Der Weg zur Konversion
Seit Anfang 1810 hatte eine seelische Krise eingesetzt, infolge derer
sich Brentano innerlich immer mehr vereinsamt fühlte, eine Stimmung, die
wohl mehrere Romantische Leitfiguren befallen haben mag, denn auch sie
blieben nicht ewig jung und die Protesthaltung einer verabsolutierten
Subjektivität wich einer inneren Leere. Ein Faktor, den alle Romantiker
in Berlin oder Wien getroffen haben mag, ist der Beginn des Massenzeitalters.
Berlin mit seinen 200.000 Einwohnern (1818) war nicht Jena, Göttingen
oder Heidelberg, Kleinstädte, in denen noch jeder jeden kannte, deren
Universitäten durchaus übersichtlich waren. Sowohl in den frühen "Metropolen"
als auch in den Massenheeren verlor sich das Individuum und führte den
romantischen Individualismus ins absurde, auch wenn die Bilder von einigen
"Helden", wie Körner oder Schill den Krieg romantisch verklärten.
Die romantische Ablehnung von Konventionen allein konnte keine positive
Utopie begründen, also tragfähige Entwürfe für das individuelle oder gesellschaftliche
Leben liefern, noch konnte sie aus dem Dualismus "Vernunft"
versus "Gefühl" etwas Drittes entwickeln. Hier liegt die Tragik
der "Urromantik" die sich den folgenden romantischen Bewegungen,
angefangen vom Fernweh Karl Mays, über den Wandervogel, Hitlerjugend oder
der Hippiebewegung wiederholen sollte. Sie mündeten entweder in Katastrophen
oder versandeten in esoterischen Sekten.
Die Hinwendung zur Religion war für einen ansehnlichen Teil der Romantiker
die letzte Möglichkeit, dem realen Leben - dem Philistertum - zu entfliehen.
Der Preis war Verrat und Kapitulation zugleich, indem alle Prinzipien
der Romantik zugunsten der Unterordnung unter konfessionelle kirchliche
Zwänge aufgegeben wurden . Dem Lebensentwurf der unbregrenzten Möglichkeiten
in der Früh- und Hochromantik folgte die zäh - schwere Erbauungsliteratur
von Görres und Brentano oder schwülstig - naive Reimchen à la Hensel.
Brentanos Konversion weicht in den Motiven von den anderen jedoch ab.
Brentanos Konversion ist nicht ästhetisch oder intellektuell begründet,
noch ist sie im Herkommen angelegt. Sie ist Folge einer gebrochenen Lebenslinie,
Lebensunfähigkeit und Halt und Schutz suchenden Schwäche.
Insofern man Brentanos Seelenkrise als chronisch betrachtet, kann hier
nur von einer Verschärfung die Rede sein. Eine anhaltende Reihe von Umständen
führte hierzu. Brentanos Leben verlief unstet und ungebunden. Dazu kamen
persönliche Katastrophen, einmal der Verlust Sophiens, darauf die gescheiterte
Ehe mit Auguste Bußmann, dann die starke Veränderung in der Beziehung
zu Arnim und Bettina und letztlich war der schriftstellerische Erfolg
nach "Des Knaben Wunderhorn" eher bescheiden geblieben und in
Wien hatte Brentano gerade ein künstlerisches Desaster hinter sich.
Brentano fehlte der eigentliche Halt im Leben, er unternahm einige Versuche,
diesen Halt zu finden. So übte er sich in Mathematik, nahm Zeichenunterricht
bei Schinkel und überlegte einen Beruf zu ergreifen. Wien hatte ihm die
Möglichkeit der Flucht in die katholische Religion gezeigt, die er früher
als Kerker der Seele verachtete. Die Kirche der Poesie, die er bevorzugte,
konnte ihm den Halt nicht mehr geben, nachdem die meisten Protagonisten
der Frühromantik vor dem bürgerlichen Leben kapituliert hatten, es diese
Kirche als Gemeinschaft der Poeten faktisch nicht mehr gab.
Brentano weilte, nachdem er einige Zeit in Wiepersdorf bei den Arnims
verbracht hatte, seit dem Spätherbst 1814 wieder in Berlin. Brentano war
nach seiner Rückkehr nach Berlin hochdepressiv, er war geplagt von Schuldgefühlen
und innerer Leere. Eine Tendenz hin zur Kirche deutete sich in seinen
Aussagen klar ab. Seinen innerer Zustand legte er in einem Brief an Wilhelm
Grimm 1815 dar:
"...mir ist oft, ja meist, als gehöre ich nicht mehr zu den Lebendigen.
Mein ganzes Leben habe ich verloren, teils in Sünde, teils in falschen
Bestrebungen. Der Blick auf mich selbst vernichtet mich, und nur wenn
ich die Augen flehend zum Herrn aufrichte, hat mein zitterndes, zagendes
Herz einigen Trost."
Ludwig v. Gerlach schilderte Brentano um 1814/15:
Mit mir von Savignys nach Hause gehend, sagte er:"Er hoffe nichts
mehr in der Welt, - am Ende komme der Tod - dem lieben Gott sei er ganz
gut und der ihm auch. Das sei ja ganz charmant - er habe noch nie eine
vergnügte Stunde gehabt - ihm etwas schenken oder ihm Gesellschaft bitten
mache ihm kein Vergnügen; wenn man lieber statt dessen Gott bäte, ihm
seine Sünden zu vergeben! - Mädchen, wenn sie holdselig machen mir Freude,
aber dann dreht sich mit einem Male das Auge um; ich muß sie von allem
Fleisch entkleiden und sehe nichts als das Gerippe und den Totenkopf."
- Er lernt jetzt rechnen und treibt Algebra, er sagt, das sei ihm verhaßt;
aber darum tut er es, weil ihm das einen Widerstand, einen Druck gebe;
Dichten, Schreiben sei ihm zu leicht, er mache oft Witze, ohne lustig
zu sein; so könne er trefflich einen Betrübten trösten, ohne selbst Trost
zu empfinden; manchmal wundere er sich, wenn er seine eigene Hand sehe,
so sehr fehle ihm das Gefühl seiner eigenen Persönlichkeit. "Als
mich mein Vater erzeugte, hat er keinen Willen miterzeugt." - Ein
Gespenst!
Maikäferei
Nichtsdestotrotz war er häufig zu Gast bei den verschiedenen
Salons und Abendkränzchen. Er hatte Umgang mit Fouqué, Chamisso, E.T.A.
Hoffmann, mit dem er gerne einen trank; bei seinen Schwägern Arnim und
Savigny war er häufig auf Besuch. Mit August Wilhelm Goetze und Friedrich
Karl v. Bülow begründete er im Dezember 1814 die Maikäferei (genannt nach
dem Wirt des Lokals an der Schloßfreiheit, Mai), eine Tischgesellschaft
ähnlich der Christlich Deutschen Tischgesellschaft. Der Ton unterschied
sich von dieser jedoch gravierend und die Mitglieder waren jünger. Dieser
Gesellschaft gehörten die drei Brüder Gerlach, Carl von Voss, Carl von
Rappard, August Wilhelm Goetze, Friedrich Karl von Bülow, Adolf von Thadden,
Albrecht v. Alvensleben zeitweise auch der jung gefallene Graf Christian
Stolberg und der Dichter Karl Thorbecke an. Die Teilnehmer an der Maikäferei
gehörten zum christlich - konservativen Teil der gesellschaftlichen Gruppierungen,
die liberale Ideen als "französisch" verachteten und den Preußischen
Reformen Hardenbergs und Steins ebenso ablehnend gegenüberstanden, wie
zuvor die Christlich Deutsche Tischgesellschaft. Das Hauptinteresse der
"Maikäfer" wäre nach den Erinnerungen Ludwig v. Gerlachs patriotisch-romantisch-genial-christliche
Poesie gewesen. Man sang Lieder und Brentano - als Mittelpunkt - trug
Gedichte vor.
Prägend für die "Maikäferei" war der in den preußischen Eliten
um sich greifende Neupietismus. Religiös - erbauliche Stimmung und Frömmigkeit
war eine direkte Reaktion auf die Befreiungskriege, in denen viele Teilnehmer
zurück zur Religion gefunden hatten. Die neupietistische Erweckungsbewegung
entwickelte sich in kleinen Zirkeln, entsprechend der katholischen Erneuerungsbewegung
in Münster und Landshut. Ihre Teilnehmer missionierten vornehmlich durch
persönliche Einwirkung von Mensch zu Mensch, die bald soziale Schranken
überschritt und Personen aller Stände erfaßte. An den Bestrebungen der
Berliner Pietisten nahm neben dem Adel auch das hohe Beamtentum Anteil;
der Kronprinz und Nicolovius - der im Ministerium über die Besetzung der
Kirchenämter zu entscheiden hatte - verschafften den pietistischen Kreisen
Einfluß. Leopold und Ludwig Gerlach aber auch Adolph v. Thadden waren
wohl die treibenden Kräfte, sie hatten in jedem Fall später die allergrößte
Wirksamkeit. Wichtig in Hinblick auf Brentano ist der überkonfessionelle
Charakter der Erweckungsbewegungen. Die Mystik war die gemeinsame Quelle,
ob protestantisch oder katholisch. Matthias Claudius und Friedrich Perthes,
Jacobi, Hamann und Nicolovius - er war Erzieher im Hause des konvertierten
Grafen Stolbergs gewesen, - sie alle pflegten enge Beziehungen zum Gallitzinschen
Kreis in Münster und zu Sailer in Landshut. Brentano selbst wendete sich
mehr und mehr der katholischen Erweckungsbewegung zu. Mit dem befreundeten
Sailer und dem ihm bekannten Ringseis nahm er wieder Kontakt auf und vermittelte
deren Briefe über die "Katholische Reformation" an v. Thadden
und Gerlach. Brentano war in der Maikäferei eine ideale Brücke zur Konversion
gebaut, er fand hier einen Nährboden, der seine weitere Entwicklung hin
zum mystischen Katholizismus entscheidend begünstigte.
1816/17 erschien der erste Band der "Restauration der Staatswissenschaft"
des Schweizers Carl Ludwig v. Haller. Hallers antiliberale Staatskonzeption
stieß in der konservativen Abendgesellschaft sofort auf Resonanz, die
sich schnell zur Begeisterung steigern sollte. In Hallers Entwurf verband
sich aristokratisches Standesgefühl mit religiöser Gläubigkeit. In der
ständischen Gliederung der Gesellschaft sah er eine von Gott gegebene
Ordnung, denn sie baute das soziale Leben von der Familie her auf, sie
bot mit dem gebundenen Bodenbesitz ein Moment des Beharrens. Der Staat
ginge aus einem Aufbau aus Familien und Korporationen hervor. Der Souverän
sei nichts anderes, als der größte Fideikommißherr neben den vielen kleineren,
die in ihrem Kreise ähnliche Herren sind, der Staat ist eine Familie im
großen, und der Fürst unterscheide sich von einem anderen Familienvater
nur darin, daß er keinen anderen Oberen über sich hat außer Gott.
Beide Strömungen - Neupietismus und Hallersche Staatslehre - verschmolzen
in der "Maikäferei" und radikalisierten sich. Als Brentano Berlin
1818 verließ, war dies kein Bruch, sondern eine konsequente Zuspitzung,
wobei Brentano den katholischen Weg wählte (den der kirchlichen Suprematie),
während die Gerlachs und andere sich dem protestantisch - preußischen
Neupietismus zuwandten und später politisch den ständischen Konservativismus
repräsentierten.
Konversion und Luise Hensel
Auf einer Abendgesellschaft am 4. Februar 1816 im Savignyschen
Salon erwähnte Ludwig v. Gerlach am Soupertisch, daß er im April des vergangenen
Jahres die stigmatisierte Nonne in Dülmen besucht habe, was Brentano tief
berührte, der hier zum ersten Mal etwas von Anna Katharina Emmerick hörte,
so daß er auffuhr "Was? Das haben Sie gesehen und sitzen hier noch
und essen?" Gerlach:" Solchen Eindruck hätte ich nicht von derartigen
Wundern; wir seien ja rings umgeben von größeren Natur- und Geisteswundern
usw. Er fand dies kühl, altklug, prosaisch und machte ein Spottgedicht
auf mich, worin er mich sagen läßt:
Daß ich nicht wüßte,
Denn vieles ist kurios,
So meiner Mutter Brüste
Wie meiner Mutter Schoß
Die kränkte mich sehr - besonders als Goetze behauptete, in diesem Ton
hätte ich wirklich gesprochen. Es war mir tiefer Ernst mit meiner Antwort"
Gerlach befand sich1815 mit Stolberg in Blüchers Armee auf dem Weg nach
Ligny - Waterloo. Chr. Stolberg ist in der Schlacht bei Belle Alliance
gefallen. In seinem Tagebuch vom 9./ 10. April berichtet Gerlach: In Dülmen
besuchten wir (Chr. v. Stolberg u. Gerlach) die stigmatisierte Nonne,
sahen aber nur ein alltäglich weibliches Wesen auf einem Bette liegen,
die Wundmale verbunden; sie segnete Christian mit wenigen leisen Worten"
Das Thema "Emmerick" scheint Brentano im weiteren nicht besonders
interessiert zu haben. In höheren Kreisen nahm man jedoch von der Dülmener
Nonne Notiz, nachdem der Theologe und Arzt Dr. Johann Christoph Friedrich
Baehrens ein Buch über den "animalischen Magnetismus" herausgab,
welches einiges Aufsehen erregte. Dieses Friedrich Wilhelm IV gewidmete
Buch brachte den Fall Emmerick in Zusammenhang mit dem "tierischen
Magnetismus", eine Lehre, die eine späte Frucht der Aufklärung darstellte,
doch dazu später. Der "Streit um die Erscheinungen bei der Dülmener
Nonne Anna Katharina Emmerick" hatte damit Berlin erreicht und forderte
die staatlichen Autoritäten heraus.. Brentano wurde auf Baehrens Buch
von seinem Bruder Christian in einem Brief vom 13. Februar 1817 hingewiesen.
In einem weiteren Brief vom 17. Februar kündigte der Bruder seine Absicht
an, die stigmatisierte Nonne in Dülmen zu besuchen. Christian selbst hatte
sich zuvor mit den in Mode gekommenen "magnetischen Kuren" befaßt
und ließ sich auch mit dieser Methode behandeln. Im April 1817 erschien
er in Dülmen und blieb für drei Monate am Bett der kranken Nonne, an der
er magnetische Experimente vornahm.
Brentano hatte unterdessen im Oktober 1816 die frömmelnde Pastorentochter
Luise Hensel kennengelernt. Die Beziehung zur Hensel sollte unmittelbar
zu seiner Konversion und zu seinem Abschied aus Berlin nach Dülmen führen.
Am 10. Oktober besuchte Brentano eine Donnerstagssoiree im Hause des Staatsrates
Staegemann, dem alten Bekannten von der Christlich Deutschen Tischgesellschaft.
Veranstalter waren die Töchter, zu deren Freundinnen Luise Hensel gehörte.
Ob Brentano an diesem Abend auf Luise Hensel aufmerksam wurde ist unklar,
es gibt verschiedene Auskünfte. Den 38jährigen Brentano jedenfalls erinnerte
die 18jährige Hensel an seine Schwester Sophie.
Luise Hensel war die Tochter einer Pfarrerfamilie aus Linum und Schwester
des späteren preußischen Hofmalers Wilhelm Hensel. Nach dem Tod des Vaters
geriet die Familie in Not und zog im gleichen Jahr nach Berlin, wo Luise
kurz die Realschule besuchte. In dieser Zeit mußte sie zur Ernährung der
Familie beitragen. Die Mutter schien etwas sonderlich, sie schrieb Briefe
an ihr Ungeborenes und Selbstgespräche mit verstorbenen Familienmitgliedern
scheinen im Haushalt üblich gewesen zu sein. Luise war früh religiös interessiert,
entsprechend ihrer Unreife eher in einer gefühlsmäßigen Weise und war
ganz dem romantischen Zeitgeschmack entsprechend der protestantischen
Erweckungsbewegung zugetan. Um 1815/16 gehörte sie mit den Brüdern Gerlach,
A. W. Goetze, K. F. v. Savigny, F. K. Bülow einer kleinen pietistischen
Gemeinde an, die sich besonders um den Pastor Hermes geschart hatte. Zum
Zeitpunkt, als Brentano sie kennenlernte, stand Luise Hensel also seiner
Geisteshaltung auch über die Personen seines Freundeskreises sehr nahe.
"An Leib und Seele liebestrunken" trug sich Clemens Brentano,
bald nachdem er Luise Hensel kennengelernt hatte, mit dem Gedanken, sie
zu heiraten. Im Jahre 1816 hatte sich seine zweite Frau, Auguste Bußmann,
von der er seit 1811 gerichtlich geschieden war, wieder verheiratet. Brentano
konnte auch nach seinem katholischen Empfinden wieder eine Ehe eingehen,
war dafür sogar bereit, seine Konfession zu wechseln. Für Brentano war
die Verliebtheit eine Erlösung aus seiner depressiven Grundstimmung, er
empfand sie als Geschenk Gottes, entsprechend stark war sein Engagement
in der Affaire. Ende 1816 wurde Brentanos Werben um Luise Hensel immer
drängender und unnachgiebiger. Im Dezember war Luise Hensel schwer krank,
Brentano war vermutlich lange Zeit allein um sie, die Mutter weilte zwischen
November 1816 und Januar 1817 bei Luisens todkranken Schwester in Stettin.
Einen ersten verschlüsselten Heiratsantrag machte Brentano am Heiligen
Abend 1816, den er mit ihr und Wilhelm Müller gemeinsam verbrachte. Luise
Hensel war den Heiratswünschen nicht von vornherein abgeneigt, um den
erotischen Aspekt der Beziehung herrscht nach wie vor Unklarheit, weil
große Teile des Briefwechsels von Luise Hensel im Alter vernichtet wurden.
Bettine war jedoch überzeugt, Luise wäre Clemens' Konkubine. In Luise
Hensels Aufzeichnungen zwei Jahre später distanzierte sie sich völlig
von erotischen Ansprüchen Brentanos, diese ihre Ehe würde kinderlos und
keusch sein. Sowohl Luise Hensels Angehörige als auch die Mehrzahl von
Brentanos Verwandten waren bald eifrigst bemüht gewesen, einer Ehe der
beiden entgegenzuwirken und zu verhindern: "Meine Mutter", schrieb
Luise Ende 1816 an Brentano "...hält Dich nicht für gut, sie hat
aus Deinem Leben manches gehört, was sie für wahr hält, manche Schuld,
die ich Dir nicht zutrauen kann.....Meine Schwester ist auch argwöhnisch
und wird nicht verstehen, wenn ich ihr auch die Wahrheit sage." Trotz
der Vermittlungsbemühungen Wilhelm Hensels steigerte sich Frau Hensels
Abneigung gegen Brentano nach ihrer Rückkehr aus Stettin immer mehr, bis
zum brennenden Haß. Ende Januar unternahm Brentano einen zweiten Versuch
um die Hand Luisens anzuhalten, er wurde jedoch abermals von der Mutter
zurückgewiesen.
Die Zurückweisung der Hensels hatte Brentano äußerst schwer getroffen
und ihn offensichtlich in die Schwermut zurückgetrieben. Schon seit Anfang
Dezember nahm er nicht mehr an den Sitzungen der "Maikäferei"
teil, er befand sich letztlich in einer Sackgasse. So entschloß er sich
in den ersten Wochen des Februars 1817 zur "Umkehr" und legte
am 27. Februar bei dem Probst Taube, Vorsteher der katholischen Gemeindekirche
zu St. Hedwig in Berlin, seine Generalbeichte ab. Am 24. Januar 1817 hatte
schon Christian Brentano die Generalbeichte abgelegt, ein katholisches
Procedere, mit welchem üblicherweise das weltliche Leben beschlossen wird
und eine Ordens- oder Klerikerlaufbahn beginnt. Im Fall Christians und
unmittelbar darauf Clemens' bedeutete dies - beide waren katholisch -
die Anerkennung des Absolutheitsanspruch der katholischen Kirche. Die
Generalbeichte war in diesem Sinne eine Konversion, nun nicht von einer
Religion zur anderen, sondern eine Abwendung von der weltlichen Orientierung
- weg von der Kirche des Poetischen, weg von jeglicher Akzeptanz weltlicher
Ansprüche hin zum Ritus der Kirche unter Einschluß ihrer Heiligenverehrung
und mystischen Verklärungen. Genau hier liegt die Spannung für Brentano
im Fall Emmerick. Sein engagierter Einsatz gegen die staatliche Untersuchung
ebenso wie sein propagandistisches Wirken in und nach Dülmen sind in erster
Linie aus seiner Konversion zu erklären. Die Konversion selbst war jedoch
nicht Folge einer rationalen, intellektuellen Entscheidung, sondern ist
vor allem aus der psychischen Struktur des Lyrikers zu erklären, einer
Gesamtentwicklung, die in eine seelische Katastrophe führte. Brentano
selbst nannte den Vorgang "seelischen Konkurs". Brentano fand
in der Anlehnung an den Glauben eine Stütze, die er seit den Heidelberger
Tagen entbehren mußte, aber erst Dülmen, der Rückzug aus der Welt, wird
für ihn eine wirkliche Entspannung bringen. Den letzten Anstoß zu dieser
Entscheidung gab die Zurückweisung der Hensels, wobei ihn Luise zur Generalbeichte
drängte, sei es um sich seiner Klagen zu entledigen, sich vor seinem Drängen
Luft zu verschaffen oder ihm überhaupt wieder irgendeine Richtung zu geben.
Brentano seinerseits drängte Luise Hensel nach der Generalbeichte zur
Konversion zum Katholizismus.
In Brentanos Freundeskreis wurde die Verbindung mit Luise Hensel Anfang
Februar bekannt und eher kritisch betrachtet. Sie galt als verdrehtes
Ding, der Liäson wurden keine Chancen eingeräumt. Auch die Konversion
selbst fand kaum Beachtung. "Ich finde nicht", bemerkte Gerlach
viele Jahre später zu dieser Tagebuchnotiz, "daß dieses doch so bedeutende
Faktum auf unseren Kreis einen besonderen Eindruck gemacht hätte".
Im November 1817 kam Christian Brentano zu seinem Bruder nach Berlin,
nachdem er sich im Sommer drei Monate bei der stigmatisierten Emmerick
in Dülmen aufgehalten hatte. In Berlin lernte Christian Luise Hensel kennen,
zu deren Konversion er nicht unwesentlich beitrug.
Nach der Konversion blieb die Beziehung zur Hensel eine reine Seelengeschwisterschaft,
die allerdings einige literarische Auswirkung haben sollte. Brentano äußerte
im August 1818 Gerlach gegenüber, sie sei von allen, die er gekannt hatte,
die Ausgezeichnetste und Tiefste. Seit zwei Jahren sähe er sie täglich.
Mit ihr hatte, ähnlich wie mit Sophie Mereau und Arnim eine schriftstellerische
Produktion im Sinne der romantischen Kontamination eingesetzt. In den
literarischen Produkten der Hensel sind kaum ihre Anteile oder die Brentanos
herauszufiltern. Luise Hensels bekanntestes Gedicht ist das "Müde
bin ich, geh zur Ruh'", andere sind weitgehend in Vergessenheit geraten,
vermutlich, weil sich ihre naiv - pietistischen Anschauungen schon lange
überlebt haben und niemanden mehr berühren, außer vielleicht einige Germanisten.
Um Luise Hensel warben nach Brentano weiterhin junge Männer der Gesellschaft.
Ihre Zuneigungen galt aber vor allem Ludwig v. Gerlach. Ob Gerlach diese
Zuneigung spürte und erwiderte ist umstritten.
Durch den Besuch Christian Brentanos sind die Dülmer Ereignisse für den
Kreis um Brentano noch einmal aktualisiert worden. So verfaßte Achim von
Arnim eine Romanze mit dem Titel "Heilige Zeichen". Das Gedicht
veröffentlichte er in der Wünschelruthe (Nr.45, 9.2.1818), eine Publikation,
an der neben Arnim auch Brentano und die Grimms mitarbeiteten. Inzwischen
hatte sich der Fall der Emmerick zu einem Gegenstand des öffentlichen
Interesses auch in Berlin ausgeweitet. In der "Wünschelruthe"
Nr. 52 vom 29. Juni erschien eine Nachricht über die "Nonne von Dülmen":
"Im Städtchen Dülmen im Münsterlande", heißt es in dem Aufsatze,
"lebt eine gewesene Nonne Catharina Emmerich, die nach Aufhebung
ihres Klosters (Agnetenberg in Dülmen) zu ihrer Schwester daselbst gezogen
ist. Diese hat jetzt schon seit sechstehalb Jahren an ihrem Körper die
sogenannten Wundmale ... Sie ist 40 Jahre alt, sehr mager, hat ein eingafallenes
Gesicht, das sehr weiß, sehr lieblich und fromm, und schöne sanfte Augen.
Ihr früherer Lebenswandel ist unbescholten, sie ging früh ins Kloster
und war immer still und freundlich, lebte sehr fromm und hielt viel auf
die strengern Andachtsübungen. Schon im Kloster kränklich, ward sie bald
nach Aufhebung desselben bettlägerig." Sie aß fast nichts, behielt
keine Nahrung, außer dem heil. Abendmahl bei sich, das Volk sah darin
Wunder. Die französische Regierung veranlaßte 1813 eine Untersuchung und
Bewachung der Nonne durch 30 rechtliche Bürger unter Aufsicht eines Arztes.
Ihr Bericht und eidliche Bekräftigung ist in dem Vicariatsarchiv zu Münster
niedergelegt. Auch andre Aerzte untersuchten sie. Als ein hoher münsterscher
Geistlicher bei einer Audienz beim Papste von ihr erzählte, hat dieser
sich alles auf das genaueste berichten lassen, darauf aber gesagt, man
müsse die Zeit erwarten und vor Trug sich ernstlich hüten.".
Im Spätsommer 1818 drängte Luise Hensel, wohl weil seine Gegenwart ihr
zu bedrängend wurde, Brentano dazu, eine Einladung des Grafen Friedrich
Leopold Stolberg zu dessen Gut Sondermühlen anzunehmen. Der Sohn des Grafen,
Cajus Stolberg, gehörte in den Umkreis der "Maikäferei". Er
notierte dazu in seinTagebuch am 14. September 1818:
Brentano will nach Münster und zum Grafen Stolberg. Gestern war er empört
über das neue Verfahren gegen die Dülmer Nonne:"Die Königl. Preußische
Regierung in Münster - zwei Geistliche wären gewonnen, die ihr das Urteil
vorher gemacht. Es wäre unendlich, was über einer solchen Quälerei an
inneren Gnaden verloren ginge - sie fühlte die inneren Schmerzen: 'Siehst
Du, warum hast Du's jemanden gesagt.' Protestanten sollten keine katholischen
Untertanen haben - sie sollten auseinander. Durch dies und ähnliches Benehmen
der preußischen Behörden und durch das Reformationsfest sei dort und am
Rhein die Spannung auf das höchste gestiegen."
Der Propagandist
Brentano kam am 24. September 1817 in Dülmen an, nachdem
er zuvor den Grafen Stolberg auf dessen Gut Sondermühlen nahe Bielefeld
besucht hatte. Am 23. September war er in Münster, wo er Bernhard Overberg
aufsuchte. Sailer, den Spiritus Rector der Erweckungsbewegung in Landshut,
hatte er dort verpaßt. Brentano kannte Sailer aus seiner Landshuter Zeit
über Savigny, der bevor er 1810 nach Berlin ging in Landshut zum Professor
berufen worden war. In den Jahren zuvor hatte Brentano die Bekanntschaft
wieder aufgefrischt, im übrigen blieb Brentano über Apollonia und Melchior
Diepenbrock mit Sailer verbunden. Die Bedeutung Sailers und Diepenbrocks
kann für die katholische Erneuerungsbewegung kaum überschätzt werden.
Sailer war im September in Münster, suchte die bettlägerige Emmerick in
Dülmen aber erst ende Oktober auf. Diepenbrock und Sailer zusammen sandten
an die Emmerick im Jahr 1821 sogar einen Brief, indem Diepenbrock bedauerte,
sich nicht an ihr erbaut zu haben.
In Dülmen blieb Brentano entgegen seiner ursprünglichen Absicht längere
Zeit. Er mietete sich dort ein und besuchte die Kranke zweimal täglich.
In der Zeit bis Weihnachten machte er Aufzeichnungen für Luise Hensel,
die eine Fülle biografisches Material der Emmerick enthalten. Er nannte
diese "Ein Tagebuch für Luise Hensel", seine Intention dabei
war, Luise Hensel zur Konversion zu bewegen oder diesen Prozeß zu beschleunigen.
Für seine andauernde Anwesenheit in Dülmen fügten sich für Brentano verschiedene
Motive zusammen:
- mit Luise Hensel und Anna Katharina Emmerick gemeinsam
ein heiligenmäßiges Leben zu führen
- in der Auseinandersetzung gegen Aufklärung und preußischem
Staatsanspruch im Sinne der katholischen Erweckungsbewegung propagandistisch
tätig zu werden
- eine Lebensaufgabe zu finden, indem er mithilfe der
Emmerick eine Heiligenvita in Arbeit nahm
- und als nicht mindestes, zur Ruhe zu kommen, seinen
Depressionen zu entfliehen, indem er eine politisch-religiös verkleidete
"Auszeit" zu nahm.
Brentano sitzt begeistert am Krankenbett, protokolliert jeder Regung und
Äußerung der Kranken. Von den Blutungen nimmt er Abdrücke und verschickt
sie. Die Extasen der Nonne lassen sich von ihm in gewünschte Richtungen
lenken, ebenso die Visionen.
Ein wichtiger Gegenstand der Gespräche Brentanos mit der exklaustrierten
Nonne war - natürlich - Luise Hensel. Die überkommenen Tagebücher Brentanos
sind "purgiert", also von jeder intimen Aufzeichnung Brentanos
über Luise Hensel gesäubert. Brentano spricht in dieser Zeit von sich
als Pilger, die Emmerick bezeichnet er als Leidensbraut. Brentano versuchte
über das "Medium" Anna Katharina Emmerick die "Braut",
Luise Hensel", zum Kommen und zur Konversion zu bewegen. In beidem
wird er enttäuscht. Die "magischen Kräfte" der Emmerick reichen
nicht aus, auch ihre "Gesichte" sind schlicht falsch. Echt ist
allein die Hoffnung Brentanos. Als diese enttäuscht wird, weil Luise Hensel
heimlich, hinter seinem Rücken konvertierte, fuhr er im Dezember 1818
nach Berlin zurück. Wenige Tage nach seiner Abreise verschwinden die Blutungen
der Nonne.
Brentano kehrt zwar bald nach Dülmen zurück, doch seine ursprünglichen
Pläne sind zerstört. Zwar hält sich Luise Hensel in der Nähe Dülmens auf,
sie wird Erzieherin im Hause Salm (in Horstmar), das Zerwürfnis ist aber
so eindeutig, daß es nur noch lose Kontakte gibt.
Brentano ist über sein weiteres Wirken noch unschlüssig. Zunächst einmal
politisiert er, wird deswegen sogar ausdrücklich von der Teilnahme an
der staatlichen Untersuchung im August 1819 ausgeschlossen, quasi des
Landes verwiesen. Er verfaßte empört einen Bericht über die staatliche
Untersuchung. Die Resonanz in der Öffentlichkeit bleibt gering. Zum anderen
beginnt er mit der Arbeit an der Geschichte Jesu, in der ihm die Emmerick
als Stichwortgeberin dient. Sie ist von diesem Verfahren sehr angestrengt,
schließlich muß sie unentwegt als Medium zur Verfügung stehen und hysterische
Extasen, die nicht aus sich selbst herausbrechen, sind auf Dauer strapaziös.
Die Begeisterung Brentanos und auch der Emmerick kühlt langsam ab. Brentanos
Wunsch ist es, sein Werk fertig zu stellen, seinen Werkplan zu erfüllen.
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