Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


Clemens Brentano 9. September 1778 - 28. Juli 1842

 

Der Poet

In Hinblick auf Brentano trifft Hans-Joachim Schoeps bei seinem Versuch, die Romantiker zu charakterisieren den Punkt vielleicht am genauesten : "..., romantisch steht immer als Kennzeichen an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Dichtung, zwischen Sein und Schein, zwischen Wachsein und Traum. Und das ist auch unser heutiger Vulgärsprachgebrauch. Wenn wir etwa sagen: Der Mann ist ja ein Romantiker, dann meinen wir, der Betreffende habe kein Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern lebe in einem Traumland. Ferner meinen wir mit romantisch etwas Gegenwartsfernes oder gar Flucht in die Vergangenheit oder Utopie und Flucht in die Zukunft. Oder wir meinen mit romantisch etwas sehr Stimmungsvolles, Phantasiebeladenes, aber doch darin und damit unwirklich und träumerisch, exaltiert und irreal."

Phantasiebeladen, exaltiert und irreal sind Beschreibungen, die unbedingt auf Clemens Brentano zutreffen. Clemens Brentano stand als Lyriker und Sammler bzw. Redakteur deutscher Volkslieder im Zentrum der Hochromantik. Die Herausgabe der Liedersammlung "Des Knaben Wunderhorn" gemeinsam mit Achim von Arnim begründet seine Stellung als romantischer Dichter. Dem Erfolg "Des Knaben Wunderhorn" konnte Brentano jedoch keinen weiteren hinzufügen, seine lyrische und erzählende Produktion erlangte keine nennenswerten Auflagen. Was Clemens Brentano mit den romantischen Kreisen weiterhin verband, war seine physische und geistige Präsenz in der romantisch gesinnten kulturellen Elite des Reiches, ein exklusiver Kreis, in dem jeder jeden kannte, literarisch jeder über jeden klatschte sowie Tagebücher und Briefe für die Nachwelt verfaßte. Brentano war immer am richtigen Ort, sei es Jena, Heidelberg oder Berlin und kannte jeden und jede. Seine materielle Unabhängigkeit gestattete ihm dieses Leben.

Nach dem Wunsche seines Vaters hätte Brentano einen kaufmännischen Beruf erlernen sollen, doch darin scheiterte er rasch. "Je mehr Anforderungen das praktische Leben an ihn stellte, desto mehr verkroch er sich in ein märchenhaftes Traumleben und legte bald augenscheinliche Proben seiner Untauglichkeit ab", urteilte Ricarda Huch.



Herkunft

Der Frankfurter Patriziersohn Clemens Maria Wenzeslaus Brentano, geboren am 9. September 1778 in Ehrenbreitstein /Koblenz, entstammt einer der führenden Frankfurter Familien, deren Wurzeln im deutsch / italienischen Niederadel gründen. Die Familien von La Roche und Brentano waren verschwistert und verschwägert im südwestlichen Reich und ihre Mitglieder hatten es zu angesehenen Positionen in Politik, der Kunst und im Handel gebracht. Besonders zu nennen wären die Großeltern von La Roche. Großvater Georg Michael war Kanzler des Kurfürsten von Trier und sein Haus am Fuß der Festung Ehrenbreitstein war Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen der Aufklärung. Seine Frau, Sophie von La Roche hatte den Reichsgrafen Johann Philipp Stadion, den Staatsminister von Kurmainz, zum Vater. Frau von La Roche war eine Berühmtheit, eine Femme de lettres, eine angesehene Schriftstellerin und eine der gebildetsten Frauen des 18. Jh.s in Deutschland. In ihre Nachfolge wären die Wortführerinnen der Berliner Salons wie Rachel Varnhagen, Henriette Hertz oder Dorothea Veit einzuordnen. Sophie von La Roche hielt Verbindungen zu den herausragenden Künstlern ihrer Zeit, zu nennen wären hier besonders ihr früherer Verlobter Wieland aber auch Goethe, ein Jugendfreund, oder Beethoven. Die Großmutter hatte einen starken Einfluß auf die Erziehung Brentanos, indem sie eine Art ruhenden Pol der Familie darstellte und immer wieder die Kinder in ihr Haus aufnahm.



Kindheit

Brentanos frühe Sozialisation läßt sich, mit heutigen Maßstäben gemessen, getrost als Katastrophe bezeichnen. Die mehr oder minder gestörte Kindheit läßt sich jedoch nur mit der Elle seiner Zeit und Schicht messen. "Kaufleute, Beamte und Akademiker, die sich zum höheren Bürgertum zählten, unterschieden sich von den übrigen Ständen dadurch, daß sie ihre Position stets aufs neue durch Arbeit und Leistung erringen mußten. Diese typisch 'bürgerlichen' Lebensbedingungen prägten vor allen anderen Rücksichten das Verhältnis zu den Kindern. Die Erziehung der Nachkommenschaft zu den Erwerbs- und Sicherungstugenden, zu Fleiß, Leistungs- und Risikobereitschaft, zu Ordnungsliebe, Beherrschung und sparsamen Genügen, bestimmte die Lebensform bürgerlicher Kinder, die mit Hilfe einer angemessenen Ausbildung für ihre späteren Aufgaben gerüstet werden mußten. ... Oft genug bestand allerdings die Gefahr, daß Kinder dem hohen elterlichen Erwartungsdruck nicht gewachsen waren und im Netzwerk familiärer Zwänge zerbrachen"

Goethe berichtete 1775 vom Frankfurter Elternhaus "Zum Goldenen Kopf", es sei ein düsteres Handelshaus gewesen, in dem sich Maximiliane, Brentanos Mutter, nicht eingewöhnen konnte. Maximiliane war als zweite Frau des Peter Anton Brentano um 21 Jahre jünger als ihr Gatte. Der Vater hatte die Position eines Geheimen Rates und Residenten bei der Freien Reichsstadt Frankfurt des Kurfürsten Clemens Wenzeslaus von Trier, dem Taufpaten Clemens Brentanos, erreicht. Als Generaleinnehmer der Finanzen des Kurrheinischen Kreises hatte er kaum noch Zeit für die eigenen Geschäfte, die er seinem Sohn Franz übertrug. Meist lebte P. A. Brentano am Hofe des Kurfürsten in Koblenz, also in unmittelbarer Nähe des LaRoche'schen Hauses.

Brentanos Flucht in die Träumerei entstand sicherlich aus der Zerrissenheit seiner aufstrebenden Familie. Die Beziehung zu den Eltern war immer wieder gestört durch lange Abwesenheit vom Frankfurter Elternhaus, durch Unterbringung bei der Tante, der Großmutter, in Internaten usw.. Brentano und seine Geschwister wuchsen mehr oder minder getrennt voneinander auf, wobei die älteren Geschwister im Sinne der Eltern die angepaßteren waren.

Brentanos uneingeschränkte Liebe galt der Mutter, der er nie nahe genug sein konnte, der er näher stand, als die anderen Geschwister. Mit seinen vielen Geschwistern mußte er sie teilen, während seiner häufigen Abwesenheit sie gänzlich entbehren. Seine unerfüllte Sehnsucht drückt sich deutlich in seinem literarischen Werk aus, aber auch sein Lebensweg ist gekennzeichnet durch die Suche nach einem ein Wiederfinden der Mutter in anderen Frauen.

Ein anderes weibliches Modell fand er in seinen Schwestern. Mit seiner Schwester Sophie verbündet er sich, als er gemeinsam mit ihr 1784 zu seiner lieblosen und unmütterlichen Tante zur Erziehung gegeben wird. "Ihr Hund stand der Tante näher als die Kinder. Er hatte die originelle Eigenschaft, Nüsse zu fressen, und Clemens und Sophie mußten ihm nach Tisch jedesmal zehn Nüsse aufknacken; die elfte durften sie zur Belohnung gemeinsam verzehren. Anschließend wurden sie, damit sie sich gerade hielten, mit zusammengebundenen Ellenbogen Rücken an Rücken aufgestellt, nachdem die Schwester noch in die Schnürbrust gezwängt worden war.'So mußten wir..., um unserer Muhme zum Nachtisch einen Spaß zu machen, auswärts stehen, bis wir umfielen'". Über die Dressur hinaus kümmerte sich die Tante kaum um die Kinder. Sie überließ sie der Gesellschaft eines Dieners ihres Mannes, der so roh war wie sein Herr und dem Kanarienvogel der 'tierliebenden' Tante mit einem glühenden Draht die Augen ausstach. Er hörte ihnen, während er die Stiefel wichste, Geographielektionen ab und ließ sie die Hauptstädte Europas auswendig hersagen. Wenn sie zu schnell mit ihrer Aufgabe fertig wurden, bestrafte er sie.

Beide Kinder flüchteten aus diesen Verhältnissen in eine Traumwelt, die sie mehr und mehr ausgestalteten.Auch später behielten sie diese Gemeinsamkeit bei. Sie zogen sich beispielsweise im Elternhaus auf den Speicher zurück und gründeten das Phantasiereich 'Vaduz', das sie gemeinsam regierten. Das allein mag eine adäquate Reaktion sein und für sich eine harmlose Phantasterei. Diese Reaktion hat jedoch für Brentano offensichtlich Modellcharakter. Die gemeinsame Flucht in eine Scheinwelt und die Konfrontation mit der Behinderung - Sophie hatte als Kind ein Auge verloren - weist eine Parallele zur späteren Konstellation Emmerick / Brentano auf. In beiden Fällen sind es weibliche Bündnispartner. Krankheit und Todesnähe (im Fall Sophie als nachträgliche Erfahrung) sowie die Flucht aus einer unerträglichen Gegenwart in eine sehr detailliert ausgestaltete Phantasiewelt geben ein erkennbares Muster vor.

Die praktische Seite des Lebens repräsentierte der Vater, der es als Großkaufmann zu Ansehen und Wohlstand gebracht hatte. Dieser war zwar kaum im Hause, seinen patriarchalischen Vorgaben hatte sich dennoch die Familie zu beugen. Er stellte an den Sohn Forderungen, die dieser - anders als seine älteren Brüder - nicht erfüllte oder erfüllen konnte. So scheint es der Vater gewesen zu sein, der den Sohn immer wieder ins "Exil" trieb, der ihn von der Mutter trennte. Clemens reagierte mit Verweigerung, offen indem er in konkreten Anforderungen versagte, verborgen indem er in seine Phantasiewelt flüchtete, subversiv indem er einen renitenten Witz entwickelte und indem er mit den Geschwistern intrigierte. Brentano scheute auch in seinem späteren Leben konkrete Herausforderungen, so erwarb er keinen Bildungsabschluß und erlernte auch keinen Beruf.

Brentanos Schulausbildung lag in den Händen von Jesuiten. Nach Vorbereitung in einem Jesuitenpensionat besuchte er ab 1787 in Koblenz drei Jahre ein Jesuitengymnasium. In der Quinta lernte Brentano Joseph Görres kennen, mit dem er allerdings erst später eine lebenslange Freundschaft schließen wird. 1791 wurde Brentano für zwei Jahre in das philanthropische Erziehungsinstitut in Mannheim geschickt. Die Erziehung zur Tugend im Geiste der Aufklärung war in diesem Fall ebenso übel, wie die Erziehung der Tante. Pädagogisch verbrämte Sadismen scheinen die Regel gewesen zu sein. "Nachts stellte er (der Leiter) eine eiserne Stange neben sich, um wenn sich etwa einer von uns in dem Bette herumdrehen sollte, (...) ihm, wie er sagte, Arm und Bein auf seine Verantwortung entzwei zu schlagen. Keine Minute geht vorbei, daß er nicht schimpfen und zanken sollte, ist er mit uns fertig, so fängt er mit seiner Frau und seinen Kindern oder Dienstboten an". Möglicherweise entwickelte sich hier der Widerwille gegen die "Aufklärung", die als hehres Ziel propagiert wurde, als pseudopädagogisches Konzept jedoch nur Unmenschlichkeit verbarg. Von den Eltern konnte Brentano keinen Schutz erwarten, waren sie es doch und in erster Linie der Vater, die ihn wiederum in eine unerträgliche Situation gebracht hatten. Brentano rächte sich, indem er den Briefkontakt zur Mutter abbrach. Erst ein Onkel befreite ihn 1793 aus dieser Anstalt. Drei Wochen nach der Rückkehr ins Elternhaus starb die Mutter unvermittelt, für Brentano ein Schock.



Halle, Jena, Marburg, Heidelberg

Die ersten Versuche des Vaters, dem Sohn in seiner Nachfolge eine praktische Ausbildung angedeihen zu lassen, scheiterte erwartungsgemäß. Entgegengesetztes Talent und der Gegensatz zum Vater offenbarte sich gerade hierin, für eine praktische Tätigkeit war Brentano geradezu ungeeignet. Das Studium der Mineralogie in Bonn 1793 mündete nach nur vier Monaten in studentischen alkoholischen Eskapaden. Eine vom Vater vermittelte Karriere als Kaufmann endete ebenfalls als Fehlschlag. Die Verwandten, die ihn zu diesem Zwecke aufgenommen hatten waren bald froh, ihn los zu sein, nachdem er mit allerlei Schabernack die provinzielle Ruhe gestört hatte.

Brentano sollte nun ernsthaft studieren, und zwar Bergbau, worin er jedoch wiederum versagte. 1797 immatrikulierte er sich in Halle zum Studium der Cameralwissenschaften. Kurz zuvor starb der Vater, der den Geschwistern das Vermögen von 1.200.000 Fl hinterließ, dessen Verwaltung der ältere Bruder Franz als Vormund übernahm. Mit seinem Teil des Erbes wurde Brentano finanziell unabhängig - immer auf den guten Willen seiner älteren Brüder.angewiesen - eine wichtige Voraussetzung für sein späteres "poetisches" Leben, das nicht von Broterwerb getrübt war. Auch die Dülmer Episode wäre ohne diese Unabhängigkeit nicht denkbar. Immerhin hatte er persönliche jährliche Einkünfte von 1200 FL zur Verfügung.

Aus Halle verabschiedete sich Brentano schnell nach Jena, nachdem er in einen von ihm provozierten studentischen Händel verwickelt war.

Jena wurde zur richtungsweisenden Etappe seiner Studentenzeit, hier entdeckte er sein poetisches Talent. Im Juni 1798 immatrikulierte er sich als Medizinstudent. Seit 1796 war Jena ein Ausgangsspunkt der Frühromantik, an dieser Universität lehrten Schelling und die Gebrüder Schlegel, in deren Haus Brentano bald verkehren sollte. Im Salon der Caroline Schlegel lernte Brentano die prominenten Gäste kennen, darunter Sophie Mereau, in deren Haus er bald als studentischer Tischgast aufgenommen wurde. Die Gattin des Mathematikprofessors Mereau schriftstellerte erfolgreich, ihre literarische Reputation zeigte sich in der Stellung, die sie in der geistigen Gesellschaft Jenas einnahm. Sophie Mereau war dem romantischen Werben des jungen Studenten nicht abgeneigt - Brentano war keineswegs der einzige Bewunderer, neben ihm werden Hölderlin, F. Schlegel u. a. genannt - immerhin war ihre unglückliche Ehe kein Geheimnis. Doch das Verhältnis blieb zunächst ungleich, auf der einen Seite die unglücklich Verheiratete, auf der anderen der Student. Der zwanzigjährige Brentano war als dilettierender Poet der achtundzwanzigjährigen arrivierten Professorengattin und Literatin weit unterlegen. Es gelang Brentano, die Beziehung zu vertiefen und er stellte Sophie sogar seiner Großmutter vor, als die sich mit seiner Schwester Sophie auf dem Weg zu Goethe nach Teplitz befand. Sophie von La Roche hatte gegen die Verbindung nichts einzuwenden und scheint Brentanos Motive verstanden zu haben. Der Biograf Hoffmann beschreibt diese so: "Er versucht, über diese Liebe Zugang zum Leben zu gewinnen, die Bindung an die Vergangenheit zu überwinden. In der Heftigkeit, mit der er es versucht, gleicht er einem ertrinkenden, der sich an den Retter klammert, bis er mit ihm versinkt." Es kommt jedoch bald zu Spannungen in der Liaison, teils weil sich die äußeren Einengungen nicht ohne weiteres auflösen lassen, teils weil Sophie Brentanos völlig überhöhten Ansprüchen nicht genügen will oder kann. Nach einigen Turbulenzen trennen sich die Ungleichen, obwohl die Trennung nicht von Dauer bleiben wird. Dorothea Veit kommentiert in einem Brief an August Wilhelm Schlegel: " Ja, Ja, Meeräffchen (Sophie Mereau) hat dem Angebrennten eclatanten Abschied gegeben, so daß er nicht angebrennt ist, sondern ganz abgebrennt ist"

Über Sophie fand Brentano Anschluß an die literarische Welt und das waren in Jena vor allem Vertreter der Frühromantik. Um 1800 war in Jena die Romantische Bewegung fast vollzählig versammelt. Zu Brentanos Umgang zählten Tieck, der Übersetzer des "Don Quixote" und spätere Lehrer seiner Schwester Bettine, Wieland, Herder, Goethe, Fichte und sein späterer Schwager Savigny. Zu Friedrich Schlegel sah Brentano bewundernd auf. Nachdem Brentano dem Professor über seinen Bruder Geld geliehen hatte und dieser mit der Rückzahlung säumte, kühlte sich die Bewunderung jedoch rasch ab. Nebenbei machte ihm auch die "kalte Schlegelsche Kritikluft" zu schaffen. Seine ersten literarischen Versuche gerieten in eben diesen Luftzug der Kritik - man ließ sich so leicht nichts vormachen - und bald wurde seine Imitation des Tieckschen Stiles offenbar und bespöttelt. Nichtsdestotrotz war der Salon der Caroline Schlegel ein Ort, an dem Brentano frühe Anerkennung und Bekanntheit erwerben konnte.

Nach dem Eklat mit Sophie löste sich Brentano von Jena und ging in die Provinz nach Altenburg. Dort verliebte er sich heftig in eine Cousine der Sophie Mereau, wurde jedoch unverstanden abgewiesen. Er ließ sich in Marburg bei Savigny nieder, unternahm mit dem zwei Rheinreisen und immatrikulierte sich schließlich in Göttingen. In dieser Zeit, zwischen 1800 und 1803, vertiefte sich seine Zuneigung zur Schwester Bettine.

Mit seiner sieben Jahre jüngeren Schwester kam er erst spät, 1797, in engere Beziehung, weil Bettine nach dem Tod der Mutter außerhalb des elterlichen Hauses erzogen wurde. Als am 19. September 1800 nach kurzer Krankheit die Schwester Sophie starb, trat Bettine an deren Stelle als Vertraute. Ein reger Briefwechsel eröffnete die lebenslang enge Beziehung der beiden. Brentanos Briefe sind häufig durchzogen von moralisierenden Ermahnungen, während Bettine sich über die Erziehungsversuche des Bruders belustigte. Als Bettine wieder in den "Goldenen Kopf" - das Haus der Familie in Frankfurt - zog, vermittelte die Schwester Gunda den Briefwechsel, da Brentano fürchtete, die Brüder, mit denen er ein gespanntes Verhältnis hatte, könnten die Briefe öffnen. Gunda gegenüber äußerte er, Bettine sei ihm so lieb, daß er fürchte, sie zu sehen. Er hatte Angst, daß die reale Bettine, der imaginären, die er liebte, widersprechen könnte. Darin findet sich ein Motiv, daß sich im Verhältnis zur Emmerick wiederholen wird. Auch diese will er nicht wirklich sehen, er ignoriert geradezu deren weltliche Existenz, er sucht auch in ihr lediglich eine imaginierte Wirklichkeit.

Das Moralisieren und die Neigung, die Geliebten zu dem zu machen, was seine Einbildungskraft als "wahres" Wesen in ihnen sah, wiederholte sich in allen seinen Beziehungen zu Frauen, besonders aber in seinen beiden Ehen. Im November 1803 heiratete er nach einigen Eskapaden die geschiedene Sophie Mereau. Die Ehe wird von allen Biografen als schwierig angesehen. Entweder stellen sie sich auf den Standpunkt, Brentanos Liebe wäre zur Zeit der Eheschließung schon erkaltet (Hoffmann) oder Brentano hätte die Konkurrenz gefürchtet und seinen Partnerinnen das Leben durch überzogene Forderungen zur Hölle gemacht (Kastinger Riley). So verbot Brentano seiner Frau Sophie zu reiten, sich zu schminken und ihr Werk unter ihrem Namen zu veröffentlichen, weil er die 'Verstümmelung' ihres Wesens hasse, weil sie eine schlechte Künstlerin sei, die über ein herrliches Werk hergefallen ist, über sich selbst. Mit Sophie hatte Brentano zwei Kinder, die beide kurz nach der Geburt starben, die Geburt des dritten Kindes 1806 überlebte Sophie Brentano nicht.

In Göttingen, wo Brentano am 21. Mai 1801 als Philosophiestudent immatrikuliert wurde, lernte er während eines spektakulären Empfangs von Goethe durch die Studentenschaft den Kommilitonen Achim von Arnim kennen. Diese Verbindung wurde auf die nächsten Jahre für beide bestimmend. Brentano fand in dem "Herzbruder" eine Ergänzung, die er in seinen Frauen nicht fand. Brentano und Arnim lebten eine romantische und poetische Symbiose, die beider dichterische Kreativität entfesselte. Eine Entfremdung trat erst dann ein, als Arnim und Bettine heirateten.

In Heidelberg hatte sich Brentano mit seiner Frau 1804 niedergelassen, Arnim folgte nach einer Bildungsreise dorthin. Die Heidelberger Zeit wurde zum Synonym der Hochromantik, weil sich hier, wie auch schon in Jena die wichtigsten Protagonisten versammelten. Die führenden Köpfe in Heidelberg waren Arnim und Brentano. Das wichtigste Ergebnis dieser synergetischen Arbeit ist die Liedersammlung "Des Knaben Wunderhorn". Die Heidelberger Zeit beschreibt Joseph von Eichendorff:

Neben ihm (Görres) standen zwei Freunde und Kampfgenossen: Achim von Arnim und Clemens Brentano, welche sich zur selben Zeit nach mancherlei Wanderzügen in Heidelberg niedergelassen hatten. Sie bewohnten im 'Faulpelz', einer ehrbaren aber obskuren Kneipe am Schloßberg, einen großen luftigen Saal, dessen sechs Fenster mit der Aussicht über Stadt und Land die herrlichsten Wandgemälde, das herüberfunkelnde Zifferblatt des Kirchturms ihre Stockuhr vorstellte; sonst war wenig von Pracht oder Hausgerät darin zu bemerken. Beide verhielten sich zu Görres eigentlich wie fahrende Schüler zum Meister, untereinander aber wie ein seltsames Ehepaar, wovon der ruhige mild - ernste Arnim den Mann, der ewig bewegliche Brentano den weiblichen Part machte. (...) Während Arnims Wesen etwas wohltuend beschwichtigendes hatte, war Brentano durchaus aufregend; jener erschien im vollsten Sinne des Wortes wie ein Dichter, Brentano dagegen selber wie ein Gedicht, das, nach Art der Volkslieder, oft unbeschreiblich rührend, plötzlich und ohne sichtbaren Übergang in sein Gegenteil umschlug und sich beständig in überraschenden Sprüngen bewegte. Der Grundton war eigentlich eine tiefe, fast weiche Sentimentalität, die er aber gründlich verachtete, eine eingeborene Genialität, die er selbst keineswegs respektierte und auch von andern nicht respektiert wissen wollte. Und dieser unversöhnliche Kampf mit dem eigenen Dämon war die eigentliche Geschichte seines Lebens und Dichtens, und erzeugte in ihm jenen unbändigen Witz, der jede verborgene Narrheit der Welt instinktartig aufspürte und niemals unterlassen konnte, jedem Toren, der sich weise dünkte, die ihm gebührende Schellenkappe aufzustülpen, und sich somit überall ingrimmige Feinde zu erwecken. Klein, gewandt und südlichen Ausdrucks, mit wunderbar schönen, fast geisterhaften Augen, war er wahrhaft zauberisch, wenn er selbstkomponierte Lieder oft aus dem Stehgreif zur Gitarre sang. Dies tat er am liebsten in Görres einsamer Klause, wo die Freunde allabendlich einzusprechen pflegten;... häufig ohne Licht und brauchbare Stühle, bis in die tiefe Nacht hinein..."

Das erste gemeinsame literarische Produkt der beiden war die Einsiedlerzeitung, die jedoch nur fünf Monate bestand. Die Leistung, die beide schlagartig berühmt machen sollte, war die Redaktion und Herausgabe einer Sammlung deutscher Lieder unter dem Titel "Des Knaben Wunderhorn", deren erster Band im Jahre 1805 erschien. Das Bedeutsame dieser Sammlung lag in der Rückbesinnung auf ein gewachsenes nationales Kulturgut, das bis dahin unbeachtet geblieben war, in der Auflösung des Alten Reiches jedoch neue Aktualität gewann, indem es auf eine kollektive Identität mitbegründen konnte. Die Idee zu einer solchen Liedersammlung war nicht neu, es gab Vorläufer. Die Zeit für derartige Unternehmungen war nun aber herangereift, das Interesse daran lag förmlich in der Luft, Brentano und Arnim mußten nur zugreifen. Schon Tieck hatte mit einer Sammlung von Minneliedern begonnen, bald sollte auch die Volksmärchensammlung der Brüder Grimm folgen.

"Eine wirkliche Gemeinschaftsarbeit Brentano / Arnim läßt sich nur an wenigen Texten nachweisen und "ihre Geringfügigkeit zwingt wohl endgültig dazu, dem der Literaturhistorie liebgewordenem Bild vom gemeinsamen und harmonisch schaffenden Freundespaar den Abschied zu geben.".Typisch für Brentano - und das in besonderem Hinblick auf die Verarbeitung des Emmerick - Materials - ist die Herangehensweise an den Gegenstand. Es kam ihm dabei nicht so sehr auf die philologisch genaue Bearbeitung der Texte an, sondern darauf, den Ton zu treffen, das Kolorit empfindbar zu machen. So veränderte Brentano Texte nach eigenem Gutdünken, ergänzte oder vermischte sie. Diese Arbeitsweise läßt sich unter den Begriff "Kontamination" fassen, ein Verfahren, das an sich ein romantisches ist und von vielen Romantikern auch benutzt wurde. Die Kontamination ist die romantische Umwandlung einer fremden Idee und deren Ausweitung durch eine neue Perspektive und eine neue Facette, "das Romantische selbst ist eine Übersetzung". Für Brentano bietet sich das Verfahren an, weil er seine literarische Produktion zuallererst als Selbstreflexion begreift, also eine Übersetzung seiner Gefühlswelt in literarische Topoi. Wie wahrhaftig diese Produkte sind, sei dahingestellt. Die kontaminative Methode beschränkte sich nicht nur auf Bearbeitung und Erweiterung vorhandener Texte. Brentano arbeitete wiederholt "verschmelzend" mit anderen Autoren zusammen, etwa Sophie Mereau, Arnim und Görres, später mit Luise Hensel und wohl auch der Emmerick. Mit Görres schrieb er gemeinsam die Satire von Bogs (Brentano und Görres), dem Uhrmacher, seine letzte literarische Produktion im universitären Milieu.

Im März 1807 löste Brentano seinen Haushalt in Heidelberg auf, sein Weg führte ihn nach Kassel. Der Tod Sophies im Oktober 1806 hatte ihn in der Substanz erschüttert, nur Görres konnte ihn trösten, nachdem sich Brentano tagelang eingeschlossen hatte. Schon im Juli 1807 verliebte er sich in die sechzehnjährige Auguste Bußmann. Er heiratete sie gegen den Widerstand ihres Vormundes. Die Ehe mündete in einer Katastrophe, in der Brentano von seiner Gattin wiederholt mit Mord und Selbstmord bedroht wird. 1809 trennen sich die Ehegatten offiziell.

 

Berlin - Prag - Wien

1810 folgt Brentano Arnim und seiner Schwester nach Berlin, wo er bis 1811 bleiben wird. Er war 1804 schon einmal dort. Der Zeitraum, der wegen seiner Konversion am interessantesten ist und den engsten Bezug zum Thema hat, liegt in der Zeit seines Aufenthaltes zwischen 1814 - 1819. In die Zeit 1810/11 fielen wichtige Ereignisse in Brentanos Leben, die als Voraussetzung für seine Konversion und sein späteres katholisch-konservatives Wirken angesehen werden können. Das eine ist die Gründung der Christlich - Deutschen Tischgesellschaft, das andere die Heirat Bettines mit Arnim.

Berlin als Residenzstadt, Sitz der preußischen Regierung und zweitgrößte deutsche Stadt war nach der Lähmung der west- und süddeutschen Staaten zu einem kulturellen Zentrum herangewachsen, in dem sich nationale Ideen wirksam artikulieren konnten, nachdem 1806 die alte Ordnung so spektakulär versagt hatte. Infolge dessen übte Berlin eine erhebliche Anziehungskraft auf die romantischen Protagonisten aus, die sukzessive in Berlin eintrafen. Nach Jena, Marburg, Göttingen und Heidelberg - Wien und München bildeten Ausnahmen - wurde Berlin ein neuer Anlaufpunkt für den Wanderzirkus der Romantiker. Die Jenenser-, Heidelberger- usw. Romantik wurde abgelöst durch die Berliner Romantik, wobei mit der Berliner Romantik ein offensiv-restauratives - im heutigen Sinne reaktionäres - Element seinen Einzug hielt. Mit der Berliner Romantik hatte die romantische Bewegung ihren Zenith überschritten und es begann schleichend die restaurative, nationalistische und religionsbestimmte Spätromantik.

Berlin konnte freilich zu dieser Zeit auf eine große literarische Tradition zurückblicken, erinnert sei an Mendelsohn, Lessing, Nicolai. In Berlin nahm ein Teil der Romantischen Bewegung seinen Ursprung und mit der Gründung der Berliner Universität 1810 belebte sich das kulturelle Leben. Der Ort der kulturellen und politischen Meinungsbildung war nach wie vor der Salon. Die besondere Bedeutung erlangten die Salons dadurch, daß sich in ihnen Vertreter der unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und Konfessionen - Adlige, Spitzenbeamte, Militär, Bildungsbürger, Künstler, führende Kaufleute und Bankiers - zwanglos treffen konnten, ohne die distanzierende Etikette einhalten zu müssen. Im Unterschied zu den Salons Frankreichs und Englands beschränkten sich die Themen nicht auf Kunst - wobei die Literatur den ersten Platz einnahm - und Gesellschaftsklatsch, sondern es wurden auch politische Themen erörtert. Eine Einladung war nicht vonnöten, Voraussetzung für eine Teilnahme war aber eine Empfehlung oder doch ein gewisser Rang in Kultur und Gesellschaft. Die um 1810 in Berlin existierenden Salons waren nicht mehr vom Geist der Aufklärung inspiriert und ihr Charakter hatte sich deutlich geändert. Aufklärung, Klassik und Neuhumanismus fanden nach wie vor Fürsprecher in der preußischen Beamtenschaft und den führenden Staatsgremien. Ausdruck hierfür waren die staatlichen Reformen und die Gründung der Berliner Universität. Salons der Aufklärung wurden häufig von "literarischen" Frauen geführt, so die Salons der Henriette Hertz und Rahel Levins.. Die Repräsentanten des aufgeklärten Salons waren jedoch unmerklich verdrängt worden, ihre jüdischen Vertreter wurden mehr und mehr isoliert, teils konnten sie nur durch eine Konversion zum Christentum den gesellschaftlichen Anschluß bewahren. Gesellschaftlich und kulturell beherrschte eine neue Mentalität die Salons; in ihnen standen nationale Fragen im Vordergrund, dies wurde zum genuinen Anliegen der Spätromantiker. Brentano nahm in seiner Berliner Zeit rege an den Salons teil, ja er war ein gern gesehener Gast, der für provokante Unterhaltung sorgte oder aus seinem Werk vorlas. Boethius bezeichnet Brentano als gehobenen Entertainer, der jedoch in der Berliner Gesellschaft scheiterte. Andere Aussagen gehen dahin, daß Brentano sich durch seinen boshaften Witz viele Feinde schaffte, er sich letztlich mit allen überworfen hatte. Wie auch immer, der Salon war Brentanos erstes Betätigungsfeld.

Die Besetzung Berlins durch französische Truppen, die Einquartierungen und die Abpressung erheblicher Kontributionen von der Berliner Bevölkerung förderten die nationale Stimmung, für die sich alsbald Wortführer fanden, die der Romantischen Bewegung nahestanden. Die Gründung der Christlich - Deutschen Tischgesellschaft im Januar 1811 durch Arnim und Adam Müller entsprang solchem Geist. Verwandt war diese Gesellschaft dem 1808 gegründeten und 1809 als staatsgefährdend und antinapoleonisch verbotenen Tugendbund. Diese Form des mehr oder minder regelmäßigen geselligen Umgangs war Teil des Kommunikationsnetzes der politischen und kulturellen bürgerlichen Elite Berlins, in diesem Falle des konservativ - oppositionellen Teils. Es handelte sich um einen größeren Stammtisch, der an die Stelle des literarischen Salons trat, er diente der Meinungsformierung der antiliberalen Berliner Wortführer insofern, als Tageszeitungen noch rar waren und diese Form der Meinungsbildung keiner Zensur unterlag. Arnim, Müller und Kleist gaben eine der ersten, tatsächlichen Tageszeitungen heraus, die "Berliner Abendblätter", die mit Auswertung der Polizeiberichte des jeweiligen Tages eine Vorform des Sensationsjournalismus gestalteten. In diesem Blatt arbeitete auch Brentano sporadisch mit.

Die Christlich Deutsche Tischgesellschaft umfaßte den Personenkreis, dem Brentano um 1811 am nächsten stand. Zur Christlich Deutschen Tischgesellschaft trafen sich vierzehntäglich national gesinnte Adlige, Beamte und Offiziere zum Mittagessen. Voraussetzung der Mitgliedschaft war, "daß es ein Mann von Ehre und guten Sitten und in christlicher Religion geboren sei, unter dieser Angemessenheit, daß es kein lederner Philister sei, als welche auf ewige Zeiten daraus verbannt sind", ebenso wie Juden. Zu den Mitgliedern dieser Gesellschaft gehörten u.a. Kleist, Adam Müller, Savigny, Clausewitz, Zelter, Fichte, Graf Dohna, Julius von Voß, Karl Wolfart, Arnim und Brentano und - im Zusammenhang mit Brentano wichtig - Leopold von Gerlach sowie F. A. von Staegemann. Gelegentliche Gäste waren Chamisso und auch die Brüder Eichendorff. Die Christlich Deutsche Tischgesellschaft kann als eine der Keimzellen des preußischen Konservativismus und des modernen Antisemitismus gelten, in dem nationaler Chauvinismus, Pangermanismus, Volkstümelei und Judenfeindschaft zusammengehen, allerdings war hier ein deutlicher Bezug zur christlichen Religion vorhanden. Als publizierende Antisemiten aus diesem Kreis ist Ernst Moritz Arndt und Johann Gottlieb Fichte zu nennen. Auch Arnim tat sich als Judenfeind öffentlich hervor. Als einen Höhepunkt seines Antisemitismus kann die Provokation der Berliner Juden im Juni 1811 gelten, als er während einer Tischgesellschaft den jüdischen Bankier Moritz Itzig beleidigte, diesem die Satisfaktion verweigerte und anschließend ein Circular herumgehen ließ, in welchem Itzig von verschiedenen Personen "Maulschellen, Stockprügel und Ruthenstreiche" angedroht wurden.

Auch von den Geschwistern Bettine und Clemens Brentano werden antisemitische Ausfälle berichtet, dokumentiert in Rahel Levins Briefen an Varnhagen. Dessen nachtragende Feindschaft zog sich Clemens Brentano zu, als er Rahel in einem Brief beleidigte. Dies hatte für die Tradierung eines Teils des Brentanonachlasses zur Folge, daß er durch Varnhagen vernichtet wurde, nachdem Bettine diesen Varnhagen zur Bewahrung nach ihrem Tode überlassen hatte.

Einen großen Erfolg hatte er im März 1811 mit einem Vortrag seiner antisemitischen und antibürgerlichen Tirade "Der Philister in und nach der Geschichte" bei der Tischgesellschaft. "Alle Mitglieder erhoben sich, umdrängten Brentano und schmeichelten ihm wahrhaft huldigend. Es war sein größter Triumph. Er schwamm in Wonne." (Varnhagen).

Diese aggressive Judenfeindschaft ist ein wesentlicher Anhaltspunkt für Umschwung der Mentalität im beginnenden 19. Jahrhundert, für den Generationswechsel und für den sich abzeichnenden Aufschwung der Religion. Während die etablierten Kräfte der preußischen Kultur noch auf die bürgerliche Gleichstellung der Juden hinarbeitete und König Friedrich Wilhelm III. am 11. März 1812 das "Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden im dem Preußischen Staate" erließ, formierte sich in den spätromantischen Zirkeln der Antisemitismus moderner Prägung. Der Mythos vom Volk, die Lehre vom christlichen Staat und Xenophobie in der Gestalt von Franzosen- und Judenhaß reichten sich hier erstmals die Hand. Der politische Hintergrund dieser Entwicklung ist in der rechtlichen Emanzipation der Juden im Gefolge der französischen Besetzung zu sehen, was als eine Allianz jüdischer und französischer Interessen begriffen wurde. Die Reaktion der Romantischen Generation ist irrational überzogen und zwanghaft, völkisch und religiös. Das literarisch - phantastische Element der frühen Romantik ist in der Christlich Deutschen Tischgesellschaft verschwunden. Die romantische Harmonie, die sympathetische Freundschaft ist ersetzt durch Kumpanei, der romantische Blick in die Ferne und das ungewisse Abenteuer wird ersetzt durch berauschte Kriegsbegeisterung. Die erhitzte Phantasie wendet sich in unbestimmten Haß gegen alles Französische und Jüdische aber auch gegen das Bürgertum an sich. Literarisch wird aber auch die Kehrseite dieser Stimmung deutlich: in den düstere Phantasien Kleists und Hofmanns.

Die romantische Religiosität wandelt sich in dieser Zeit von einem monistischen Pantheismus zu einem überweltlichen Gottesbild, in dem Gott als Richter und Weltregent erscheint. Die romantische Beseeltheit der Dinge, die christliche Universalität weicht hier einem rächenden Gott, dem das deutsche Volk besonders nahe steht. Adam Müller formulierte dies in seiner Idee des christlich - germanischen Staates. Demnach sei Christus nicht bloß für den Menschen, sondern auch für die Staaten gestorben, "daß Er die Bedingung der Staaten ist, daß wir also in den kümmerlichen Tagen nichts begehren können, kein Recht, keinen Nationalreichtum, kein persönliches, kein Staatenglück ohne Ihn." Die christlich - deutsche Idee kann jedoch keine Religiosität im umfassenden spirituellen Sinne darstellen, die utilaristische Erwartung darin ist zu offensichtlich. Müllers Entwurf blieb ohne dauernde Resonanz und sollte sich auch langfristig nicht durchsetzen.

Die Christlich Deutsche Tischgesellschaft war von einschneidender Bedeutung für Brentano. Hier streifte er die juvenilen Hüllen seiner Studentenzeit ab. Gleichzeitig wurde er in den Sog christlich - deutscher und militaristischer Begeisterung gerissen. In Jena hatte Brentano nicht den geringsten Anstoß an der jüdischen Herkunft Dorothea Veiths, der Gattin von Friedrich Schlegel genommen. In der Christlich Deutschen Tischgesellschaft tat er sich hingegen als wüster Antisemit hervor. In Marburg scheint er den Übergang Französischer Truppen über die Lahn kaum bemerkt zu haben. In Berlin wurde er zum scheinbaren Patrioten und Franzosenfresser. In dem Maße, in dem das universitäre Milieu in den Hintergrund trat, geriet Brentano in eine Schaffens- und Orientierungskrise. Der militante Nationalismus und das christliche Volksgetümel der Christlich Deutschen Tischgesellschaft konnten Brentano nur oberflächlich einen Ersatz für das akademische Milieu bieten. Das christlich - deutsche Ideal übte nur oberflächlich Anziehungskraft auf Brentano aus. Brentano hatte keine Ambitionen in die Befreiungskriege zu ziehen, wie ein Großteil seiner christlich - deutschen Tischgenossen. Er begnügte sich mit einigen patriotischen Liedern. Brentano hatte nun in Berlin weder Beruf, Aufgabe noch andere Beschäftigung, an denen er sich hätte weiterentwickeln können. Nach den Katastrophen seiner beiden Ehen und dem Verlust des überschaubaren Milieus in den Idyllen südwestdeutscher Universitätsstädte blieb ihm die Beziehung zu Arnim und seiner Schwester Bettine.

Das andere schwerwiegende Ereignis dieser Zeit für Brentano war die heimliche Heirat Arnims und Bettines am 11. März 1811. Das besondere an dieser Heirat war die Heimlichkeit, in der dieselbe stattfand:

"Wir ohne irgend jemand von unserer beiderseitigen Verwandten Wissen sind .... fünf Tage verheiratet gewesen, bis wir es selbst an Savigny und Clemens erzählt haben. Die Schwierigkeit wirst Du begreifen, wenn Du weißt, daß ich Zimmer an Zimmer mit Clemens wohnte, und Bettina bei Savignys am Montbijouplatz. Es ging aber wie in tausend Komödien: eine Kammerjungfer vermittelte alles. Heimlich wurde ich morgens getraut, kam abends wie gewöhnlich zu Savignys, polterte die Treppe hinunter, schlug die Haustüre zu, und schlich mich heimlich in Bettinas Zimmer zurück, das recht fröhlich mit Rosen, Jasmin und Myrten belaubt war. Morgens ging ich fort, behauptete dem Clemens, ich hätte in der Nacht eine heftige Kolik bekommen, daß ich mich in ein Wirtshaus begeben müssen, zugleich nahm ich ein leichtes Brechmittel ein und das überzeugte alle. Du wirst fragen, wozu alle diese Umstände? Ich sage Dir im allgemeinen wegen der Klatscherei ... und weil alle Hochzeiten, wie unsere, zu dem widrigsten Spotte alles Sakraments, zu den heillosesten Zoten gehören, wobei sich die Leute gar noch verpflichtet halten, nebenbei noch einige Tränen zu vergießen."

Wozu die Camouflage vor Savigny und Brentano, wenn es nur darum ging, die Öffentlichkeit aus der Angelegenheit herauszuhalten? Brentano war immerhin der engste Freund der beiden, mit beiden bestand eine typische romantische Seelenverschmelzung. Der Grund kann nur darin liegen, daß beide Eheleute sich der starken Veränderung der Beziehung zu Brentano, die einer Kündigung der Seelenverwandtschaft nahekam, bewußt waren. Tatsächlich kühlte das Verhältnis ab, für Brentano ein Bruch, mit welchem eine neue Entwicklung eingeleitet wurde, die in seine Konversion mündete. Für Brentano war damit die Heidelberger Zeit endgültig beendet. Unter dem Aspekt "Romantik als Jugendbewegung" ist die Wende in Brentanos Leben vom Jugendbewegten zum Danach hier zu orten. Die Romantische Seelenbrüderschaft endete mit der Etablierung Arnims im bürgerlichen Leben, im von Brentano so heftig bekämpften "Philistertum". Dieses vor allem wollte er vermeiden, nach wie vor wollte er sich die romantische Distanz zur Konvention bewahren. Trotzdem litt er unsäglich unter dem Rückzug von Bettine und Arnim: "Lieber bester Bruder, nimm mich doch mit deiner Frau meiner ein wenig an. Ich will mich eurem Willen ganz unterziehen, ich will Euch nicht stören, ich will Euch Freude machen auf alle Weise, alles was euch Unrecht scheint, will ich vermeiden. Ich will fleißig sein und Euch meine Arbeit wie ein Pensum mitteilen. Nur laßt mich bei Euch bleiben, damit ich mich wieder sammle und auf den Boden des Rechten komme." Seine Abreise im Juli 1811 (gemeinsam mit Schinkel) aus Berlin ist sicherlich auch unter diesen Aspekten zu verstehen. Allerdings brach im Mai auch die Berliner Gesellschaft in den Sommer nach Teplitz auf: "Die ganze Welt von Bekannten geht nach Teplitz,....; Adel, Bürger; Gelehrte, Philister; Hoffärtige, und weniger Eitle.".

Brentano begab sich zunächst zu Christian, seinem Bruder, auf das gemeinsame Gut Bukowan in Böhmen. Von dort aus besuchte er häufig Prag, wo er sich vorübergehend niederließ. Nach der Auseinandersetzung mit Varnhagen und nachdem sich auch sein Bruder in einer Streitigkeit mit Offizieren gesellschaftlich kompromittiert hatte, ging Brentano wieder nach Bukowan, ohne dort jedoch lange zu bleiben. Anfang 1813 hatten die Befreiungskriege begonnen und viel Berliner Prominenz emigrierte vorübergehend nach Böhmen, vornehmlich Teplitz und Prag, wo dann auch die Brüder Brentano zu finden waren. Im Juli 1813 reiste Clemens Brentano nach Wien, wo er wiederum in den Salons Fuß faßte. Er galt als Star der literarischen Salons, mit seiner Bühnenaufführung des "Ponce de Leon" fiel er allerdings durch.

Im Kreise des "Strobelkopfes" traf er auf den romantischen Katholizismus in der Wiener Ausprägung. Zu diesem Kreis gehörten die alten Bekannten Brentanos aus Jenaer Zeiten Friedrich und Dorothea Schlegel, die beide 1808 spektakulär im Kölner Dom konvertiert waren. Die einflußreichste Kraft der Wiener katholischen Romantik war der Redemptoristenpater Clemens Maria Hofbauer, der eine Reihe von Konvertiten um sich versammelte, so Zacharias Werner, F. A. Klinkowström, F. und S. Schlosser. Den inzwischen konvertierten Adam Heinrich Müller, mit Arnim der Mitbegründer der Christlich - Deutschen Tischgesellschaft, und die Brüder von Eichendorff kannte Brentano noch aus Göttingen und Berlin. Brentano war also mit dem Phänomen der romantischen Konversion erstmals direkt konfrontiert.



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