Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


Zusammenfassende Thesen

 

Die Krankengeschichte der stigmatisierten Anna Katharina Emmerick läßt sich auf verschiedenen Ebenen erklären. Zeitbezogen sind dies der politische Umbruch, die kirchenpolitische Neuorientierung, die psychologischen Folgen der Befreiungskriege und die Ausprägung der geschlechterspezifischen Benachteiligung von Frauen. Dazu kommen der allgemeine Wunderglauben um 1800 sowie die metaphysischen Konzepte der Romantik. Moderne Erklärungshilfen bieten Medizingeschichte und Psychologiegeschichte. Personenbezogene Erklärungen lassen sich in der Biografie und der psychopathologischen Entwicklung der Emmerick finden.

Die Popularität der Kranken ist ein Produkt eines Mentalitätswandels; nicht von Aufklärung zu Romantik - Wunderglauben und Aufklärung hatten bestens koexistiert -, sondern von der Früh- und Hochromantik zur Spätromantik. Die Spätromantik zeichnete sich aus durch Hinwendung zur Mystik und zum Unheimlichen. Wichtige Äußerungen des Mentalitätswandels sind Romantische Konversionen und der beginnende Kirchenkampf, der sich durch das ganze 19. Jahrhundert zieht. Charakteristisches Beispiel ist die Rolle der - interkonfessionellen - Erweckungsbewegungen in der Maikäferei, was in deren Vorläufer, der Christlich Deutschen Tischgesellschaft, noch keine Rolle spielte. Eine wesentliche Ursache dieses Mentalitätswandels ist in den psychischen Folgen der Napoleonischen Kriege in Deutschland, den Kriegserlebnissen der nachwachsenden preußischen Adels- und Bürgerelite zu sehen.

Die Erkrankung Anna Katharina Emmericks paßte sich idealtypisch in den romantischen Kontext ein. Die wundergläubige romantische Haltung einerseits und die naive abergläubige Haltung der westfälischen Bevölkerung andererseits begünstigten die Inszenierung als "Wunder" von Dülmen.

Anna Katharina Emmerick war als Somnambule kein Einzelfall, es gab prominente Parallelfälle: Kaspar Hauser und Friederike Hauffe. Weder der Fall des Kaspar Hauser noch der von Friederike Hauffe wurden in einen religiösen Kontext gebracht. Die religiöse Interpretation der Dülmener Erscheinungen als ein göttliches Zeichen des Protests war ein Produkt von Kirchenpolitik.

Hintergrund des öffentlichen Interesses waren die aktuellen Konflikte im Zusammenhang der Eingliederung des Stifts Münsters in den protestantischen preußischen Staat. Der Hauptprotagonist des Kirchenkampfes in der ersten Hälfte des 19.Jh.s, Clemens August von Droste zu Vischering, wertete den Fall durch eine Untersuchungskommission auf, ohne ihn direkt politisch zu nutzen.

Im politischen Konflikt wurde die "Wundergeschichte" nicht benutzt, weil es für die innerkirchliche Auseinandersetzung (Spiegel - Vischering) und die zwischen Staat (Vincke) und mystischem Katholizismus (Vischering, Familia sacra) ein Feld gab, das sich mehr dafür eignete (Kuratorium der Münsterschen Universität, Professurenbesetzungen). Die Folgen einer politischen Zuspitzung der Wundergeschichte, d. h. die Mobilisierung der preußenfeindlichen Bevölkerung, waren für Vischering nicht abzusehen. Seine Position war zu schwach um einen offenen Konflikt zu wagen. Im Falle der Emmerick wurde der Konflikt von seiten der preußischen Regierung gesucht, obwohl sie fürchten mußte, daß sich am Fall der Nonne ein Kristallisationspunkt des katholisch - antipreußischen Ressentiments herausbilden könnte.

Brentano, der den Krankheitsfall über die Münstersche Region hinaus verbreitete und dauerhaft im Katholizismus etablierte, handelte vornehmlich aus persönlichen Motiven, die sich jedoch gut mit dem damaligen Zeitgeschmack und der Auseinandersetzung Preußen / Katholizismus in Einklang bringen ließen. Der kulturelle Hintergrund ist in den weitverbreiteten Konversionen in der Romantik zu finden. Allgemein wird die Konversion Brentanos als Besonderheit aufgefaßt, weil er mit der Konversion eine individuelle psychische Notlage abwenden wollte. Dies war auch der Grund für seine lange Anwesenheit in Dülmen. Die Emmerickaufzeichnungen sind literarische Verarbeitung seiner persönlichen Lebenskrise.

Die Experimente Brentanos mit der "Seherin" sind Umdeutungen des gerade prosperierenden Mesmerismus, also eine Zeiterscheinung in der Spätromantik. Brentano war stark von den Mesmerschen Methoden beeinflußt. Zahlreiche Personen aus seinem Berliner Umkreis, namentlich Hoffmann, Kleist und Wolfart, ebenso sein Bruder Christian hatten ihm diese Ideen vermittelt. Die Mesmerschen Experimente deutete Brentano zu religiösen Beweisen um (Hierognosie usw.).

Brentanos Aufzeichnungen sind eine literarische Kontamination. Darin sind die Anteile der Emmerickschen Schilderungen nicht mehr herauszufiltern. Die Emmerickaufzeichnungen folgen den Werken frühneuzeitlicher Mystiker, insbesondere Martin v. Cochems. Bei den Emmerickvisionen scheint Brentano die treibende Kraft gewesen zu sein, indem er die Visionen suggerierte, lenkte oder frei erfand. Vorbild für die literarische Auswertung ist das Verfahren, das er schon bei den Volksliedern in "Des Knaben Wunderhorn" entwickelt hatte und seine Kunstmärchen.

Die Kranke strebte längerfristig die Anerkennung als Heilige an und wurde darin von ihrem engeren Bezugskreis unterstützt. Sie inszenierte ein "heiligenmäßiges" Leben nach Vorbildern, die ihr aus Schilderungen bekannt waren. Ihre Erlebniswelt war eng mit solchen Stigmatisierten verbunden. Ihre Namenspatronin Katharina v. Siena gilt als Stigmatisations- und Fastenwunder. Häufige Vorleselektüre waren Tauler, Franz v. Sales usw.. Emmerick erhielt hieraus detaillierte Unterweisungen über Heilige und Stigmatisierte in ihrer Klosterzeit.

Die psychischen Abnormitäten und die körperliche Erkrankung begannen schon vor dem Eintritt ins Kloster. Dort führten die Auffälligkeiten zu Konflikten mit den Mitschwestern und der Oberin. Die Leiden verschlimmerten sich daraufhin, innerhalb des Klosters war die Emmerick isoliert. Die Aufhebung des Klosters bedeutete eine persönliche Katastrophe, weil der Emmerick jede Perspektive für die sinnvolle Reintegration in ihr früheres soziales Umfeld fehlte. Auch die Kirche konnte ihr keinen neuen Lebensweg weisen, sie war mehr oder minder sich selbst überlassen. Ihre Situation war besonders dadurch verschärft, daß Anna Katharina Emmerick als Frau und Bauernmädchen eine unglaubliche Karriere geschafft hatte. Alle ihre Bemühungen waren durch den Verlust des kirchlichen Milieus zunichte gworden. Diese außerordentliche psychische Belastung äußerte sich in somatisierten Symptomen. Mit den Blutungen hatte sie einen Weg aus dem Dilemma gefunden, die rasche gesellschaftliche Anerkennung bestätigte sie in ihrem Weg. Ihr christliches Streben und ihr Prozeß forderten die Nachfolge Christi als Braut Christi und damit zuvörderst Sexualverzicht. Nahrungsverzicht war seit alters her eine Form der monastischen Askese, nur die absolute Nahrungslosigkeit konnte als Wunder darüber hinausgehen. Die "Stigmatisation" sprengte den monastischen Bezugsrahmen. Anna Katharina Emmerick setzte sich mit Christus gleich. Sie fühlte sich gleich Christus verwundet als Opfer der Welt (Staat) und brachte das mit ihren Wunden körperlich zum Ausdruck.

Die Stigmatisierung war eng an den religiös-kulturellen Hintergrund sowohl der Emmerick, ihres engeren persönlichen Umfeldes als auch der Kirche allgemein angepaßt. Sie verstand sich persönlich als Opfer, wie ihr - und der katholischen Öffentlichkeit Westfalens - auch die Kirche als Opfer erschien.

Anna Katharina Emmerick litt unter und starb an Lungentuberkulose und agierte nach psychopathologischen Mustern: der Somatisierung und hysterischen Inszenierung. Individualpsychologisch läßt sich der Fall in den Kreis der hysterischen Erkrankungen einordnen.

Das Hauptsymptom, die Abasie/Astasie, wurde in der Wundergeschichte kaum wahrgenommen. Die andauernde Bettlägerigkeit ist Ausdruck der geschlechterspezifischen Benachteiligung. Es war ihr als Frau ohne sozial akzepierte soziale Einbindungen verwehrt, sich gesellschaftlich zu bewegen. Dies äußerte sich in der tatsächlichen Bewegungsbeeinträchtigung. Dieses Modell der Somatisierung wird im Laufe des 19. Jh.s bei Frauen vielfach anzutreffen sein. Es ist eine typische Reaktion im Rahmen der hysterischen Verarbeitung von geschlechterspezifischen Konflikten.

Die Anorexie läßt sich nur zum Teil auf die Schwindsucht zurückführen. Die Nahrungsverweigerung der Emmerick hatte einen Bezug auf religiöse Modelle. Vorbild hierfür war die Namenspatronin Katharina von Siena und verschiedene andere Fälle, die ihr in der Klosterzeit nahegebracht wurden.. Das Überleben mit einem Minimum an Nahrungsmitteln ist möglich. Die Emmerick scheint heimlich gegessen zu haben, denn aus der ersten (kirchlichen) Untersuchung mit genauer Überwachung der Nahrungszufuhr kommt sie deutlich abgemagert und geschwächt heraus.

Nach ihrer Klosterzeit (während der ihren Symptomen noch keinerlei metaphysische Bedeutung zugeschrieben wurde) gab es keine ernsthaften Heilungsbemühungen mehr. Durch den immensen primären und sekundären Krankheitsgewinn chronifizierte sich die psychische Erkrankung. Ihre Krankheitssymptome wurden mit der enormen öffentlichen Reaktion anerkannt und bestärkt.

Alle ihre Symptome sind rational erklärbar. Für alle psychogenen Symptome hatte sie Vorbilder. Sie hatte Unterweisungen in die Fälle von Stigmatisation des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (Franz v. Sales, Veronika Giuliani). Die Vorbilder ihrer pseudoepileptischen und kataleptischen Anfälle hatte sie in den Kranken, die in der "Irrenanstalt" des Klosters betreut wurden. Die Stigmata hatten einen psychosomatisch - hysterischen Hintergrund. Sie verschwanden, als die Exekution der staatlichen Untersuchung zu bedrohlich wurde.

Die Seligsprechung Anna Katharina Emmericks unterblieb, weil die römische Kommission trotz Drängens der Bischöfe von Münster und der Augustiner keine ausreichenden Anhaltspunkte für Wunder oder Wundertätigkeit sahen. Gegen die Seligsprechung standen vor allem Brentanos Aufzeichnungen. Im Zusammenhang mit dem ersten Versuch der Seligsprechung 1924 zum 100sten Todestag ist ein Hauptteil der Literatur zur historischen Emmerick zusammengetragen worden. Die historische und medizinische Deutung des Falls ist weitgehend auf diesem Forschungsstand stehengebleiben. Die mystisch beeinflußte kirchliche Propagandaliteratur nimmt die historischen und medizinisch-psychologischen Fortschritte nicht zur Kenntnis. Typisches Schrifttum sind Propagandaliteratur in Form von Flugzetteln oder verklärende Arbeiten, wie Wegeners Emmerickbuch.

Die Betreibung der Wiederaufnahme des Verfahrens um 1970 geht auf die Initiative eines einzelnen Bischofs -Heinrich Tenhumberg.- zurück. Motiv hierfür dürfte in der Erhebung des Rangs der Diözese Münster innerhalb der katholischen Kirche zu suchen sein. Der Kult um die Emmerick wird seit den 1880er Jahren gezielt gefördert. Die Bemühungen zum 200. Geburtstag der Emmerick haben bislang keine Erfolge gezeitigt. Der Rang als bedeutendste Stigmatisierte Deutschlands ist von der Emmerick auf Theresia Neumann, die "Stigmatisierte von Konnersreuth" übergegangen. Diese hatte über Brentanos Ausführungen detaillierte Kenntnisse vom Fall Emmerick. Auch im Fall Konnersreuth ist eine kirchliche Anerkennung bislang unterblieben.