasium. In der Quinta lernte Brentano Joseph Görres kennen,
mit dem er allerdings erst später eine lebenslange Freundschaft schließen
wird. 1791 wurde Brentano für zwei Jahre in das philanthropische Erziehungsinstitut
in Mannheim geschickt. Die Erziehung zur Tugend im Geiste der Aufklärung
war in diesem Fall ebenso übel, wie die Erziehung der Tante. Pädagogisch
verbrämte Sadismen scheinen die Regel gewesen zu sein. "Nachts stellte
er (der Leiter) eine eiserne Stange neben sich, um wenn sich etwa einer
von uns in dem Bette herumdrehen sollte, (...) ihm, wie er sagte, Arm
und Bein auf seine Verantwortung entzwei zu schlagen. Keine Minute geht
vorbei, daß er nicht schimpfen und zanken sollte, ist er mit uns fertig,
so fängt er mit seiner Frau und seinen Kindern oder Dienstboten an".
Möglicherweise entwickelte sich hier der Widerwille gegen die "Aufklärung",
die als hehres Ziel propagiert wurde, als pseudopädagogisches Konzept
jedoch nur Unmenschlichkeit verbarg. Von den Eltern konnte Brentano keinen
Schutz erwarten, waren sie es doch und in erster Linie der Vater, die
ihn wiederum in eine unerträgliche Situation gebracht hatten. Brentano
rächte sich, indem er den Briefkontakt zur Mutter abbrach. Erst ein Onkel
befreite ihn 1793 aus dieser Anstalt. Drei Wochen nach der Rückkehr ins
Elternhaus starb die Mutter unvermittelt, für Brentano ein Schock.
Halle, Jena, Marburg, Heidelberg
Die ersten Versuche des Vaters, dem Sohn in seiner Nachfolge eine praktische
Ausbildung angedeihen zu lassen, scheiterte erwartungsgemäß. Entgegengesetztes
Talent und der Gegensatz zum Vater offenbarte sich gerade hierin, für
eine praktische Tätigkeit war Brentano geradezu ungeeignet. Das Studium
der Mineralogie in Bonn 1793 mündete nach nur vier Monaten in studentischen
alkoholischen Eskapaden. Eine vom Vater vermittelte Karriere als Kaufmann
endete ebenfalls als Fehlschlag. Die Verwandten, die ihn zu diesem Zwecke
aufgenommen hatten waren bald froh, ihn los zu sein, nachdem er mit allerlei
Schabernack die provinzielle Ruhe gestört hatte.
Brentano sollte nun ernsthaft studieren, und zwar Bergbau, worin er jedoch
wiederum versagte. 1797 immatrikulierte er sich in Halle zum Studium der
Cameralwissenschaften. Kurz zuvor starb der Vater, der den Geschwistern
das Vermögen von 1.200.000 Fl hinterließ, dessen Verwaltung der ältere
Bruder Franz als Vormund übernahm. Mit seinem Teil des Erbes wurde Brentano
finanziell unabhängig - immer auf den guten Willen seiner älteren Brüder.angewiesen
- eine wichtige Voraussetzung für sein späteres "poetisches"
Leben, das nicht von Broterwerb getrübt war. Auch die Dülmer Episode wäre
ohne diese Unabhängigkeit nicht denkbar. Immerhin hatte er persönliche
jährliche Einkünfte von 1200 FL zur Verfügung.
Aus Halle verabschiedete sich Brentano schnell nach Jena, nachdem er in
einen von ihm provozierten studentischen Händel verwickelt war.
Jena wurde zur richtungsweisenden Etappe seiner Studentenzeit, hier entdeckte
er sein poetisches Talent. Im Juni 1798 immatrikulierte er sich als Medizinstudent.
Seit 1796 war Jena ein Ausgangsspunkt der Frühromantik, an dieser Universität
lehrten Schelling und die Gebrüder Schlegel, in deren Haus Brentano bald
verkehren sollte. Im Salon der Caroline Schlegel lernte Brentano die prominenten
Gäste kennen, darunter Sophie Mereau, in deren Haus er bald als studentischer
Tischgast aufgenommen wurde. Die Gattin des Mathematikprofessors Mereau
schriftstellerte erfolgreich, ihre literarische Reputation zeigte sich
in der Stellung, die sie in der geistigen Gesellschaft Jenas einnahm.
Sophie Mereau war dem romantischen Werben des jungen Studenten nicht abgeneigt
- Brentano war keineswegs der einzige Bewunderer, neben ihm werden Hölderlin,
F. Schlegel u. a. genannt - immerhin war ihre unglückliche Ehe kein Geheimnis.
Doch das Verhältnis blieb zunächst ungleich, auf der einen Seite die unglücklich
Verheiratete, auf der anderen der Student. Der zwanzigjährige Brentano
war als dilettierender Poet der achtundzwanzigjährigen arrivierten Professorengattin
und Literatin weit unterlegen. Es gelang Brentano, die Beziehung zu vertiefen
und er stellte Sophie sogar seiner Großmutter vor, als die sich mit seiner
Schwester Sophie auf dem Weg zu Goethe nach Teplitz befand. Sophie von
La Roche hatte gegen die Verbindung nichts einzuwenden und scheint Brentanos
Motive verstanden zu haben. Der Biograf Hoffmann beschreibt diese so:
"Er versucht, über diese Liebe Zugang zum Leben zu gewinnen, die
Bindung an die Vergangenheit zu überwinden. In der Heftigkeit, mit der
er es versucht, gleicht er einem ertrinkenden, der sich an den Retter
klammert, bis er mit ihm versinkt." Es kommt jedoch bald zu Spannungen
in der Liaison, teils weil sich die äußeren Einengungen nicht ohne weiteres
auflösen lassen, teils weil Sophie Brentanos völlig überhöhten Ansprüchen
nicht genügen will oder kann. Nach einigen Turbulenzen trennen sich die
Ungleichen, obwohl die Trennung nicht von Dauer bleiben wird. Dorothea
Veit kommentiert in einem Brief an August Wilhelm Schlegel: " Ja,
Ja, Meeräffchen (Sophie Mereau) hat dem Angebrennten eclatanten Abschied
gegeben, so daß er nicht angebrennt ist, sondern ganz abgebrennt ist"
Über Sophie fand Brentano Anschluß an die literarische Welt und das waren
in Jena vor allem Vertreter der Frühromantik. Um 1800 war in Jena die
Romantische Bewegung fast vollzählig versammelt. Zu Brentanos Umgang zählten
Tieck, der Übersetzer des "Don Quixote" und spätere Lehrer seiner
Schwester Bettine, Wieland, Herder, Goethe, Fichte und sein späterer Schwager
Savigny. Zu Friedrich Schlegel sah Brentano bewundernd auf. Nachdem Brentano
dem Professor über seinen Bruder Geld geliehen hatte und dieser mit der
Rückzahlung säumte, kühlte sich die Bewunderung jedoch rasch ab. Nebenbei
machte ihm auch die "kalte Schlegelsche Kritikluft" zu schaffen.
Seine ersten literarischen Versuche gerieten in eben diesen Luftzug der
Kritik - man ließ sich so leicht nichts vormachen - und bald wurde seine
Imitation des Tieckschen Stiles offenbar und bespöttelt. Nichtsdestotrotz
war der Salon der Caroline Schlegel ein Ort, an dem Brentano frühe Anerkennung
und Bekanntheit erwerben konnte.
Nach dem Eklat mit Sophie löste sich Brentano von Jena und ging in die
Provinz nach Altenburg. Dort verliebte er sich heftig in eine Cousine
der Sophie Mereau, wurde jedoch unverstanden abgewiesen. Er ließ sich
in Marburg bei Savigny nieder, unternahm mit dem zwei Rheinreisen und
immatrikulierte sich schließlich in Göttingen. In dieser Zeit, zwischen
1800 und 1803, vertiefte sich seine Zuneigung zur Schwester Bettine.
Mit seiner sieben Jahre jüngeren Schwester kam er erst spät, 1797, in
engere Beziehung, weil Bettine nach dem Tod der Mutter außerhalb des elterlichen
Hauses erzogen wurde. Als am 19. September 1800 nach kurzer Krankheit
die Schwester Sophie starb, trat Bettine an deren Stelle als Vertraute.
Ein reger Briefwechsel eröffnete die lebenslang enge Beziehung der beiden.
Brentanos Briefe sind häufig durchzogen von moralisierenden Ermahnungen,
während Bettine sich über die Erziehungsversuche des Bruders belustigte.
Als Bettine wieder in den "Goldenen Kopf" - das Haus der Familie
in Frankfurt - zog, vermittelte die Schwester Gunda den Briefwechsel,
da Brentano fürchtete, die Brüder, mit denen er ein gespanntes Verhältnis
hatte, könnten die Briefe öffnen. Gunda gegenüber äußerte er, Bettine
sei ihm so lieb, daß er fürchte, sie zu sehen. Er hatte Angst, daß die
reale Bettine, der imaginären, die er liebte, widersprechen könnte. Darin
findet sich ein Motiv, daß sich im Verhältnis zur Emmerick wiederholen
wird. Auch diese will er nicht wirklich sehen, er ignoriert geradezu deren
weltliche Existenz, er sucht auch in ihr lediglich eine imaginierte Wirklichkeit.
Das Moralisieren und die Neigung, die Geliebten zu dem zu machen, was
seine Einbildungskraft als "wahres" Wesen in ihnen sah, wiederholte
sich in allen seinen Beziehungen zu Frauen, besonders aber in seinen beiden
Ehen. Im November 1803 heiratete er nach einigen Eskapaden die geschiedene
Sophie Mereau. Die Ehe wird von allen Biografen als schwierig angesehen.
Entweder stellen sie sich auf den Standpunkt, Brentanos Liebe wäre zur
Zeit der Eheschließung schon erkaltet (Hoffmann) oder Brentano hätte die
Konkurrenz gefürchtet und seinen Partnerinnen das Leben durch überzogene
Forderungen zur Hölle gemacht (Kastinger Riley). So verbot Brentano seiner
Frau Sophie zu reiten, sich zu schminken und ihr Werk unter ihrem Namen
zu veröffentlichen, weil er die 'Verstümmelung' ihres Wesens hasse, weil
sie eine schlechte Künstlerin sei, die über ein herrliches Werk hergefallen
ist, über sich selbst. Mit Sophie hatte Brentano zwei Kinder, die beide
kurz nach der Geburt starben, die Geburt des dritten Kindes 1806 überlebte
Sophie Brentano nicht.
In Göttingen, wo Brentano am 21. Mai 1801 als Philosophiestudent immatrikuliert
wurde, lernte er während eines spektakulären Empfangs von Goethe durch
die Studentenschaft den Kommilitonen Achim von Arnim kennen. Diese Verbindung
wurde auf die nächsten Jahre für beide bestimmend. Brentano fand in dem
"Herzbruder" eine Ergänzung, die er in seinen Frauen nicht fand.
Brentano und Arnim lebten eine romantische und poetische Symbiose, die
beider dichterische Kreativität entfesselte. Eine Entfremdung trat erst
dann ein, als Arnim und Bettine heirateten.
In Heidelberg hatte sich Brentano mit seiner Frau 1804 niedergelassen,
Arnim folgte nach einer Bildungsreise dorthin. Die Heidelberger Zeit wurde
zum Synonym der Hochromantik, weil sich hier, wie auch schon in Jena die
wichtigsten Protagonisten versammelten. Die führenden Köpfe in Heidelberg
waren Arnim und Brentano. Das wichtigste Ergebnis dieser synergetischen
Arbeit ist die Liedersammlung "Des Knaben Wunderhorn". Die Heidelberger
Zeit beschreibt Joseph von Eichendorff:
Neben ihm (Görres) standen zwei Freunde und Kampfgenossen: Achim von Arnim
und Clemens Brentano, welche sich zur selben Zeit nach mancherlei Wanderzügen
in Heidelberg niedergelassen hatten. Sie bewohnten im 'Faulpelz', einer
ehrbaren aber obskuren Kneipe am Schloßberg, einen großen luftigen Saal,
dessen sechs Fenster mit der Aussicht über Stadt und Land die herrlichsten
Wandgemälde, das herüberfunkelnde Zifferblatt des Kirchturms ihre Stockuhr
vorstellte; sonst war wenig von Pracht oder Hausgerät darin zu bemerken.
Beide verhielten sich zu Görres eigentlich wie fahrende Schüler zum Meister,
untereinander aber wie ein seltsames Ehepaar, wovon der ruhige mild -
ernste Arnim den Mann, der ewig bewegliche Brentano den weiblichen Part
machte. (...) Während Arnims Wesen etwas wohltuend beschwichtigendes hatte,
war Brentano durchaus aufregend; jener erschien im vollsten Sinne des
Wortes wie ein Dichter, Brentano dagegen selber wie ein Gedicht, das,
nach Art der Volkslieder, oft unbeschreiblich rührend, plötzlich und ohne
sichtbaren Übergang in sein Gegenteil umschlug und sich beständig in überraschenden
Sprüngen bewegte. Der Grundton war eigentlich eine tiefe, fast weiche
Sentimentalität, die er aber gründlich verachtete, eine eingeborene Genialität,
die er selbst keineswegs respektierte und auch von andern nicht respektiert
wissen wollte. Und dieser unversöhnliche Kampf mit dem eigenen Dämon war
die eigentliche Geschichte seines Lebens und Dichtens, und erzeugte in
ihm jenen unbändigen Witz, der jede verborgene Narrheit der Welt instinktartig
aufspürte und niemals unterlassen konnte, jedem Toren, der sich weise
dünkte, die ihm gebührende Schellenkappe aufzustülpen, und sich somit
überall ingrimmige Feinde zu erwecken. Klein, gewandt und südlichen Ausdrucks,
mit wunderbar schönen, fast geisterhaften Augen, war er wahrhaft zauberisch,
wenn er selbstkomponierte Lieder oft aus dem Stehgreif zur Gitarre sang.
Dies tat er am liebsten in Görres einsamer Klause, wo die Freunde allabendlich
einzusprechen pflegten;... häufig ohne Licht und brauchbare Stühle, bis
in die tiefe Nacht hinein..."
Das erste gemeinsame literarische Produkt der beiden war die Einsiedlerzeitung,
die jedoch nur fünf Monate bestand. Die Leistung, die beide schlagartig
berühmt machen sollte, war die Redaktion und Herausgabe einer Sammlung
deutscher Lieder unter dem Titel "Des Knaben Wunderhorn", deren
erster Band im Jahre 1805 erschien. Das Bedeutsame dieser Sammlung lag
in der Rückbesinnung auf ein gewachsenes nationales Kulturgut, das bis
dahin unbeachtet geblieben war, in der Auflösung des Alten Reiches jedoch
neue Aktualität gewann, indem es auf eine kollektive Identität mitbegründen
konnte. Die Idee zu einer solchen Liedersammlung war nicht neu, es gab
Vorläufer. Die Zeit für derartige Unternehmungen war nun aber herangereift,
das Interesse daran lag förmlich in der Luft, Brentano und Arnim mußten
nur zugreifen. Schon Tieck hatte mit einer Sammlung von Minneliedern begonnen,
bald sollte auch die Volksmärchensammlung der Brüder Grimm folgen.
"Eine wirkliche Gemeinschaftsarbeit Brentano / Arnim läßt sich nur
an wenigen Texten nachweisen und "ihre Geringfügigkeit zwingt wohl
endgültig dazu, dem der Literaturhistorie liebgewordenem Bild vom gemeinsamen
und harmonisch schaffenden Freundespaar den Abschied zu geben.".Typisch
für Brentano - und das in besonderem Hinblick auf die Verarbeitung des
Emmerick - Materials - ist die Herangehensweise an den Gegenstand. Es
kam ihm dabei nicht so sehr auf die philologisch genaue Bearbeitung der
Texte an, sondern darauf, den Ton zu treffen, das Kolorit empfindbar zu
machen. So veränderte Brentano Texte nach eigenem Gutdünken, ergänzte
oder vermischte sie. Diese Arbeitsweise läßt sich unter den Begriff "Kontamination"
fassen, ein Verfahren, das an sich ein romantisches ist und von vielen
Romantikern auch benutzt wurde. Die Kontamination ist die romantische
Umwandlung einer fremden Idee und deren Ausweitung durch eine neue Perspektive
und eine neue Facette, "das Romantische selbst ist eine Übersetzung".
Für Brentano bietet sich das Verfahren an, weil er seine literarische
Produktion zuallererst als Selbstreflexion begreift, also eine Übersetzung
seiner Gefühlswelt in literarische Topoi. Wie wahrhaftig diese Produkte
sind, sei dahingestellt. Die kontaminative Methode beschränkte sich nicht
nur auf Bearbeitung und Erweiterung vorhandener Texte. Brentano arbeitete
wiederholt "verschmelzend" mit anderen Autoren zusammen, etwa
Sophie Mereau, Arnim und Görres, später mit Luise Hensel und wohl auch
der Emmerick. Mit Görres schrieb er gemeinsam die Satire von Bogs (Brentano
und Görres), dem Uhrmacher, seine letzte literarische Produktion im universitären
Milieu.
Im März 1807 löste Brentano seinen Haushalt in Heidelberg auf, sein Weg
führte ihn nach Kassel. Der Tod Sophies im Oktober 1806 hatte ihn in der
Substanz erschüttert, nur Görres konnte ihn trösten, nachdem sich Brentano
tagelang eingeschlossen hatte. Schon im Juli 1807 verliebte er sich in
die sechzehnjährige Auguste Bußmann. Er heiratete sie gegen den Widerstand
ihres Vormundes. Die Ehe mündete in einer Katastrophe, in der Brentano
von seiner Gattin wiederholt mit Mord und Selbstmord bedroht wird. 1809
trennen sich die Ehegatten offiziell.
Berlin - Prag - Wien
1810 folgt Brentano Arnim und seiner Schwester nach Berlin, wo er bis
1811 bleiben wird. Er war 1804 schon einmal dort. Der Zeitraum, der wegen
seiner Konversion am interessantesten ist und den engsten Bezug zum Thema
hat, liegt in der Zeit seines Aufenthaltes zwischen 1814 - 1819. In die
Zeit 1810/11 fielen wichtige Ereignisse in Brentanos Leben, die als Voraussetzung
für seine Konversion und sein späteres katholisch-konservatives Wirken
angesehen werden können. Das eine ist die Gründung der Christlich - Deutschen
Tischgesellschaft, das andere die Heirat Bettines mit Arnim.
Berlin als Residenzstadt, Sitz der preußischen Regierung und zweitgrößte
deutsche Stadt war nach der Lähmung der west- und süddeutschen Staaten
zu einem kulturellen Zentrum herangewachsen, in dem sich nationale Ideen
wirksam artikulieren konnten, nachdem 1806 die alte Ordnung so spektakulär
versagt hatte. Infolge dessen übte Berlin eine erhebliche Anziehungskraft
auf die romantischen Protagonisten aus, die sukzessive in Berlin eintrafen.
Nach Jena, Marburg, Göttingen und Heidelberg - Wien und München bildeten
Ausnahmen - wurde Berlin ein neuer Anlaufpunkt für den Wanderzirkus der
Romantiker. Die Jenenser-, Heidelberger- usw. Romantik wurde abgelöst
durch die Berliner Romantik, wobei mit der Berliner Romantik ein offensiv-restauratives
- im heutigen Sinne reaktionäres - Element seinen Einzug hielt. Mit der
Berliner Romantik hatte die romantische Bewegung ihren Zenith überschritten
und es begann schleichend die restaurative, nationalistische und religionsbestimmte
Spätromantik.
Berlin konnte freilich zu dieser Zeit auf eine große literarische Tradition
zurückblicken, erinnert sei an Mendelsohn, Lessing, Nicolai. In Berlin
nahm ein Teil der Romantischen Bewegung seinen Ursprung und mit der Gründung
der Berliner Universität 1810 belebte sich das kulturelle Leben. Der Ort
der kulturellen und politischen Meinungsbildung war nach wie vor der Salon.
Die besondere Bedeutung erlangten die Salons dadurch, daß sich in ihnen
Vertreter der unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und Konfessionen
- Adlige, Spitzenbeamte, Militär, Bildungsbürger, Künstler, führende Kaufleute
und Bankiers - zwanglos treffen konnten, ohne die distanzierende Etikette
einhalten zu müssen. Im Unterschied zu den Salons Frankreichs und Englands
beschränkten sich die Themen nicht auf Kunst - wobei die Literatur den
ersten Platz einnahm - und Gesellschaftsklatsch, sondern es wurden auch
politische Themen erörtert. Eine Einladung war nicht vonnöten, Voraussetzung
für eine Teilnahme war aber eine Empfehlung oder doch ein gewisser Rang
in Kultur und Gesellschaft. Die um 1810 in Berlin existierenden Salons
waren nicht mehr vom Geist der Aufklärung inspiriert und ihr Charakter
hatte sich deutlich geändert. Aufklärung, Klassik und Neuhumanismus fanden
nach wie vor Fürsprecher in der preußischen Beamtenschaft und den führenden
Staatsgremien. Ausdruck hierfür waren die staatlichen Reformen und die
Gründung der Berliner Universität. Salons der Aufklärung wurden häufig
von "literarischen" Frauen geführt, so die Salons der Henriette
Hertz und Rahel Levins.. Die Repräsentanten des aufgeklärten Salons waren
jedoch unmerklich verdrängt worden, ihre jüdischen Vertreter wurden mehr
und mehr isoliert, teils konnten sie nur durch eine Konversion zum Christentum
den gesellschaftlichen Anschluß bewahren. Gesellschaftlich und kulturell
beherrschte eine neue Mentalität die Salons; in ihnen standen nationale
Fragen im Vordergrund, dies wurde zum genuinen Anliegen der Spätromantiker.
Brentano nahm in seiner Berliner Zeit rege an den Salons teil, ja er war
ein gern gesehener Gast, der für provokante Unterhaltung sorgte oder aus
seinem Werk vorlas. Boethius bezeichnet Brentano als gehobenen Entertainer,
der jedoch in der Berliner Gesellschaft scheiterte. Andere Aussagen gehen
dahin, daß Brentano sich durch seinen boshaften Witz viele Feinde schaffte,
er sich letztlich mit allen überworfen hatte. Wie auch immer, der Salon
war Brentanos erstes Betätigungsfeld.
Die Besetzung Berlins durch französische Truppen, die Einquartierungen
und die Abpressung erheblicher Kontributionen von der Berliner Bevölkerung
förderten die nationale Stimmung, für die sich alsbald Wortführer fanden,
die der Romantischen Bewegung nahestanden. Die Gründung der Christlich
- Deutschen Tischgesellschaft im Januar 1811 durch Arnim und Adam Müller
entsprang solchem Geist. Verwandt war diese Gesellschaft dem 1808 gegründeten
und 1809 als staatsgefährdend und antinapoleonisch verbotenen Tugendbund.
Diese Form des mehr oder minder regelmäßigen geselligen Umgangs war Teil
des Kommunikationsnetzes der politischen und kulturellen bürgerlichen
Elite Berlins, in diesem Falle des konservativ - oppositionellen Teils.
Es handelte sich um einen größeren Stammtisch, der an die Stelle des literarischen
Salons trat, er diente der Meinungsformierung der antiliberalen Berliner
Wortführer insofern, als Tageszeitungen noch rar waren und diese Form
der Meinungsbildung keiner Zensur unterlag. Arnim, Müller und Kleist gaben
eine der ersten, tatsächlichen Tageszeitungen heraus, die "Berliner
Abendblätter", die mit Auswertung der Polizeiberichte des jeweiligen
Tages eine Vorform des Sensationsjournalismus gestalteten. In diesem Blatt
arbeitete auch Brentano sporadisch mit.
Die Christlich Deutsche Tischgesellschaft umfaßte den Personenkreis, dem
Brentano um 1811 am nächsten stand. Zur Christlich Deutschen Tischgesellschaft
trafen sich vierzehntäglich national gesinnte Adlige, Beamte und Offiziere
zum Mittagessen. Voraussetzung der Mitgliedschaft war, "daß es ein
Mann von Ehre und guten Sitten und in christlicher Religion geboren sei,
unter dieser Angemessenheit, daß es kein lederner Philister sei, als welche
auf ewige Zeiten daraus verbannt sind", ebenso wie Juden. Zu den
Mitgliedern dieser Gesellschaft gehörten u.a. Kleist, Adam Müller, Savigny,
Clausewitz, Zelter, Fichte, Graf Dohna, Julius von Voß, Karl Wolfart,
Arnim und Brentano und - im Zusammenhang mit Brentano wichtig - Leopold
von Gerlach sowie F. A. von Staegemann. Gelegentliche Gäste waren Chamisso
und auch die Brüder Eichendorff. Die Christlich Deutsche Tischgesellschaft
kann als eine der Keimzellen des preußischen Konservativismus und des
modernen Antisemitismus gelten, in dem nationaler Chauvinismus, Pangermanismus,
Volkstümelei und Judenfeindschaft zusammengehen, allerdings war hier ein
deutlicher Bezug zur christlichen Religion vorhanden. Als publizierende
Antisemiten aus diesem Kreis ist Ernst Moritz Arndt und Johann Gottlieb
Fichte zu nennen. Auch Arnim tat sich als Judenfeind öffentlich hervor.
Als einen Höhepunkt seines Antisemitismus kann die Provokation der Berliner
Juden im Juni 1811 gelten, als er während einer Tischgesellschaft den
jüdischen Bankier Moritz Itzig beleidigte, diesem die Satisfaktion verweigerte
und anschließend ein Circular herumgehen ließ, in welchem Itzig von verschiedenen
Personen "Maulschellen, Stockprügel und Ruthenstreiche" angedroht
wurden.
Auch von den Geschwistern Bettine und Clemens Brentano werden antisemitische
Ausfälle berichtet, dokumentiert in Rahel Levins Briefen an Varnhagen.
Dessen nachtragende Feindschaft zog sich Clemens Brentano zu, als er Rahel
in einem Brief beleidigte. Dies hatte für die Tradierung eines Teils des
Brentanonachlasses zur Folge, daß er durch Varnhagen vernichtet wurde,
nachdem Bettine diesen Varnhagen zur Bewahrung nach ihrem Tode überlassen
hatte.
Einen großen Erfolg hatte er im März 1811 mit einem Vortrag seiner antisemitischen
und antibürgerlichen Tirade "Der Philister in und nach der Geschichte"
bei der Tischgesellschaft. "Alle Mitglieder erhoben sich, umdrängten
Brentano und schmeichelten ihm wahrhaft huldigend. Es war sein größter
Triumph. Er schwamm in Wonne." (Varnhagen).
Diese aggressive Judenfeindschaft ist ein wesentlicher Anhaltspunkt für
Umschwung der Mentalität im beginnenden 19. Jahrhundert, für den Generationswechsel
und für den sich abzeichnenden Aufschwung der Religion. Während die etablierten
Kräfte der preußischen Kultur noch auf die bürgerliche Gleichstellung
der Juden hinarbeitete und König Friedrich Wilhelm III. am 11. März 1812
das "Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden im
dem Preußischen Staate" erließ, formierte sich in den spätromantischen
Zirkeln der Antisemitismus moderner Prägung. Der Mythos vom Volk, die
Lehre vom christlichen Staat und Xenophobie in der Gestalt von Franzosen-
und Judenhaß reichten sich hier erstmals die Hand. Der politische Hintergrund
dieser Entwicklung ist in der rechtlichen Emanzipation der Juden im Gefolge
der französischen Besetzung zu sehen, was als eine Allianz jüdischer und
französischer Interessen begriffen wurde. Die Reaktion der Romantischen
Generation ist irrational überzogen und zwanghaft, völkisch und religiös.
Das literarisch - phantastische Element der frühen Romantik ist in der
Christlich Deutschen Tischgesellschaft verschwunden. Die romantische Harmonie,
die sympathetische Freundschaft ist ersetzt durch Kumpanei, der romantische
Blick in die Ferne und das ungewisse Abenteuer wird ersetzt durch berauschte
Kriegsbegeisterung. Die erhitzte Phantasie wendet sich in unbestimmten
Haß gegen alles Französische und Jüdische aber auch gegen das Bürgertum
an sich. Literarisch wird aber auch die Kehrseite dieser Stimmung deutlich:
in den düstere Phantasien Kleists und Hofmanns.
Die romantische Religiosität wandelt sich in dieser Zeit von einem monistischen
Pantheismus zu einem überweltlichen Gottesbild, in dem Gott als Richter
und Weltregent erscheint. Die romantische Beseeltheit der Dinge, die christliche
Universalität weicht hier einem rächenden Gott, dem das deutsche Volk
besonders nahe steht. Adam Müller formulierte dies in seiner Idee des
christlich - germanischen Staates. Demnach sei Christus nicht bloß für
den Menschen, sondern auch für die Staaten gestorben, "daß Er die
Bedingung der Staaten ist, daß wir also in den kümmerlichen Tagen nichts
begehren können, kein Recht, keinen Nationalreichtum, kein persönliches,
kein Staatenglück ohne Ihn." Die christlich - deutsche Idee kann
jedoch keine Religiosität im umfassenden spirituellen Sinne darstellen,
die utilaristische Erwartung darin ist zu offensichtlich. Müllers Entwurf
blieb ohne dauernde Resonanz und sollte sich auch langfristig nicht durchsetzen.
Die Christlich Deutsche Tischgesellschaft war von einschneidender Bedeutung
für Brentano. Hier streifte er die juvenilen Hüllen seiner Studentenzeit
ab. Gleichzeitig wurde er in den Sog christlich - deutscher und militaristischer
Begeisterung gerissen. In Jena hatte Brentano nicht den geringsten Anstoß
an der jüdischen Herkunft Dorothea Veiths, der Gattin von Friedrich Schlegel
genommen. In der Christlich Deutschen Tischgesellschaft tat er sich hingegen
als wüster Antisemit hervor. In Marburg scheint er den Übergang Französischer
Truppen über die Lahn kaum bemerkt zu haben. In Berlin wurde er zum scheinbaren
Patrioten und Franzosenfresser. In dem Maße, in dem das universitäre Milieu
in den Hintergrund trat, geriet Brentano in eine Schaffens- und Orientierungskrise.
Der militante Nationalismus und das christliche Volksgetümel der Christlich
Deutschen Tischgesellschaft konnten Brentano nur oberflächlich einen Ersatz
für das akademische Milieu bieten. Das christlich - deutsche Ideal übte
nur oberflächlich Anziehungskraft auf Brentano aus. Brentano hatte keine
Ambitionen in die Befreiungskriege zu ziehen, wie ein Großteil seiner
christlich - deutschen Tischgenossen. Er begnügte sich mit einigen patriotischen
Liedern. Brentano hatte nun in Berlin weder Beruf, Aufgabe noch andere
Beschäftigung, an denen er sich hätte weiterentwickeln können. Nach den
Katastrophen seiner beiden Ehen und dem Verlust des überschaubaren Milieus
in den Idyllen südwestdeutscher Universitätsstädte blieb ihm die Beziehung
zu Arnim und seiner Schwester Bettine.
Das andere schwerwiegende Ereignis dieser Zeit für Brentano war die heimliche
Heirat Arnims und Bettines am 11. März 1811. Das besondere an dieser Heirat
war die Heimlichkeit, in der dieselbe stattfand:
"Wir ohne irgend jemand von unserer beiderseitigen Verwandten Wissen
sind .... fünf Tage verheiratet gewesen, bis wir es selbst an Savigny
und Clemens erzählt haben. Die Schwierigkeit wirst Du begreifen, wenn
Du weißt, daß ich Zimmer an Zimmer mit Clemens wohnte, und Bettina bei
Savignys am Montbijouplatz. Es ging aber wie in tausend Komödien: eine
Kammerjungfer vermittelte alles. Heimlich wurde ich morgens getraut, kam
abends wie gewöhnlich zu Savignys, polterte die Treppe hinunter, schlug
die Haustüre zu, und schlich mich heimlich in Bettinas Zimmer zurück,
das recht fröhlich mit Rosen, Jasmin und Myrten belaubt war. Morgens ging
ich fort, behauptete dem Clemens, ich hätte in der Nacht eine heftige
Kolik bekommen, daß ich mich in ein Wirtshaus begeben müssen, zugleich
nahm ich ein leichtes Brechmittel ein und das überzeugte alle. Du wirst
fragen, wozu alle diese Umstände? Ich sage Dir im allgemeinen wegen der
Klatscherei ... und weil alle Hochzeiten, wie unsere, zu dem widrigsten
Spotte alles Sakraments, zu den heillosesten Zoten gehören, wobei sich
die Leute gar noch verpflichtet halten, nebenbei noch einige Tränen zu
vergießen."
Wozu die Camouflage vor Savigny und Brentano, wenn es nur darum ging,
die Öffentlichkeit aus der Angelegenheit herauszuhalten? Brentano war
immerhin der engste Freund der beiden, mit beiden bestand eine typische
romantische Seelenverschmelzung. Der Grund kann nur darin liegen, daß
beide Eheleute sich der starken Veränderung der Beziehung zu Brentano,
die einer Kündigung der Seelenverwandtschaft nahekam, bewußt waren. Tatsächlich
kühlte das Verhältnis ab, für Brentano ein Bruch, mit welchem eine neue
Entwicklung eingeleitet wurde, die in seine Konversion mündete. Für Brentano
war damit die Heidelberger Zeit endgültig beendet. Unter dem Aspekt "Romantik
als Jugendbewegung" ist die Wende in Brentanos Leben vom Jugendbewegten
zum Danach hier zu orten. Die Romantische Seelenbrüderschaft endete mit
der Etablierung Arnims im bürgerlichen Leben, im von Brentano so heftig
bekämpften "Philistertum". Dieses vor allem wollte er vermeiden,
nach wie vor wollte er sich die romantische Distanz zur Konvention bewahren.
Trotzdem litt er unsäglich unter dem Rückzug von Bettine und Arnim: "Lieber
bester Bruder, nimm mich doch mit deiner Frau meiner ein wenig an. Ich
will mich eurem Willen ganz unterziehen, ich will Euch nicht stören, ich
will Euch Freude machen auf alle Weise, alles was euch Unrecht scheint,
will ich vermeiden. Ich will fleißig sein und Euch meine Arbeit wie ein
Pensum mitteilen. Nur laßt mich bei Euch bleiben, damit ich mich wieder
sammle und auf den Boden des Rechten komme." Seine Abreise im Juli
1811 (gemeinsam mit Schinkel) aus Berlin ist sicherlich auch unter diesen
Aspekten zu verstehen. Allerdings brach im Mai auch die Berliner Gesellschaft
in den Sommer nach Teplitz auf: "Die ganze Welt von Bekannten geht
nach Teplitz,....; Adel, Bürger; Gelehrte, Philister; Hoffärtige, und
weniger Eitle.".
Brentano begab sich zunächst zu Christian, seinem Bruder, auf das gemeinsame
Gut Bukowan in Böhmen. Von dort aus besuchte er häufig Prag, wo er sich
vorübergehend niederließ. Nach der Auseinandersetzung mit Varnhagen und
nachdem sich auch sein Bruder in einer Streitigkeit mit Offizieren gesellschaftlich
kompromittiert hatte, ging Brentano wieder nach Bukowan, ohne dort jedoch
lange zu bleiben. Anfang 1813 hatten die Befreiungskriege begonnen und
viel Berliner Prominenz emigrierte vorübergehend nach Böhmen, vornehmlich
Teplitz und Prag, wo dann auch die Brüder Brentano zu finden waren. Im
Juli 1813 reiste Clemens Brentano nach Wien, wo er wiederum in den Salons
Fuß faßte. Er galt als Star der literarischen Salons, mit seiner Bühnenaufführung
des "Ponce de Leon" fiel er allerdings durch.
Im Kreise des "Strobelkopfes" traf er auf den romantischen Katholizismus
in der Wiener Ausprägung. Zu diesem Kreis gehörten die alten Bekannten
Brentanos aus Jenaer Zeiten Friedrich und Dorothea Schlegel, die beide
1808 spektakulär im Kölner Dom konvertiert waren. Die einflußreichste
Kraft der Wiener katholischen Romantik war der Redemptoristenpater Clemens
Maria Hofbauer, der eine Reihe von Konvertiten um sich versammelte, so
Zacharias Werner, F. A. Klinkowström, F. und S. Schlosser. Den inzwischen
konvertierten Adam Heinrich Müller, mit Arnim der Mitbegründer der Christlich
- Deutschen Tischgesellschaft, und die Brüder von Eichendorff kannte Brentano
noch aus Göttingen und Berlin. Brentano war also mit dem Phänomen der
romantischen Konversion erstmals direkt konfrontiert.
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