Biografisches
Anna Katharina Emmerick berichtete in den fünf Jahren ihrer Zusammenkünfte
mit Brentano nicht nur ihre Visionen, sondern gab auch ein Bild ihrer
Herkunft und Entwicklung. Die schriftliche Niederlegung der Texte sind
eine Redaktion Brentanos, der besonderes Gewicht auf einen heiligenmäßigen,
innerlichen Lebenslauf legt. Die äußeren Fakten sind unterdes gesichert,
da sie nicht nur auf Angaben der Emmerick beruhen, sondern schon in den
Akten der kirchlichen Untersuchung erscheinen und zudem in amtlichen Dokumenten
nachgeprüft werden können. Unsicher sind die Angaben, die das innere Leben
der Emmerick betreffen, da sie je nach Befragungssituation abweichen oder
schon Teil einer hagiografischen Interpretation sind.
Anna Katharina Emmerick wurde am 8. September 1774 in der Bauernschaft
Flamske im Kirchspiel Jakobi, eine halbe Stunde Fußweg vor Coesfeld geboren.
Sie wuchs bei ihren Eltern auf, welche Kleinbauern (Kötter) waren, in
einem der letzten beiden großen Bauernhöfe vor Coesfeld. Als Brentano
nach ihrem Tod die Geburtsstätte der Emmerick aufsucht, findet er "eine
baufällige von Lehm zusammengeknetete mit altem bemoosten Stroh gedeckte
Scheune. Als ich durch das geflickte halboffene Scheunenthor hineintrat,
stand ich in einer Rauchwolke, in welcher ich kaum einen Schritt weit
vor mich hin irgend Etwas erkannte. ... In dem leeren viereckigen Raum
des Hauses fand ich keine Stube, was man so nennen kann, ein Winkel abgeschlagen,
worin der plumpe bäuerische Webstuhl des einen Bruders stand, einige alte
von Rauch geschwärzte Laden zeigten so man sie öffnete, in große Bettladen
voll Stroh, auf welchen einige Federkissen lagen, da schliefen die Leute,
auf der entgegengesetzten Seite schaute das Vieh hinter Pfählen hervor.
Alle Geräthschaften stehen und hängen umher, oben von der Balkendecke
hangen Stroh und Heu und Spinnweb voll Rauch und Ruß herab und das ganze
war undurchsichtig voll Rauch."
Die Familie war seit langem in der Landschaft ansässig, von der Großmutter
berichtet sie, sie sei die Tochter eines großen Bauern gewesen und hätte
im Siebenjährigen Krieg ihr Geld bei dem Emmerickschen Haus vergraben.
A. K. Emmerick arbeitete bis zu ihrem Klostereintritt immer wieder als
Saisonhilfe in der Landwirtschaft des Onkels väterlicherseits mit. Dieser
Onkel, Gerhard Emmerick, bewirtschaftete den vererbten Hof, während der
Vater ein kleineres Stück Land aus dem Emmerickschen Hof erhalten hatte.
Die Eltern waren Erbpächter des Kottens, in dem sie Vieh hielten. Sie
hatten insgesamt zwölf Kinder, von denen eins tot geboren wurde. Anna
Katharina Emmerick beschreibt die Eltern als fromm, einfach und arm. Der
Vater hätte sich ungemein in seiner Armut geplagt, sei trotzdem von heiterem
aber ernsten Verstand gewesen. Müßiggang verabscheute er und drohte dem
Kind, daß im Bett liegen bei Sonnenschein üble Krankheiten bringe, worüber
Haus und Hof, Land und Leute zugrunde gingen (was für Anna Katharina Emmerick
dann ja auch eintraf). Anna Katharina Emmerick fürchtete sich als Kind
sehr vor diesem Fluch des Vaters (sie schliefe ja dort, wo kein Sonnenstrahl
hinkäme).
Lesen lernte Anna Katharina Emmerick angeblich von ihrem Vater, Religionsunterricht
erhielt sie von einem frommen Bauern, der nebenbei Kinder gegen Entgelt
unterrichtete. Sie sei aber nicht oft in der Schule gewesen, zu Hause
wäre immer allerlei zu tun gewesen. Möglich scheint, daß die Verhältnisse
es der Familie nicht gestatteten, alle Kinder für je einen Groschen zum
Unterricht zu schicken. An diesem Punkt schweift der Bericht ab, geht
dahin, daß sie sich ohnehin nicht aufs Lesen konzentrieren könne und sie
auch nicht wisse, wo ihre Kenntnisse herkämen. In Bezug auf Religion scheint
ihre Erziehung äußerst streng gewesen zu sein. Sie und ihre Geschwister
hätten schon als Kinder an den Faßnachtstagen täglich vier Vaterunser
mit ausgebreiteten Armen auf dem Angesicht liegend beten müssen, für die
Unschuld, die an diesen Tagen verführt wird. Der Wahlspruch ihrer Mutter
lautete: "Herr, wie Du willst und nicht, wie ich will" und "Herr
gib Geduld, und dann schlag tüchtig zu". Dieses Motto hatte Anna
Katharina Emmerick auch für ihr Leben übernommen.
Anna Katharina Emmerick mußte schon früh bei der Arbeit mithelfen: "Sommers
und Winters setzte er (der Vater) mich vor Tagesanbruch, dem Bett hinaus
mit bloßen Füßen an die Erde, da rieb ich mir die Augen und mußte hinaus
in den Kamp das Pferd zu suchen, es war dies ein böser Gaul, er schlug
und biß.... . ...Wenn gleich klein und zart gebaut, brauchte man mich
bald zu Hauß, bald bei den Emmricks in schwerster Feldarbeit, und es mußte
sich immer treffen, daß ich zu den schwersten Arbeiten kam, ich weiß wohl,
daß ich in einer Arbeit zwanzig Fuder Getreide auf den Wagen aufgenommen
ohne Rast und schneller, als der stärkste Knecht. Auch beim Schneiden
und Binden mußte ich sehr stark dran"
Die Eltern gingen rüde mit ihr um: "... der Versucher ... machte
sie (die Mutter) eine Zeitlang ganz irr über mich, so daß sie widerwärtige
Gedanken von mir kriegte, mich oft unschuldig strafte und hin und her
stieß". "Weil mich nun meine Eltern oft schmähten und nie lobten,
ich aber doch oft andere Kinder von ihren Eltern loben hörte, so hielt
ich mich für das schlechteste Kind der Welt". Jedenfalls hegte sie
schon als Kind den Wunsch, in Männerkleidern zu fliehen, was sie dann
als 18-jährige auch in die Tat umzusetzen suchte. Alles weist darauf hin,
daß sie ihre Kindheit nicht als glücklich empfand und die Ursache darin
sah, daß sie ein Mädchen war und von armer Herkunft.
Insgesamt vermittelt die Emmerick ein düsteres Bild ihrer Kindheit. Sie
glaubte, sie sei das schlechteste Kind auf der Welt, sie wurde oft bestraft,
nie gelobt und auch die Mutter würde sich über sie zu Tode grämen. Es
wird von Schlägen und einer harten Behandlung durch die Mutter berichtet.
Die harte Behandlung durch die Eltern ist in den bäuerlichen Verhältnissen,
in denen die Emmerick aufwuchs, sicherlich nichts ungewöhnliches gewesen.
Zentral für die familiären Beziehungen war die Lebenssicherung, der wirtschaftliche
Beitrag, den jedes Familienmitglied für das ganze Haus leisten konnte.
Die innere Flucht aus den lieblosen Verhältnissen ging angeblich schon
früh in die Richtung religiöser Empfindungen. Die Emmerick weist ihrer
Kindheit merkwürdige und unerklärliche Vorfälle zu, was aber mögliche
spätere Umdeutungen sein können.
Wichtig scheint eine Notiz Brentanos, die einen Hinweis auf den Ursprung
des Wunsches der Emmerick Nonne zu werden, gibt. "Mein Vater hat
das Gelübde gemacht, alljährlich ein fettes Kalb in das Annunciatenkloster
in Koesfeld zu schenken. Wenn er das Kalb dahin brachte, pflegte er mich
mitzunehmen. Kamen wir nun in's Kloster, so trieben die Nonnen mit mir
kindischen Scherz. Sie setzten mich ins Drehfenster, und drehten mich
bald zu sich in's Kloster, mich zu beschenken, bald drehten sie mich wieder
hinaus, mich scherzhaft fragend, ob ich nicht bei ihnen bleiben wollte.
Ich sagte immer ja, und wollte nicht wieder fort. Da sagten sie dann:
das nächstemal wollen wir dich behalten. So klein ich war, so gewann ich
doch eine Liebe zu diesem Kloster, in welchem noch eine gute Ordnung herrschte.
Hörte ich die Glocken der Klosterkirche, so betete ich in der Meinung,
meine Andacht mit den frommen Klosterleuten zu vereinigen, und so bekam
ich einen innern lebendigen Bezug auf das Annunziatenkloster" Ob
der Vater wirklich ein Kalb verschenkte, scheint etwas zweifelhaft angesichts
der Armut der Familie. Die Details der Schilderung des Klosterbesuchs
sind farbig und konturiert, so daß eine gewisse Glaubwürdigkeit nicht
abgesprochen werden kann. Wenn die Schilderung authentisch sein sollte,
könnte hier einer von mehreren Schlüsseln für die Entscheidung der Emmerick
ins Kloster zu gehen, gefunden sein. Ein anderer Grund war vermutlich
die Spannung zu den Angehörigen. Aus derselben Quelle (s.o.) erfahren
wir "Schon als Kind 'that ich das Gelübte, Nonne zu werden, und wollte
Anfangs zu den Annunciaten, aber ich dachte bald, ich wollte ganz weit
von den Meinigen weg' " Es ist nicht nur ungewöhnlich, als Kind Gelübde
(wem gegenüber?) abzulegen, noch ungewöhnlicher ist es, sich solcher Kindereien
zu erinnern oder gar auszuführen. Darin ist der Text unglaubwürdig. Ein
Körnchen Salz ist dennoch zu finden, nämlich der Wunsch, sich der Verwandtschaft
und besonders den Ansprüchen der Eltern zu entziehen. Hier scheint ein
typischer Konflikt auf, der bei allen asketischen heiliggesprochenen Frauen
der Neuzeit zu finden ist, das Ringen um Autonomie, die Flucht aus der
zugedachten Rolle als Reproduzentin der Familie. Kurz, die Flucht vor
der Rolle als Gebärerin und Frau.
Immer wieder sprach sie über ihre Abscheu gegen das "Heurathen",
daß jemand in ihrem Bett schlafen würde. Mit 16 oder 17 Jahren störte
sie ein nächtliches Stelldichein einer bäuerlichen Freundin mit deren
Burschen. Anna Katharina Emmerick gab am nächsten Morgen vor, die Situation
geträumt zu haben, die Freundin ging darauf ein, schließlich ersparte
das Erklärungsnotstände. Die Versuche der Eltern, sie zu verheiraten,
lehnte sie ab. Da es einen Bewerber gab, schien ihr Zustand noch nicht
geschwächt oder gar kränklich gewesen sein.
Mit 18 Jahren erhält Anna Katharina Emmerick die Firmung und hat "einen
Hang zur Eitelkeit", was sie als schlimmste Zeit betrachtete. "...ich
liebte fein zu sein, ich sah gern in den Spiegel, wenn ich ein schönes
Mädchen sah, dachte ich wohl, ach sähst du so aus, ich fühlte das Unrecht,
ich rang dagegen, ich sah statt zum Spiegel in einen Brunnen oder Eimer
oder Pfütze". Aus ihren Worten läßt sich die Ambivalenz ihrer Gefühle
spüren, einerseits sexuellen Wünschen nachzugeben, andererseits sich diesen
Wünschen zu verweigern. Anna Katharina Emmerick beschloß aus Abneigung
gegen eine Ehe, ihren religiösen Neigungen zu folgen und in ein Kloster
zu gehen. Sie wurde dabei von ihrem Beichtvater unterstützt, traf aber
auf den entschlossenen Widerstand ihrer Familie. 1799 begehrte sie Aufnahme
bei den Trappistinnen in Darfeld, dann bei den Clarissinnen, wurde aber
wegen ihrer Armut abgewiesen. Im Trappistenkloster wurde sie einige Tage
zur Probe aufgenommen. Es handelte sich um ein neugegründetes Kloster
von aus Rußland vertriebenen Trappistinnen. Von 71 Bewerberinnen wurden
60 angenommen, Anna Katharina Emmerick war unter den 11 abgewiesenen.
Schon zu dieser Zeit hatte sie "außerordentliche Seelenzustände";
sie muß im Kloster derart unangenehm aufgefallen sein, daß die Äbtissin
ernste Störungen im Zusammenleben befürchtete. Der Ablehnungsgrund war,
wie er überliefert ist, die Unangepaßtheit der Emmerick und nicht in erster
Linie ihre Armut. Hier liegt ein deutliches Indiz für das frühe Auftauchen
hysterischer Verhaltensformen vor. Die spätere Ablehnung durch ihre Mitschwestern
in Agnetenberg kann m. E. auch auf das hysterische Verhalten der Emmerick
zurückzuführen sein und nicht nur auf die Armut. Die Armut als Grund für
die Ablehnung ist möglicherweise eine Interpretation, die das Eigenverschulden
der Emmerick auf die Schwestern verschiebt (s.u. 7.3 Hysterie und 7.4
Vers. psych. Deutung)
Anna Katharina Emmerick hatte nach eigenen Angaben von ihrer Mutter das
Nähen gelernt und wurde von ihren Eltern in Coesfeld als Näherin verdingt.
Sie absolvierte von 1789 bis 1793/94 eine Art Lehrzeit bei Elisabeth Krabbe
in Coesfeld. Vermutlich handelte es sich um eine Zuarbeit zur selbständig
in Heimarbeit produzierenden Krabbe. Zuliefernde Heimarbeit war am Niederrhein
und in Westfalen ein üblicher Neben- und Haupterwerb. Es wurde in erster
Linie Leinen auf manuellen Webstühlen hergestellt (daher der Webstuhl
in den Bauernkaten, s.o.), oder wie im Fall Emmerick wurden Stoffe weiterverarbeitet.
Nach der Umstellung auf Baumwolle verlor das Gewerbe an Boden. Die Arbeit
bei der Krabbe gab sie wegen einer Krankheit auf, wobei es unklar bleibt,
um was für eine Krankheit es sich gehandelt haben könnte. Sie kehrte also
in ihr Elternhaus zurück. Von dort aus arbeitete sie als Erntehelferin
auf dem nahegelegenen Hof der Verwandten und als Wandernäherin.
Schließlich fand sie 1799 zum Kantor Söntgen, welchen sie um eine Ausbildung
als Organistin bat, weil die Klarissinnen meinten, sie würden A. K. Emmerick
als Organistin aufnehmen.. Dieser nahm sie auf und die Emmerick fand in
der Tochter des Kantors, Klara Söntgen, eine Freundin. Sie beschlossen
gemeinsam ins Kloster zu gehen und der Kantor versprach, sich um Aufnahme
beider zu bemühen. Hier gibt es in der Lebensgeschichte eine Ungereimtheit.
Völlig dunkel bleibt, aus welchen Motiven Söntgen die Emmerick aufnahm,
welche Arbeiten sie dort ausführte, wie sie ihren Lebensunterhalt bestritt
und warum sich der Kantor so vehement für den gemeinsamen Eintritt beider
Frauen ins Kloster einsetzte. Aus der Zeit bei Söntgen hingen ihr schwerwiegende
Probleme nach. Nach ihren Angaben will sie für ihn um zehn Taler gebürgt
haben. Anderen Angaben zufolge ist Söntgen selbst der Gläubiger, was einleuchtend
erscheint. Söntgen wird Unterkunft, Verpflegung und Ausbildung nicht gratis
gewährt haben. Die Schulden an Söntgen verhinderten fast die Ablegung
des Profeßeides, weil sich das Kloster weigerte, für die Schulden geradezustehen.
Genaues aus der Zeit bei Söntgen ist nicht zu erfahren, es bleiben Mutmaßungen.
Die Freundinnen versuchen bei verschiedenen Klöstern Aufnahme zu finden.
Nach einigem hin und her gelingt es ihnen, am 13. November 1802 im Augustinerinnenkloster
Agnetenberg zu Dülmen als Novizinnen unterzukommen, im Falle der Emmerick
mit "einiger Abneigung". Das Kloster suchte eine Organistin
und Lehrerin für die Klosterschule, wofür Clara Söntgen die Voraussetzungen
mitbrachte. Der Kantor konnte erreichen, daß mit Clara auch Anna Katharina
aufgenommen wurde. Die Familie der Emmerick wendete sich strikt gegen
ihre Entscheidung und weigerte sich eine Aussteuer zu stellen. Anna Katharina
Emmerick war 28 Jahre alt, für eine Ehe fast zu alt, die Zukunft nur durch
das Kloster gesichert.
Der Eintritt in das Augustinerinnenkloster Agnetenberg schaffte für Anna
Katharina Emmerick den sozialen Aufstieg, soziale Sicherung und eine Alterssicherung.
Daß diese Sicherung gar nicht so sicher war, kann man dem ersten Teil
der Arbeit entnehmen. Im August 1802 waren schon preußische Truppen in
Münster einmarschiert, der Herzog von Croy wurde neuer Landesherr in Dülmen
und zivilrechtlicher Besitzer des Klosters samt dessen Eigentum. Klosteraufhebungen
überall im Reich standen bevor. Die Dinge wandelten sich in den Wirren
der Zeit, die Zukunft des Klosters war keineswegs gesichert.
Vor allem aber hatte sich die soziale Struktur der Klostergemeinschaft
verändert. Adlige waren unter den nur 11 Schwestern nicht aufzufinden,
alle waren Bürgerlich. Die Lebensgewohnheiten der Schwestern sollen nicht
eben streng den Regeln entsprochen haben. Gütergemeinschaft wurde nicht
praktiziert, es scheint, daß auch ein Teil der Mahlzeiten aus eigener
Tasche bezahlt werden mußte. Der Domdechant Rensing führte 1810 eine Visitation
durch, in der die lauen Klostersitten bemängelt wurden Schon 1799, kurz
vor dem Eintritt der Emmerick, hatte eine Visitation stattgefunden. Aus
den Protokollen geht hervor, daß der Konvent übel zerstritten war. Die
Schwestern baten um Vergeben und Vergessen des Vergangenen und versprachen,
zukünftig in Freundschaft und Liebe miteinander zu leben. Sollten die
Schwestern sich aber nicht an ihr Versprechen halten, drohte der damalige
Generalvikar Fürstenberg, den Schleier von der Vergangenheit wegzuziehen
und die Ruhestörerinnen zu bestrafen. Ursache bzw. Ausdruck des Zwists
scheinen Unterschlagungen gewesen zu sein und die Störung der Klausur:
Für materielle Hebung des Klosters schlug der Fürstenberg vor, eine Rechenschaftsablage
gemeinschaftlich zu machen mit den Visitatoren und sie ihm vorzulegen;
bei dieser Überprüfung solle der Kanonikus Berning zugezogen werden. Weiter:
"Was die Klausur betrifft, so ist es uns unangenehm zu vernehmen,
daß diese noch nicht gehörig und nicht einmal so strenge wie ehemals beobachtet
werde. Die Verletzung der Klausur ist durchgehends in den Klöstern die
Ursache des Verfalls der Zucht und der Anlaß zu Uneinigkeiten." Immerhin
blieb eine Ausgangserlaubnis alle 14 Tage für ein paar Stunden zugestanden.
Anna Katharina Emmerick kam also in ein Wespennest gegenseitigen Mißtrauens,
daß durch eine Ermahnung von außen nur oberflächlich ruhiggestellt werden
konnte. Rensing stand 1810 wiederum vor gleichen Problemen.
Das Kloster hatte seit dem 17. Jahrhundert eine öffentliche Funktion,
es diente der Unterrichtung der Dülmener Kinder, wofür einige Klosterschwestern
abgestellt wurden. Um 1800 wurden nur noch Mädchen unterrichtet, nach
der Säkularisation diente das Klostergebäude weiterhin als Schule. Als
Oberpräsident von Vincke im Jahre 1818 die Stadt Dülmen besuchte, bestand
die Mädchenschule noch in dem aufgehobenen Kloster; er fand sie aber "erbärmlich
und ungesund".
Das Kloster diente noch einem anderen Zweck, an den man sich in der Emmerick
- Literatur nur ungern erinnert. Nur nebenbei wird er z. B. im Aufsatz
über die Klosterchronik berichtet: "In dem Pariser Arenbergischen
Reskript (nach der Übernahme durch den Herzog v. Arenberg 1810) heißt
es nämlich noch: 'Das Kloster möge sich des erst in jüngster Zeit übernommenen
Unterhaltes wahnsinniger Personen, der mit seinem eigentlichen Berufe
unvereinbar zu sein scheint, entschlagen.' Das Kloster hatte also eine
Idiotenanstalt eröffnet; die Regierung will wohl aber nicht haben, daß
die die Klosterschule besuchenden Kinder diese armen Menschen sehen oder
gar in Berührung mit ihnen kommen. Da Fürst Arenberg für den Unterhalt
der Schwestern Sorge trug, konnte er das obige Ansinnen stellen und die
Schwestern ihm auch leicht entsprechen." Die Unterbringung der "Wahnsinnigen"
muß, so kann man folgern, auf die Initiative des Herzogs von Croy zurückgegangen
sein.
Der Herzog gab auch sein Einverständnis zur Aufnahme der beiden Novizinnen,
Klara Söntgen und Anna Katharina Emmerick.
Die Novizin brachte weder Aussteuer noch Vermögen ein, aber auch die Mitschwestern
schienen nicht unbedingt vermögend gewesen zu sein. Das Kloster verfügte
aber über einige Pfründe und hatte regelmäßige Bezüge durch den Landesherrn.
Zum andern schien sich die Novizin nicht in die Klostergemeinschaft integrieren
zu können, was ja nach obigen Aussagen auch schwierig gewesen sein dürfte.
A. K. Emmerick ließ an ihrer Anschauung keinen Zweifel, es wären die Mitschwestern,
die sie zurückwiesen. In der späteren Anhörung der Mitschwestern durch
den Dechanten Rensing wurden unterschiedliche Stellungnahmen abgegeben.
Einiges scheint für die Angaben A. K. Emmericks zu sprechen etwa die genaue
Schilderung einiger Vorkommnisse. Anderes spricht dagegen. So die Aussagen
der Schwestern und der Oberin Hackebram: Sie war im Umgang immer sehr
verträglich und dienstfertig; aber sie war gerne ein wenig aestimiert,
wenigstens war sie sehr empfindlich darüber, wenn sie glaubte, daß man
sie nicht genug aestimierte und wenn ihr etwa zuwider geschah, so wehrte
sie sich auch tüchtig. Aber sie gab auch gleich nach, wenn ihr nur wieder
ein gutes Wort gegeben wurde.". Ahnlich sind die Äußerungen der Mitschwestern.
Die Abneigung der Schwestern gegen sie, so Anna Katharina Emmerick, bliebe
über ihre gesamte Klosterzeit bestehen, auch wenn die Nonnen das nach
der Klosteraufhebung bestritten. Ständig schien die Emmerick, nach eigenen
Angaben, neuen Schikanen ausgesetzt zu sein. "Weil ich nichts brachte,
gab man mir auch nichts, ich hatte einen Stuhl ohne Sitz und einen ohne
Lehne in meiner Zelle". Man gab ihr beispielsweise morgens keinen
Kaffee, der selbst bei ärmeren Leuten üblich war. Sie war gezwungen, den
ausgebrühten Kaffeesatz ihrer Mitschwestern erneut aufzubrühen. Nach Ende
des Noviziats versuchten sie angeblich, die Emmerick loszuwerden. Anna
Katharina Emmerick hatte während des Aufenthalts bei Söntgen für diesen
gebürgt, der konnte nicht zahlen und hatteAnna Katharina Emmerick nun
in die Pflicht genommen. Ein "guter Mensch" half ihr aus dieser
Situation, wer dieser Gönner war, bleibt unklar. Sicher ist, das dieses
Geld nicht aus der Emmerickfamilie stammte.
Unklar bleibt auch später die Quelle ihrer finanziellen Zuwendungen, sowohl
im Fall der Bürgschaft, als auch in den Fällen, wo sie Geld bei oder in
ihrer Zelle fand. Möglicherweise haben sich einige bessergestellte Schwestern
erbarmt, oder es war der Beichtvater der Nonnen, der aus Frankreich geflüchtete
Pater Lambert.
Schließlich konnte die Emmerick das Gelübde ablegen. Wenn sie sich auch
der Verachtung und den Anfeindungen ihrer Mitschwestern ausgesetzt sah,
so hatte sie doch eine beachtliche Karriere gemacht und ihre Zukunft schien
gesichert.
Erste Krankheiten hatte Anna Katharina Emmerick als Jugendliche mit etwa
16 Jahren. Im Noviziat begann dann aber die Serie von psychogenen Erkrankungen,
die sie bis zu ihrem Tod behalten sollte. "...indem der ganze Unwille
des Klosters, mich als ein armes Bauernmädchen aufgenommen zu haben, sich
bei dieser Gelegenheit ergoß, ich mußte so großen Kummer, so bittre Kränkung
bei dieser Gelegenheit längere Zeit unterdrücken, daß ich in eine schwere
Krankheit gefallen bin, die damit begann, daß ich heftige Schmerzen um
das Herz und besonders in der Herzgrube bekam, welche ich auch nach meiner
Genesung immer fort behalten habe bis zu der Zeit, da ich das Zeichen
des doppelten Kreuzes auf das Herz empfing". Schon in dieser Zeit,
also um 1803 herum, war Dr. Krauthausen Hausarzt der Emmerick und sollte
es noch lange bleiben. Die Nonne war entschlossen, um jeden Preis im Kloster
zu bleiben, "auszuhalten und fest zu bleiben, wenn man mir auch die
Haut über die Ohren zöge"
Anna Katharina Emmerick blieb trotz ihrer Bemühungen unbeliebt, "so
entstand in ihnen ein Gefühl über mich, aus welchem nothwendig unaufhörliche
Quälereien, Beschuldigungen, Anklagen, Strafen, Verdacht hervorgiengen
gegen mich, ohne daß sie je zur Einsicht kamen und ohne daß ich im Stande
gewesen wäre ihnen irgend etwas zu erklären, was mit mir vorgieng, weil
alles dieses eines Teils mir selbst ganz unbegreiflich war,...."
Ihre Krankheiten verstetigen sich und bald befindet sie sich in einer
Lage, die auch ihr späteres Leben kennzeichnet: "... denn ich war
ihnen ein ganz unbegreifliches Rätsel ohne alle meine Schuld, um welches
sie immer herumflüsterten und verdächtigten. Bald glaubten sie, ich heuchle
und verstelle mich, weil ich nicht essen konnte, und von den heftigsten
Krankheiten durch übernatürliche Hilfe, die sie nicht kannten, plötzlich
genas, bald glaubten sie, ich sei eine Betrügerin, weil ich öfter in äußerster
Armuth das nöthige Geld erhielt, ohne eigentlich sagen zu können woher,
weil sie nicht glauben konnten, wie ich es mußte und wußte, es sey von
Gott ... ...Bald hielten sie mich für eine Hexe, weil ich alles wußte
und hörte, was im Kloster geschah und gesprochen wurde, obschon ich nicht
zugegen und am anderen Ende des Hauses kranck lag oder beschäftigt war,...."
Die Informationen scheinen erklärbar, haben doch die Mitschwestern ein
durchaus ambivalentes Gefühl ihr gegenüber. "Ich kam ihnen oft vor
wie ihr eigenes außer ihnen herumwandelndes Gewissen. So geschah es, daß
oft einzelne zu mir kamen, ja nachts bei mir sassen und mir ihr innerstes
Herz ausschütteten und mich in allen ihren Seelengebrechen und Skrupeln,
die ich oft gar nicht verstand, um Rath fragten und sich rathen ließen...".
Anna Katharina Emmerick war über die Märtyrer der Kirche und Stigmatisierten
äußerst gut unterrichtet. Rensing berichtet, daß A. K. Emmerick im Kloster
lange Unterweisungen durch den dort wohnenden Pater Anthelmus Kraatz erhalten
hatte und ihm die Vorbildung für ihre Visionen verdankte.. Dessen Leidenschaft
war es, sich über religiöse Themen zu verbreiten: "Dieser, ein Muster
der Geistlichkeit, gab sich beständig mit Lesen und Betrachten ab, war
in der Aszetik und Mystik, in den Schriften der hl. Väter, in der Bibel
und inexegetischen Werken ungemein bewandert, und fand sein größtes Vergnügen
in der Unterhaltung von religiösen Gegenständen, Maximen der Heiligen
und Grundsätzen des geistlichen Lebens. Sobald der meine Meinung von der
besonderen übernatürlich scheinenden Erleuchtung der Emmerick hörte, fing
er an zu lächeln und sagte: 'Vieles von dem, was sie von Religionssachen
und vom geistlichen Leben weiß, wird sie wohl von mir gelernt haben; denn
sie war in diesem Stücke sehr wißbegierig und kam deswegen in ihren Freistunden
oft in mein Zimmer, sich mit mir über geistliche Dinge zu unterhalten,
wo ich ihr dann bald dieses bald jenes erzählte und auslegte'"
Ein fürchterlicher Schicksalsschlag muß Anna Katharina Emmerick getroffen
haben, als das Kloster am 3. Dezember 1811 aufgehoben wurde. Sie erhielt
zwar eine schmale Rente, doch ihr Halt, alles wofür sie sich die Haut
hat über den Kopf ziehen lassen, war verloren. Sie blieb im Kloster bis
zum Frühling 1812 und bezog dann gemeinsam mit Pater Lambert eine Wohnung
in einem Bierhaus über einer Kegelbahn bei der Witwe Roters. Das Haus
gehört der Schwester des Ortspfarrers Limberg. Für Lambert hatte sie im
Kloster gewaschen, darüber hinaus bleibt die Beziehung zwischen beiden
merkwürdig im Dunkeln. Sie soll für Lambert den Haushalt führen, ist dazu
aber schon seit langem nicht mehr in der Lage. Lambert ist später ihr
"Beschützer", indem er Besucher zuläßt oder abweist.
Am 28. August 1812 erschien erstmals das graue Kreuz auf der Brust der
Emmerick (4 Monate nach Umzug). Am 25. November wurden erstmals Blutungen
an Stirn und Hinterkopf beobachtet, zwischen Weihnachten und Neujahr 1812
folgten die Wundmale an Händen, Füßen und an der Seite. Alle diese Erscheinungen
tauchten binnen eines Jahres nach Aufhebung des Augustinerinnenklosters
auf. Anna Katharina Emmerick war während dieser Zeit häufig bettlägerig.
Die Stigmata sprachen sich schnell herum, vermutlich über den Beichtvater
Limberg und den Dülmener Arzt Dr. Krauthausen. Jedenfalls gelangen die
Gerüchte in den Kreis des Domkapitels und von dort in medizinische Publikationen
und an die anderen romantischen Katholikenzirkel. Der Generalvikar Clemens
August von Droste zu Vischering veranlaßte eine Untersuchung, beauftragte
zuvor jedoch den Domdechanten und Ortspfarrer Rensing mit der Beobachtung
der Kranken. Rensing sollte regelmäßige Berichte an den Generalvikar liefern.
Zum Zeitpunkt des ersten Berichts des Rensing an den Generalvikar Droste
zu Vischering im April 1813 befanden sich im engeren sozialen Umfeld der
Emmerick:
- ihre Schwester Gertrud als Haushilfe
- der Pater Lambert
- der Beichtvater und Ortspfarrer Limberg
- die Jugendfreundin und ehemalige Chorschwester und
dann Schullehrerin Jungfer Söntgen
- die ehemalige Stiftsmutter, ehemalig Mitschwestern
Laut Bericht wurde das Haus von Neugierigen und Andringlingen in großer
Zahl besucht.
Am undurchsichtigsten ist die Rolle des Pater Lambert. Zusammen mit der
Schwester Gertrud war er ständig um die Patientin, die drei scheinen ein
enges psychosoziales System zu bilden. Die Schwester besorgte den Haushalt
und wurde von Beobachtern für einfältig gehalten. Sie weinte häufig, wenn
Zweifel an der Kranken aufkamen. Pater Lambert hielt sich im Hintergrund,
hatte aber ein Zimmer, welches mit Anna Katharina Emmericks Raum durch
eine Tür verbunden war.
Lambert war zu diesem Zeitpunkt sechzig Jahre alt. Er war in D'Ailly sur
Noyr in der Picardie gebürtig und einer der 1792 aus Frankreich vertriebenen
Franziskaner. Nach einer Irrfahrt durch Flandern und das Rheinland kam
er 1794 nach Dülmen, er lebte bis 1802 von Almosen. Dann wurde er durch
den Herzog von Croy im Kloster Agnetenberg zum Vicarius bestellt und erhielt
eine Pension des Herzogs. Er war seit 1797 Vikar für reisende Emigranten
und Soldaten in Dülmen, dann als Beichtvater für das Croy'sche Haus in
Dülmen approbiert und leistete Dienste in der Dülmener Pfarrkirche.
Die kirchlichen Autoritäten, die sich mit dem Fall Anna Katharina Emmerick
ziemlich schnell offiziell befaßten waren
- Dechant Rensing
- Dechant Overberg
- Generalvikar Clemens Droste zu Vischering
Anna Katharina Emmerick wurde zum Untersuchungsobjekt. Im Jahr 1813 erfolgte
die kirchliche Untersuchung. Der Nachweis von "Erkünstelung"
gelang nicht. Die Faszination für die wundergläubige Zeitstimmung war
um so größer. Anna Katharina Emmerick wurde zum Pilgerziel unterschiedlichster
Besucher. Der Andrang war unglaublich, bis schließlich Droste Vischering
die Aufwartung untersagte. Unter den Besuchern, die von nah und fern kamen,
das Wunder zu bestaunen, waren zahlreiche einflußreiche Menschen: Die
Fürstin Gallitzin erschien ebenso wie die gesamte Domgeistlichkeit. Sogar
die Gattin des Oberpräsidenten Vincke konnte einem Besuch nicht widerstehen.
Die politischen Implikationen des Falles wurden schon im ersten Kapitel
dargelegt. Am 24. 9. 1818 stellte sich Clemens Brentano am Krankenbett
ein. Er hat über fünf Jahre die Visionen der Emmerick protokolliert und
diese Protokolle, von ihm frei verarbeitet, erfolgreich unters Publikum
gebracht. Das Material reichte sogar für einen zweiten und dritten Band.
Anna Katharina Emmerick war mit Brentanos Gegenwart endgültig prominent,
sie genoß die Beachtung der deutschen Geistesgrößen. Die preußische Regierung
war durch die Berichte derart beunruhigt, daß sie eigens einen Kommissär
mit einer Untersuchung beauftragte, deren Ergebnisse auch keine Minderung
des Wunderglaubens erbrachte. Nach der staatlichen Untersuchung im August
1819 verlor der Fall zwar für die staatlichen Stellen Attraktivität, die
Blutungen der Stigmata waren ohnehin zur Jahreswende 1818/19 versiegt.
Die katholische Bewegung benutzte den Fall aber noch durch das ganze Jahrhundert
hindurch als Fanal gegen die verweltlichenden Tendenzen des Saekulums.
Anna Katharina Emmerick starb am 9.2.1824. Ihre Bewunderer ließen sie
jedoch nicht im Grab ruhen. Zweimal wurde ihr Leichnam ausgegraben, die
Verwesung war entgegen allen Hoffnungen normal fortgeschritten. Luise
Hensel sicherte sich die Hand der Toten als Reliquie.
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