Das Schicksal der Augustinerinnennonne Anna Katharina Emmerick war unmittelbar
verbunden mit der politischen Umstrukturierung Deutschlands um 1800. Ihr
Kloster Agnetenberg in Dülmen gehörte zur Diözese Münster, die als Fürstbistum
1802 säkularisiert wurde. Die Aufhebung des Klosters erfolgte auf eine
Anweisung, die Napoleon im November 1811 in Düsseldorf erließ. Die Nonnen
mußten das Kloster verlassen, ihre Zukunft war ungewiß. Mit der Exklaustrierung
begann das öffentliche Leiden der Anna Katharina Emmerick. Ihre Karriere
als Stigmatisierte von Dülmen hing einerseits mit der naiven Gläubigkeit
der westfälischen Landbevölkerung zusammen. Andererseits geriet der Fall
rasch zum Spielball anderer Interessen, wobei die kranke Nonne aus der
Anonymität herausgerissen wurde. Im Fall der wundersam Kranken trafen
verschiedene Zeitströmungen aufeinander: Aufklärung, Staatsinteresse,
romantische Erweckungsbewegungen, literarische Romantik, neue medizinische
Systeme und vor allem Abgrenzungsinteresse der katholischen Kirche gegen
den preußischen Suprematieanspruch.
Säkularisation in Westfalen
Auslösend für den grundsätzlichen Wandel in Politik, Gesellschaft und
Kultur waren die Revolutionskriege und die nachfolgende Eroberung Mitteleuropas
durch Napoleons Heere. Folge dieser kriegerischen Ereignisse waren die
Auflösung des Heiligen Römischen Reiches, die Neuordnung der deutschen
Territorien und die Verteilung des weltlichen Besitzes der Katholischen
Kirche. Am Ende dieser Umwälzungen, nach den Befreiungskriegen von 1813
und dem Wiener Kongreß 1815, hatte sich die Landkarte Deutschlands grundlegend
geändert.
Die Neugestaltung der Landkarte begann mit der französische Eroberung
des linken Rheinufers. Preußens Machtpolitik war zwar auf die Erweiterung
im Osten orientiert, trotzdem hatte sich Preußen an den Kämpfen zur Niederringung
der Französischen Revolution beteiligt. Der Anteil an der Beute nach der
dritten Teilung Polens 1795 hatte Preußens Kräfte weitgehend absorbiert,
deshalb schied es im Sonderfrieden zu Basel aus dem ersten Koalitionskrieg
gegen das revolutionäre Frankreich aus. Mit dem Friedensschluß waren geheime
Absprachen verknüpft, die im August 1797 in einem Geheimvertrag mündeten,
in dem erstmals die geistlichen Länder Westfalens als Kompensation für
die linksrheinischen Verluste Preußens genannt wurden. Im Frieden von
Campo Formio stimmte Österreich der Abtretung der linksrheinischen Reichsterritorien
zu. Damit wurde das Säkularisationsprogramm, wenn auch mit Einschränkungen,
akzeptiert, der Weg zur Neuordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher
Nationen freigemacht. Auf dem nach Rastatt berufenen Friedenskongreß (Dezember
1797 bis April 1799) mußten die Reichsdeputierten die Vorabsprachen der
drei Mächte hinnehmen. Eine Bestätigung erfuhren die Absprachen 1801 im
Frieden von Lunéville, allerdings waren die zur Entschädigung vorgesehenen
Gebiete jetzt nicht nur auf die Westfälischen Territorien beschränkt.
In allen Friedensverträgen konnte Frankreich seine Vorstellungen zur Neugliederung
Deutschlands durchsetzen. Neben den realpolitischen Motiven spielten revolutionär
inspirierte antiklerikale Ressentiments eine starke Rolle. Frankreichs
Politik zielte auf die Schwächung Österreichs, die Stärkung Preußens und
die Bildung einer deutschen Mittelmacht. Die Rückdrängung der Kirchenmacht
war dabei ein durchaus erwünschter Nebeneffekt.
Profitiert haben von der Neuverteilung zuvörderst Preußen, Hannover und
die Süddeutschen Großterritorien, also Bayern, Württemberg und Baden.
Daneben gab es eine Reihe kleinerer Herrschaften, die sich auf Kosten
ehemaligen Reichsgutes oder geistlicher Länder ausdehnen konnten. Bei
der Durchsetzung seiner Säkularisationsansprüche konnte Preußen sein politisches
Gewicht in die Waagschale werfen. Kleinere Herrschaften waren auf dynastische
Verbindungen, Protektion oder schlicht auf Bestechungsgelder angewiesen.
Preußens Interesse war und blieb auch später, einen durchgehenden Korridor
zu seinen westlichen Besitzungen zu erhalten und diese zu vergrößern.
Im Reichsdeputationshauptschluß in Regensburg vom 25. Februar 1803 erhielt
Preußen neben den ehemaligen Fürstbistümern Hildesheim und Paderborn die
Abteien Herford, Quedlinburg, Elten, Essen, Werden und Kappenberg, dazu
Erfurt sowie die Reichsstädte Mühlhausen, Nordhausen und Goslar, das Eichsfeld
und den östlichen Teil des Hochstifts Münster mit der Stadt, wogegen es
nur das Herzogtums Cleve aufgeben mußte. Das bedeutete einen Gewinn von
235 Quadratmeilen gegen 48 verlorene und von 600.000 gegen 137.000 Menschen.
Die Umverteilung der kleineren weltlichen und der geistlichen Territorien
an die benachbarten Fürstentümer und neugeschaffenen Königreiche führte
zur politischen Entmachtung der Fürstbischöfe und des niederen Adels.
Die ständische Machtteilhabe an Ämtern in Domkapiteln, Pfründen und Klöstern
ging weitgehend verloren. Für einen großen Teil der Bevölkerung zwischen
Rhein und Elbe bedeutete das neue Landesregiment vor allem eine politische
und kulturelle Fremdbestimmung. Indem weite Teile des katholisch dominierten
Westfalens und des Rheinlandes zum protestantischen Preußen kamen, waren
konfessionelle Spannungen unvermeidlich. Die Administration in den neuen
Preußischen Provinzen war von Berlin eingesetzt, protestantisch und altpreußisch
orientiert. Entgegen dem alten Herkommen ging die politische Macht nun
von einer weit entfernten Hauptstadt aus und nicht vom regional legitimierten
Adel. Für die meisten Gebiete Westfalens vollzog sich der Wandel in einem
Dreischritt. Zeitlich liegen die Einschnitte bei 1802/3 erste Besitzergreifung,
1806 Besetzung durch die Franzosen und 1815 Zuweisung durch den Wiener
Kongreß.
Katholische Kirche und Preußen
Innerhalb der Kirche brodelte der Kampf um Nationalkirchentum und Romorientierung.
Seit dem 18. Jahrhundert gab es partikulare episkopale Bestrebungen, die
sich unter dem Begriff "Febronianismus" zusammenfanden. Die
nationalkirchlichen Ideen wurden von dem Konstanzer Aufklärer und Bischof
Wessenberg aufgegriffen und weiterverbreitet. Sie wurden später vertreten
durch den rationalistischen Theologen Georg Hermes, weshalb sie auch unter
dem Begriff "Hermesianismus" bekannt wurden. Dem gegenüber stand
die Hinwendung zum Papst "hinter den Bergen", eine Richtung,
die als Ultramontanismus bekannt wurde. Die Wirren der Säkularisation
und das Wiedererstarken des Papsttums beendeten die nationalkirchlichen
Bestrebungen rasch.
Der Übergang vom konfessionellen zum paritätischen Staat beinhaltete
für den deutschen Katholizismus die Notwendigkeit, sich als Teil des gesellschaftlichen
Ganzen zu begreifen und in einem neuartigen politischen Kräftefeld zu
bestehen. Der Absolutheitsanspruch der katholischen Kirche kollidierte
mit dem des Staates. Der Anspruch beider war durch Aufklärung und Bürgeremanzipation
schon lange in Frage gestellt. Nichtsdestrotrotz wurde er eingefordert,
von den Gläubigen und von den Untertanen. Andererseits wurden aus ursprünglich
religiösen Forderungen sekundär politische, weil sie sich an den Staat
richteten.
Auf dem Wiener Kongreß wurde ein deutsches Bundeskirchenrecht nicht verabschiedet.
Dadurch fiel das gesamte Staatskirchenrecht im Vormärz an die ausschließliche
Zuständigkeit der Einzelstaaten des Deutschen Bundes. Zur Regelung der
staatskirchlichen Fragen handelte die römische Kurie zwischen 1817 und
1827 mit den einzelnen Bundesstaaten Staatskirchenverträge aus. Die Bundesakte
des Wiener Kongresses erklärte in religiöser Hinsicht im Artikel XVI lediglich,
daß "die Verschiedenheit der christlichen Religions - Partheyen"
in den Ländern und Gebieten des Deutschen Bundes "keinen Unterschied
in dem Genusse der Bürgerlichen und politischen Rechte" begründen
könne.
Nach damaligem Sprachgebrauch waren damit die drei christlichen Hauptkonfessionen
umschrieben: Katholiken, Lutheraner und Reformierte. In den preußischen
Landen wurden Lutheraner und Reformierte 1817 zur Unionierten Kirche unter
ihrem Oberhaupt, dem "summus episcopus", dem König zusammengefaßt.
Das Kirchenrecht war im Allgemeinen Landrecht von 1794 im Geiste der aufgeklärten
Toleranz fixiert worden. Danach war jede Kirchengesellschaft zugelassen,
aber der Oberaufsicht des Staates unterworfen. Die Geistlichen der privilegierten
Religionsgemeinschaften wurden als Beamte des Staates betrachtet. Die
katholische Kirche unterlag gewissen Einschränkungen. Darunter fiel die
Zulassung von geistlichen Orden und Gesellschaften, das staatliche Plazet
für die Veröffentlichung päpstlicher Breven und Bullen, das Beschwerderecht
an die Staatsbehörden gegen kirchliche Anordnungen, die staatliche Aufsicht
über den Verkehr zwischen Bischöfen und dem Vatikan sowie über die kirchliche
Vermögensverwaltung und die kirchlichen Unterrichtsanstalten.
Doch ganz gleich waren die verschiedenen Konfessionen in Preußen nicht
gestellt. Noch 1810 befahl König Friedrich Wilhelm III. seinen katholischen
Soldaten, an jedem vierten Sonntag dem evangelischen Militärgottesdienst
beizuwohnen, um sie an die "nötige Achtung für die Hauptreligion
des Landes zu gewöhnen". Als durch die westdeutschen Erwerbungen
sich die konfessionellen Verhältnisse verschoben, trat kaum eine Änderung
in die Kultuspolitik ein. Das programmatische kirchenpolitische Dokument
bleibt die Äußerung aus der Denkschrift Altensteins vom Frühjahr 1819:
"Der preußische Staat ist ein evangelischer Staat und hat über
ein Drittel katholische Untertanen. Das Verhältnis ist schwierig. Es stellt
sich richtig dar, wenn die Regierung für die evangelische Kirche sorgt
mit Liebe, für die katholische Kirche sorgt nach Pflicht. Die evangelische
Kirche muß begünstigt werden. Die katholische Kirche soll nicht zurückgesetzt
werden - es wird für ihr bestes Pflichtgemäß gesorgt"
In den Verhandlungen mit der Kurie hatte Preußen einen widerspenstigen
Partner, von dessen Intentionen und weitausgreifenden Ansprüchen man in
Berlin nichts ahnte. Die päpstliche Kurie dachte trotz aller Katastrophen
nicht daran, auf ihren universellen Besitzstand zu verzichten. Sie setzte
auf langfristiges Durchsetzen ihrer Interessen, rechnete sich Chancen
aus, über die Lebzeiten der jeweils herrschenden Potentaten doch noch
ihre Ansprüche realisieren zu können. Sie war aber bestrebt, ihre Positionen
gegenüber den neuen Herren auszubauen und erst einmal rechtlich abzusichern.
Das Denken der Kurie belegt ein ebenso drastisches Zitat des Preußischen
Gesandten, Frhr. V. Bunsen, in Rom: "Der Grad von Macht, den die
römische Kirche über ihre Glieder ausübt, und der erneute, stets wachsende
Entschluß, diese Macht bis zur äußersten Grenze auszudehnen, war völlig
unbekannt. Der Eindruck war allgemein, daß die französische Revolution
und ihre Folgen den Papst und seine Macht vernichtet hätten und daß beide
nur noch geduldete Existenzen führten; daß sie keine Forderung machen
wollten und könnten, sondern bereit seien, in alles einzuwilligen, was
von der Politik verfügt werde."
Bei der Eingliederung der neuen westlichen Provinzen in den preußischen
Staat von 1815 sollten die unterschiedlichen Interessen dann konkret aufeinanderstoßen.
Die Verhältnisse im Hochstift Münster
Schon vor der Säkularisation von 1803 war Preußen bei den Münsteranern
außerordentlich unbeliebt. Insbesondere fürchtete man sein zentralistisches
Regiment, durchgreifende Bürokratie, harten Steuerdruck und militärischen
Drill. Adel und Klerus fürchteten die Beschneidung ihrer ständischen Rechte,
insbesondere die Auflösung des Domkapitels. Vor allem galt die Religionsverschiedenheit
als unüberbrückbare Kluft..
Die Spannungen zwischen dem Domkapitel und preußischer Regierung bestanden
schon geraume Zeit, da Preußen schon vor der Übernahme Münsters in die
Besetzungsangelegenheiten des Domkapitels eingegriffen hatte. Vorausgegangen
war eine lange Sedivakanz, die sich dadurch verkomplizierte, daß der Bischofsstuhl
des Hochstifts in Personalunion verbunden war mit dem des Erzbistums Köln.
Beide Bistümer waren seit dem Tod des Kurfürsten Max Franz am 26. Juli
1801 ohne Bischof und Regenten, sie wurden kommissarisch von dem jeweiligen
Generalvikar der Domkapitel geführt. In Münster wurde der Domdechant Ferdinand
August Freiherr von Spiegel zum Desenberg zum Interimsregenten bestellt.
Das Recht, den Bischof von Köln zu stellen, lag beim Haus Habsburg, eine
Gepflogenheit, die darin begründet war, daß mit dem Erzbistum die Kurwürde
verbunden war. Habsburg konnte damit wenigstens eine Stimme in das Kollegium
der Kurfürsten einbringen, auch wenn eine Kaiserwahl seit dem späten Mittelalter
nicht mehr notwendig war, weil Habsburg die Thronfolge sichern konnte.
Die Domkapitel Kölns und Münsters fühlten sich angesichts der reichspolitischen
Bedeutung der Bistümer vor Übergriffen relativ sicher. Die Sedivakanz
brachte nun eine neue Situation. Nach Lage der Dinge kam als Kandidat
nur ein Habsburger in Frage, der auch bald im Erzherzog Anton Viktor gefunden
wurde.
Preußen setzte alles daran eine Neubesetzung des münsterschen Bischofstuhls
zu verhindern, war es doch leichter von einem verwaisten Bistum Besitz
zu ergreifen, als einen geistlichen Fürsten zu entmachten, besonders,
wenn dieser ein Bruder des Kaisers war. Eine Ausnutzung der herrschaftslosen
Situation wagte Preußen nicht, da es mit dem bewaffneten Widerstand des
ansässigen Adels rechnen und die in Fanatismus umschlagende religiöse
Abneigung der Bevölkerung fürchten mußte. Immerhin wurden einige Truppen
in den benachbarten preußischen Gebieten zusammengezogen. Als beste Lösung
erschien die Wahl einer Preußen genehmen Person, eine Lösung, die vom
Domkapitel mit dem habsburgischen Kandidaten zunichte wurde. Das Kapitel
versuchte aus dem latenten Gegensatz Habsburg / Hohenzollern Kapital zu
schlagen und sich in Sicherheit zu bringen. Nach etlichen Verhandlungen
erklärten sich der Kandidat Erzherzog Anton Viktor als auch der Wiener
Hof mit der Wahl einverstanden. Entgegen dem ausdrücklichen Widerstand
Preußens wurde der Habsburger am 7. September 1801 gewählt, das Volk jubelte,
allgemein ging man nun davon aus, der Säkularisierung entgangen zu sein.
Preußen seinerseits dachte nicht daran die Wahl anzuerkennen und drohte
der münsterschen Regierung in einer diplomatischen Note. In Wien verhielt
man sich nach vollzogener Wahl abwartend, am 19. Oktober teilte der gewählte
Regent mit, es sei ihm unmöglich, die Regierung zu übernehmen. Die münsterschen
Hoffnungen auf Österreich waren damit zusammengebrochen.
Das Besitzergreifungspatent für die an Preußen gefallenen Gebiete erging
schon am 6. Juni 1802. Am 2. August 1802 - einen Tag vor dem Geburtstag
des Königs und ein halbes Jahr vor dem Hauptschluß der Reichsdeputation
- besetzte General Blücher die Stadt Münster mitsamt dem östlichen Teil
des Hochstifts.
Der Oberpräsident vom Stein beschreibt die Stimmung:
"Man bemerkt mehr Niedergeschlagenheit, trübes Hinblicken in
die Zukunft als Unwillen und Widersetzlichkeit. Der Adel fürchtet den
Verlust seines politischen Daseins, seines Ansehens, seiner Stellen, die
Geistlichkeit sieht ihrer gänzlichen Auflösung entgegen; der große Haufe
ist beunruhigt über Abgaben, Akzisen und Konskriptionen und fürchtet auch
mitunter für seine Religion. Es ist unbegreiflich, daß in einem Lande,
welches, zwischen den preußischen Provinzen eingeschlossen, in diesen
überall Beweise einer energievollen, milden, gesetzlichen, kenntnisreichen
Verwaltung findet, solche rohen Begriffe über diese Verwaltung herrschen,
die sich jedoch gewiß bei diesem ernsthaften, nachdenklichen und redlichen
Volke mit der Zeit verlieren werden, wenn man ihm Zutrauen und Achtung
zeigt, besonders die letztere, das der Münstelränder viel Nationalstolz
hat, wie schon das westfälische Sprichwort 'Der münsterische Mops trägt
den Kopf hoch' die Volksmeinung beweist."
Christoph Wilhelm Heinrich Sethe, ein aus dem französisch gewordenen
Cleve vertriebener preußischer Gerichtsrat bestätigt die Beobachtungen
Steins:
"Auf freundlichen Empfang und auf Zuvorkommenheit gegen uns eingewanderte
Fremdlinge hatten wir nicht gerechnet, weil wir schon wußten, wie sehr
die Münsteraner ihrer Verfassung anhingen, mit welcher Festigkeit ein
großer Teil von ihnen noch auf den erwählten Viktor Anton (Der vom
Domkapitel gewählte, aber von den neuen Herren verhinderte Fürstbischof,
Bruder Franz II.) rechnete und wie ungern sie die neue preußische Herrschaft
empfingen. Ich habe das den Münsterischen nie verübelt. Es war ein rühmlicher
Zug in ihrem Charakter, daß sie sich ungern von einer Verfassung und Regierung
trennten, unter welcher sie sich glücklich und zufrieden gefühlt hatten.
Andere hingegen verargten ihnen dies sehr und verlangten, daß sie die
Preußen mit offenen Armen empfangen und gleich mit Leib und Seele Preußen
sein sollten, was nur von einem wetterwenderischen Volk zu erwarten ist
oder aber von einem solchen, das unter den Fesseln einer harten despotischen
Regierung geseufzt hat. Dies war unter allen deutschen geistlichen Staaten
so wenig der Fall, daß es sprichwörtlich hieß: "Unterm Krummstab
ist gut leben." Von Anfang an bestand daher eine gwisse Spannung
und Distanz zwischen den Münsterschen und den hinzugekommenen Altpreußen,
die sich nicht verminderte, sondern eher vermehrte. Es geschahen nämlich
Dinge, welche eben nicht geeignet waren, die Annäherung zu fördern und
bei den Münsterischen eine gute Stimmung zu erwecken. So wurden bei der
Auflösung des münsterschen Militärs die meisten Offiziere mit einer Pension
verabschiedet und so aus der Lebensbahn, die sie erwählt hatten, hinausgeworfen.
Diese erste Maßregel nach der preußischen Besitznahme verwundete nicht
allein die verabschiedeten Offiziere tief in ihrem Gemüt, sondern erregte
auch bei ihren Familien und Freunden großes Mißbehagen. Allgemein sah
man darin eine Ungerechtigkeit, zumal unter den münsterschen Offizieren
wirklich viel Bildung und wissenschaftliche Kenntnis herrschte, womit
der Bildungsstand der damaligen preußischen Offiziere einen Vergleich
nicht aushielt. Die Einführung des Kantonwesens trug ebenfalls zur Vermehrung
des Mißvergnügens bei, aber mehr noch erregten die Mißhandlungen, welche
die zum Militärdienst ausgehobenen Söhne der Bürger und Landleute von
jedem Unteroffizier erdulden mußten, einen allgemeinen Unwillen. Ich selbst
bin Augenzeuge gewesen, wie ein Unteroffizier einen Rekruten mit Schimpfworten,
Stößen und Fußtritten mißhandelte und ihn mit seinem Rohrstock auf die
Schienbeine schlug, so daß dem armen Menschen vor Schmerz die Tränen über
die Backen liefen. Auch war der Geist, der damals bei dem größten Teil
der preußischen Offiziere herrschte, und das daraus hervorgehende Betragen
derselben abstoßend und nicht geeignet, in einem neu erworbenen Lande
Zutrauen zur preußischen Regierung zu erwecken. Zwar hatte sich Blücher,
welcher damals Kommandant von Münster war, durch seine Volkstümlichkeit,
seinen offenen und biederen Charakter und sein bei manchen Gelegenheiten
hervorgetretenes Rechtsgefühl wirklich Achtung und Zuneigung erworben,
und der General von Wobeser, Chef eines Dragonerregimentes, ein sehr vernünftiger,
gebildeter und gemäßigter Mann, hielt hierin mit ihm gleichen Schritt.
Allein, was diese beiden gutmachten, wurde durch andere, namentlich durch
die Masse der Subaltern-Offiziere wieder verdorben."
Die preußische Zeit währte nur kurz, Reformen konnten kaum Fuß fassen.
Der staatsunmittelbare Bereich von Verfassung, Verwaltung und Gerichtsaufbau
erfuhr den raschesten Wandel. In zweiter Linie wurde das Steuer- und Militärwesen
erfaßt. In der dritten Ebene, der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung,
hinterließen die Preußen kaum Spuren.
Alle neuen Landesherren in Westfalen haben von der reichsrechtlich verbürgten
Genehmigung zur Aufhebung geistlicher Institutionen Gebrauch gemacht.
Nirgendwo gab es ein generelles Aufhebungsdekret, jeder Fall wurde im
einzelnen geprüft. Die Bestimmungen des RDHS zur Versorgung der Exkonventualen
wurden in der Regel beachtet und waren beispielsweise im Herzogtum Westfalen
außerordentlich großzügig ausgelegt. Vor der Aufhebung geschlossener Frauenorden
erbaten die Behörden meist die Genehmigung der Diözesanleitung. In den
preußischen Gebieten beließ man die Frauenorden, bestimmte sie jedoch
durch eine Novizinnensperre zum Aussterben. Einige Damenstifte wurden
zur Aufnahme von Mitgliedern aller Konfessionen gezwungen. Die Mehrheit
der Ordensleute nahm die Vorgänge passiv hin.
Das Münstersche Domkapitel
Fast überall im Reich wurden die Domkapitel in die Säkularisation einbezogen,
wobei sie als geistliche Institutionen erhalten blieben und die Domkirchen
mit den erforderlichen Mitteln auszustatten waren. Das Domkapitel in Münster
blieb bestehen, die politischen Rechte wurden ihm zusammen mit der ständischen
Ordnung jedoch entzogen.
Das Domkapitel als Landesregierung repräsentierte die ansässigen stiftsfähigen
Adelsfamilien, aus ihrem Kreis wurden die Kapitelmitglieder kooptiert.
Die ihm unterstellte Administration rekrutierte sich ebenfalls aus diesen
Familien. Zwischen den Familien gab es zwei wesentliche Parteiungen, auf
der einen Seite die Anhänger Franz Freiherr von Fürstenbergs, die sich
ihre Rückendeckung von Preußen verschaffte, auf der anderen Seite war
eine Gruppe um Ferdinand August Graf Spiegel geschart, die sich an Habsburg
anlehnte. Spiegel stand also in der Tradition des aufgeklärten Absolutismus
josephinischer Provenienz, die kirchliche und weltliche Verwaltung rational
reformieren wollte. Die Fürstenberg-Gruppe entwickelte sich zum Verteidiger
ständischer Rechte und strenger Kirchlichkeit. Spiegel rückte bald dank
seiner Tüchtigkeit und mangels eines Kandidaten der Fürstenberg-Gruppe
in die höchsten Positionen des Fürstbistums auf. Nach dem Tod des letzten
Fürstbischofs bis zum Einrücken der preußischen Truppen leitete er als
Domdechant die weltlichen Geschäfte und hielt auch die Wahl Anton Viktors
ab. Nachdem Preußen die ständische Ordnung aufgehoben hatte, womit Spiegel
die Grundlage entzogen war, und Fürstenberg zum Generalvikar gewählt war,
verlor Spiegel alle Möglichkeiten, auf die weltliche Verwaltung einzuwirken.
Als Kapitularvikar, in Vertretung der bischöflichen Funktionen, fungierte
danach Franz Wilhelm von Fürstenberg zusammen mit Clemens August von Droste
zu Vischering. Im Jahr 1808 wurde dieses Amt auf Droste Vischering allein
übertragen.
Mit dem Generalvikariat unter Fürstenberg und dessen Nachfolger Clemens
August von Droste zu Vischering machte der preußische Militärgouverneur
bald unangenehme Erfahrungen. Die Spannungen erreichten im Sommer 1806
ihren Höhepunkt, als das Kapitel die Rekrutierungen behinderte. Die darauf
folgende Aufhebung des Domkapitels am 20. September konnte nicht mehr
wirksam werden, weil wenige Wochen später die preußische Herrschaft beendet
war.
Im November 1806, nach der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt, rückten
französische Truppen in Münster ein. Die politische Übernahme zog sich
bis zum Frieden von Tilsit 7./9. Juli 1807 hin. Während ehemals preußische
Besitzungen um Teile Hannover, Paderborn usw. das neue Königreich Westfalen
bildeten, wurde das Erbfürstentum Münster 1808 dem Großherzogtum Berg
zugeschlagen. Durch Senatsbeschluß vom 13. Dezember 1810 wiederum wurde
das Großherzogtum zusammen mit anderen Gebieten an der Nordsee mit dem
Kaiserreich vereinigt.
Wenn auch schon die preußische Regierung keine Anstalten gemacht hatte,
den Bischofsstuhl neu zu besetzen, bestand unter Napoleon die Gefahr der
endgültigen Suppression. Im November 1811 hob Napoleon per Dekret alle
geistlichen Institutionen des Lippedepartements auf, die Verfügung wurde
aber schon am 24. August 1812 wieder rückgängig gemacht. Der Franzosenkaiser
strebte danach, das Bistum enger an Frankreich zu binden. Unter Berufung
auf das Konkordat von 1801, das dem ersten Konsul die Nominierung der
Bischöfe zugestand, setzte er den Freiherrn von Spiegel zum Bischof ein.
Da das Konkordat nur für linksrheinische Gebiete Gültigkeit hatte, nicht
aber für die erst später eroberten rechtsrheinischen, war die Berufung
Spiegels unter kirchenrechtlichem Gesichtspunkt rechtsungültig. Um aber
ein auskömmliches Verhältnis mit den französischen Behörden herzustellen,
wurde Spiegel vom Kapitel zum zweiten Generalvikar gewählt. Clemens August
von Droste zu Vischering, ein Parteigänger der Ultramontanen, der diesen
Posten eigentlich ausfüllte, mußte auf die ihm zukommende Funktion verzichten
und war damit entmachtet.
Nach dem Zusammenbruch der französischen Herrschaft und der Wiederinbesitznahme
der westfälischen Gebiete durch Preußen, wurden drei Regierungsbezirke
gegründet, einer davon war Münster. In kirchlichen Angelegenheiten wollte
die Berliner Regierung eigene Vorstellungen durchsetzen. Noch bevor sie
richtig zum Zuge kam, hatte Clemens August von Droste zu Vischering die
Initiative ergriffen. Er war im September 1814 nach Rom gereist und hatte
sich dort der Unterstützung der Kurie versichert. Man erklärte ihm, daß
die Bestellung zweier Generalvikare ungültig sei. Zurückgekehrt beendete
er die "staatsbischöfliche" Wirksamkeit Spiegels - gegen den
Willen Preußens, welches mit Spiegel gute Erfahrungen gemacht hatte. Spiegel,
der entgegen preußischer Wünsche zu einem Rücktritt bereit gewesen wäre,
wurde durch Drostes Handeln düpiert. Der inzwischen eingesetzte preußische
Oberpräsident Ludwig von Vincke wollte das Vorgehen Drostes nicht hinnehmen,
etwas voreilig veröffentlichte er einen entsprechenden Erlaß im "Münsterischen
Intelligenzblatt". In Berlin war man vorsichtig, man forderte Droste
auf, seine Ansprüche zu belegen, worauf dieser ein päpstliches Breve vom
14. Oktober 1814 einsandte. Daraufhin genehmigte die Regierung die Veröffentlichung
des Breves. Durch die schwankende Haltung des Ministeriums war Vincke
öffentlich desavouiert, Spiegel in eine verhängnisvolle Lage gebracht,
Drostes Position aber erheblich gestärkt worden. Eine andere Folge des
Breves war die Wiederherstellung des Status quo ante im Domkapitel. Alle
unter napoleonischer Herrschaft hinzugewählten Domherren mußten zurücktreten,
an ihre Stelle traten die vormaligen Kapitulare und mit ihnen Spiegel
als alter Domdechant. In den Auseinandersetzungen während der Säkularisation
gab es also drei große Parteiungen. Auf der einen Seite den preußischen
Staat, der im Grunde sehr behutsam vorging, auf der anderen zwei katholische
Linien. Die eine, pragmatische, war repräsentiert von Spiegel, die andere,
kompromißlos die Autonomie der Kirche verteidigend und nach Rom orientierte,
die von Clemens August von Droste zu Vischering.
C. A. v. Droste zu Vischering und die Gallitzinsche
"familia sacra"
Die Wurzeln der Entzweiung zwischen Spiegel und Droste zu Vischering
lagen in der Parteiung des stiftfähigen Adels, also in der Besetzungspolitik
des Kapitels. Die Parteiung reichte schon lange vor die Ereignisse der
Säkularisation zurück. Die Dynamik des Konflikts entfaltete sich, nachdem
die Stände ihre Dignität verloren hatten, an der Neuorientierung der Kirche.
Spiegel stand den Ideen Wessenbergs nahe, Droste den ultramontanen Erneuerern
der Erweckungsbewegungen.
Clemens August von Droste zu Vischering war eng dem münsterschen Kreis
der Fürstin Adelheid Amalia von Gallitzin verbunden, in deren Haus er
zusammen mit seinem Bruder aufwuchs. Ihre bekannten pädagogischen Interessen
prädestinierte die Fürstin dazu, den Sohn aus einer der bedeutendsten
Familien Münsters christlich zu erziehen. Clemens August von Droste zu
Vischering kann ruhigen Gewissens als der Pflegesohn der Fürstin bezeichnet
werden, dem sie sich mit besonderer Zuneigung widmete.
Die Fürstin lebte seit 1779 in einer Art geistigen Ehe mit dem Domherrn
Franz Freiherr von Fürstenberg, dessentwegen sie sich von ihrem Ehegatten
getrennt und sich in Münster niedergelassen hatte. Ihr Haus in der grünen
Gasse avancierte in den 1780er Jahren zu einem Zentrum der Münsterschen
Gesellschaft. Ähnlich wie viele Romantiker später war sie 1786 nach schwerer
Krankheit unter dem Einfluß Fürstenbergs zum Katholizismus konvertiert.
Der Kreis, der sich um Fürstenberg und die Fürstin Gallitzin scharte wurde,
nachdem die Fürstin sich von der deistischen Aufklärung abgewandt hatte,
zu einem einflußreichen Zirkel der aufkommenden Erweckungsbewegung. Um
die "Familia sacra" sammelten sich vor allem katholische Pädagogen.
Fürstenberg selbst war der Gründer der Münsterschen Universität. Der Priester
Bernhard Overberg, ein führender Neuerer in der katholischen Pädagogik,
gehörte zu den engsten Vertrauten der Fürstin. Der Gallitzinsche Kreis
hatte Kontakte zu prominenten Köpfen des Reiches. Dazu gehörte Goethe
ebenso wie Beethoven, Johann Georg Hamann, Mathias Claudius und vor allem
der späteren Bischof Michael Sailer aus Landshut. Im Jahre 1800 konvertierte
der Graf Stolberg im Gallitzinschen Hause, er blieb dem Kreis eng verbunden.
Dessen "Geschichte der Religion Jesu Christi" wird als Vermächtnis
des Kreises von Münster angesehen. Zum Ende des Jahrhunderts hin bis zu
seinem Ende mit dem Tod Fürstenbergs (1810) und der Fürstin Gallitzin
(1806) war der Kreis mehr und mehr der Mystik zugetan. Mit der Leidensgeschichte
Anna Katharina Emmericks war der Kreis nicht nur geistig, sondern auch
über die Personen Droste, Overberg, Stolberg, Michael Sailer sowie den
Geschwistern Diepenbrock verbunden.
Im Konflikt mit Spiegel und den staatlichen Suprematieansprüchen mögen
die Parteiungen im Münsterschen Domkapitel sicherlich einen Anteil gehabt
haben. Der wesentliche Grund für die anhaltende Opposition gegen die Staatsmacht
lag jedoch in seiner Verwurzelung im Münsterschen Kreis. Clemens August
von Droste zu Vischering war als Quasi- Pflegesohn der Fürstin von dem
Milieu des Gallitzinschen Kreises geprägt. Allerdings nahm er nur die
späten, mystischen Entwicklungen in sich auf. Vom aufgeklärten Bildungshintergrund
der Fürstin und der geistigen Offenheit des Kreises blieb er merkwürdig
unberührt. Mit heutigen Maßstäben könnte man ihn vielleicht als Fundamentalisten
bezeichnen. Seine Opposition gegen den preußischen Staat, sogar gegen
die Politik der Römischen Kurie war gespeist aus seiner Vorstellung der
unbedingten Suprematie der Kirche in der Gesellschaft. Staatlichen Institutionen
räumte er bestenfalls schützende oder nebengeordnete Funktionen ein. Die
Vereinigung von Landesherrschaft und Kirchenoberheit, wie in den hohenzollernschen
Ländern seit dem Augsburger Frieden praktiziert, war für ihn nicht akzeptabel.
Schon gar nicht konnte Droste Vischering die Einsetzung eines Bischofs
durch den Kaiser der Franzosen hinnehmen, der zudem noch den Papst in
Fontainebleau als Geisel gefangenhielt. Hier wich er nur der Macht der
Besatzungsbehörden, die Zurücksetzung in seinem Amt empfand er lebenslang
als Kränkung durch die weltliche Gewalt. Hieraus ist auch sein sofortiges
Interesse an den wundersamen Vorgängen in Dülmen zu erklären.
In genau die Zeit der Auseinandersetzungen in und um das Domkapitel seit
Mitte 1812 fiel der Beginn der öffentlichen Leiden der Emmerick. Die Stigmatisation
der Emmerick konnte ihm, während dieser Demütigung, nur als Fingerzeig
Gottes erscheinen. Droste Vischering schaltete sich schon unmittelbar
nach den ersten Nachrichten mehrfach in die Vorgänge um die Kranke ein.
So erbat er regelmäßige Berichte vom Dechanten Rensing, suchte die Kranke
mit seinem Arzt Druffel auf, vernahm die exklaustrierten Nonnen des Klosters
Agnetenberg und veranlaßte die kirchliche Untersuchung des Falles.
Droste Vischering nutzte die wachsende Neugier der Bevölkerung nicht
für eine spirituelle Demonstration gegen die Besetzung des Bistums, die
neuen Herrscher oder den von ihnen eingesetzten Bischof. Ganz im Gegenteil
unterband er die vielen Besuche bei der Emmerick, die leicht zu einer
Wallfahrt ähnlichen Veranstaltung sich hätte ausweiten können. Vermutlich
war er sich der politischen Sprengkraft des Falles voll bewußt, ebenso
aber auch des Risikos für das Domkapitel. Unklar bleibt, ob er die kranke
Nonne oder das Kapitel vor Eingriffen der ganz und gar nicht abergläubigen
Obrigkeit schützen wollte. Ein Übergriff gegen die Nonne hätte mit großer
Wahrscheinlichkeit eine öffentliche Protestreaktion der tiefkatholischen
Bevölkerung gegen die staatlichen Behörden provoziert, deren Ausgang nicht
abzuschätzen war. Andererseits hätte ein Federstrich Napoleons genügt,
das Kapitel aufzuheben und oppositionelle Regungen notfalls auch militärisch
zu unterdrücken, wie es das Beispiel Südtirol abschreckend zeigte.
Konfliktfeld theologische Fakultät
In seinem Kampf gegen Spiegel und die weltliche Obrigkeit nutzt der Generalvikar
eine andere Arena, nämlich das Kuratorium der Münsterschen Universität.
Das Kuratorium hatte die Professoren der Universität zu berufen, hier
wurden die Richtungsentscheidungen für die Ausbildung junger Priester
getroffen. Gerade den Bildungssektor wollte Vischering dem Einfluß der
Kirche vorbehalten, hier berief er sich auf den althergebrachten Anspruch
der Kirche. Am 9. April 1807 war Droste von der französischen Administration
in das Gremium berufen worden, in welchem neben ihm selbst Spiegel und
ein Vertreter der Staatsmacht - A. v. Merveldt - saß. Spiegel hatte sich
nach seiner Entmachtung 1802 von seiner Funktion als Domdechant in die
Universität zurückgezogen. Seit 1805 hatte er die Geschicke der Universität
im Sinne einer maßvollen Aufklärung fast allein bestimmt und den Professor
für biblische Exegese Michael Wecklein berufen. Droste, als neuem Kuratoriumsmitglied,
gelang es nicht, die Berufung dieses Aufklärers vollständig rückgängig
zu machen; er erreichte aber immerhin die Beschränkung des Professors
auf orientalische Sprachen und verhinderte dessen Bekleidung des Dekanats.
1818 war Wecklein dann ganz von der Universität verdrängt. 1808 wollte
Droste seinen Hauslehrer Katerkamp für die freigewordene Professur für
Kirchengeschichte durchsetzen, scheiterte jedoch an Spiegel. Katerkamp
übte zwar die Lehrtätigkeit aus, eine ordentliche Professur erhielt er
aber erst 1819.
Inzwischen hatten preußische Behörden die Leitung der Universität übernommen.
Droste Vischering hatte nun keine direkte Handhabe mehr, in die Hochschule
hineinzuregieren. Es gab jedoch keine verbindliche Regelung zwischen den
Behörden und den kirchlichen Autoritäten, was die theologische Fakultät
betraf. Hier eröffnete sich dem Generalvikar die Möglichkeit, eine Machtprobe
mit dem preußischen Staat zu führen. Auslösend war die Lehrtätigkeit des
Dogmatikprofessors Georg Hermes, dessen Lehre Droste für unorthodox hielt.
Ein weiterer Stein des Anstoßes war Hermes' "Philosophische Einleitung"
in die katholische Theologie, die ohne Imprimatur 1819 veröffentlicht
wurde. Hermes kam Drangsalierungen durch Droste zuvor, indem er einen
Ruf nach dem nahegelegenen Bonn annahm. Daraufhin verbot Droste den Theologiestudenten
Münsters, ohne Genehmigung Vorlesungen an auswärtigen Universitäten zu
hören. Zuwiderhandlungen würden durch Nichterteilen der kirchlichen Weihen
bestraft. Das Verbot sollte außerdem jedes Semester den Studenten erneut
bekanntgegeben werden.
Bei diesen Anweisungen handelte es sich um eine klare Kompetenzüberschreitung
des Generalvikars, die sich der neu eingesetzte Kurator, der preußische
Oberpräsident Ludwig von Vincke, nicht ohne weiteres gefallen ließ. Als
Droste auch noch die freigewordene Stelle mit seinem Kandidaten besetzte
- es handelte sich um einen Gallitziner und ehemaligen Erzieher im Hause
Stolberg - erklärte Vincke, daß den kirchlichen Autoritäten kein Besetzungsrecht
zukäme. Von Berlin aus versuchte man mittels Overberg mäßigend auf Droste
Vischering einzuwirken. Dieser widersetzte sich allen Vermittlungsversuchen,
er könne nicht anders, er folge einer höheren Eingebung. Am 6. April 1820
wurde die theologische Fakultät Münster per Kabinettsorder suspendiert,
gegen Droste Vischering selbst ging die Regierung jedoch nicht entschiedener
vor, weil die Verhandlungen in Rom um die Neuordnung der katholischen
Kirche in Deutschland nicht beeinträchtigt werden sollten. Mit Rom war
sich die preußische Regierung mittlerweile einig, Droste von der Leitung
des Bistums zu entfernen. Am 28. August war das Ziel erreicht, indem der
bisherige Fürstbischof von Corvey, Ferdinand Freiherr von Lüninck, zum
Bischof von Münster bestellt wurde. v. Lüninck hob alle Entscheidungen
Droste Vischerings auf, dieser schied aus der Bistumsverwaltung aus.
Im Streit um die Priesterausbildung konnte Droste Vischering die Autonomie
der Kirche genauso wenig behaupten wie in der drohenden Auseinandersetzung
um die Dülmer Nonne. Im Falle der Emmerick wurde die preußische Regierung
aktiv, sie forderte eine staatliche Untersuchung. Diese neuerliche Untersuchung,
sie sollte zu Beginn des Jahres 1819 stattfinden, ist unbedingt im Zusammenhang
mit dem Konflikt Droste - Vincke zu betrachten. Immerhin stellte die stigmatisierte
Nonne immer noch einen gewissen "Trumpf" im Ärmel des Generalvikars
dar. Brentanos Anwesenheit seit September 1818 gab der öffentlichen Prominenz
des Falles noch zusätzlichen Auftrieb, zumal der Konflikt bei den mittlerweile
vielfach konvertierten romantischen Literaten genau beobachtet wurde.
Eine Steigerung der Auseinandersetzungen, ein von Droste Vischering provozierter
öffentlicher Eklat, also etwa die Verweigerung der staatlichen Untersuchung
der Emmerick hätte die Gefahr mit sich gebracht, daß der Gegensatz Staat
- Kirche den Protagonisten entglitten wäre, was enorme Konsequenzen für
die politische Stellung der katholischen Kirche in Preußen gehabt hätte.
Daran war wohl auch Clemens August von Droste zu Vischering nicht interessiert.
Die Auseinandersetzung um die Priorität kirchlicher Entscheidung an katholischen
Ausbildungsstätten hat Droste Vischering mit äußerster Härte in seinen
Tagen als Kölner Erzbischof weitergeführt. Schon 1820 hätte die preußische
Regierung gewarnt sein müssen, dem münsteraner Fundamentalisten eine höhere
Position zuzugestehen. Fast zwanzig Jahre später nahm Droste Vischering
als Erzbischof von Köln und Nachfolger Spiegels den Kampf um Hermes wieder
auf, unterlag in diesem Kampf jedoch abermals. Die Weiterung des Konflikts,
die als "Kölner Wirren" bekannt wurden, brachte ihn in preußische
Festungshaft. Am Ende war er als Erzbischof entmachtet, nach Münster verbannt
und von der römischen Kurie fallengelassen.
Anna Katharina Emmerick und Dülmen
Das Münster nahebei westlich gelegene Städtchen Dülmen gehörte zuerst
nicht zum preußischen Säkularisationsgewinn. Es fiel 1803 an den Herzog
von Croy, der aus dem Amt Dülmen und seinem Besitz die Grafschaft Croy-Dülmen
bildete. Die Croys hatten in der Stadt Dülmen ein Schloß. Der Herzog säkularisierte
das Kloster nicht, vermutlich deshalb, weil kein größerer materieller
Gewinn zu erwarten war." Im Jahre 1802 übernahm Herzog Emmanuel
von Croy die Herrschaft über Dülmen; alle geistlichen Güter gingen in
seinen Privatbesitz über. Während nun nach vorher eingeholter Zustimmung
des Papstes die Cartause Weddern aufgehoben wurde, ließen die Herzöge
das Kloster Agnetenberg bestehen. Als am 31. August 1803 der triumphale
Einzug in Dülmen gehalten wurde, gab der neue Fürst ein glänzendes Festmahl,
bei welchem jeder umsonst nach Belieben essen konnte. An dieses schloß
sich ein Festball an, der wegen des Mangels eines geräumigen Saales im
Kloster Agnetenberg abgehalten wurde. Ob und in wie weit die Schwestern
sich beteiligten, ist nicht verzeichnet. Zwei Wochen später wurde dem
neuen Fürsten eine eigenartige Bittschrift vorgelegt: Zwei arme Mädchen,
Novizinnen des Klosters Agnetenberg, baten um die Erlaubnis, zur heiligen
Profeß zugelassen zu werden; es waren Clara Söntgen und Anna Katharina
Emmerick."
Kaum zu überschätzen für die Erklärung der hysterischen Anfälle der Anna
Katharina Emmerick ist die Nachricht, daß der Herzog die im Kloster untergebrachte
"Irrenanstalt" schließen ließ. Stattdessen erweiterte er die
Bildungstätigkeit des Klosters für den Ort, indem er eine dritte Lehrerin
unterrichten ließ. Nach der Niederlage Preußens 1806 wurde Dülmen dem
Herzog von Arenberg zugesprochen. Die Arenberger gehörten zu den Erstmitgliedern
des Rheinbundes. Als der Herzog von Arenberg eine Nichte der Kaiserin
Josephine heiratete, gehörte er mit zum weiteren Umkreis der Familie Napoleons.
Arenberg vertrat nun französische Interessen auf rechtsrheinischem Gebiet.
Anders als bei den Säkularisationen behielten die Croys als Standesherren
in der Mediatisierung begrenzte Hoheitsrechte, die niedere Gerichtsbarkeit
und eine eingeschränkte Polizeigewalt. Durch den Beschluß des Senats vom
13. Dezember 1810 wurde auch das Herzogtum Arenberg mediatisiert, Dülmen
kam an das Kaiserreich Frankreich und blieb es bis zum Zusammenbruch des
Empires 1813/14. Der Maire von Dülmen, also Bürgermeister, wurde 1813
August Philipp Emanuel Herzog von Croy, der Oberpolizeikommissar war der
Franzose Garnier. Beide spielten im Leben der Emmerick eine gewisse Rolle,
da der Herzog von Croy als neuer Landesherr und auch als Bürgermeister
für die Pensionsansprüche der säkularisierten Ordensmitglieder verpflichtet
war. Garnier hingegen, der für die Sicherheit und Unterdrückung antifranzösischer
Propaganda zuständig war, übte Druck auf die kirchlichen Stellen aus,
den "Fall Emmerick" genauer zu untersuchen. Garnier besuchte
selbst die Kranke am 4. April 1813 und verlangte Berichte von Droste.
Dabei scheint es so, als wenn die kirchlichen Autoritäten nach wie vor
die Zügel in der Hand hielten und die wechselnden Landesherren ihrer Kooperation
bedurften. Dies änderte sich erst mit der preußischen Herrschaft ab 1813/15.
Ende 1811 weilte Napoleon in Düsseldorf, im November erging die Anordnung,
sämtliche kirchlichen Institutionen aufzuheben. Von dem Dekret Napoleons,
welches wohl die Mobilisierung der übriggebliebenen Vermögensreserven
für den Rußlandfeldzug zum Ziele hatte, waren sowohl das Augustinerinnenkloster
Agnetenberg, als auch das Domkapitel in Münster betroffen. A. K. Emmerick
blieb noch bis in das Frühjahr 1812 im Kloster, in dieser Zeit begann
sich Clemens August von Droste zu Vischering für den Fall zu interessieren.
Die Franzosen waren nur unwesentlich beunruhigt, immerhin beauftragten
sie den Präfekten Garnier, den Fall zu beobachten und nach Paris zu berichten.
Da die Angelegenheit in der Zeit der Säkularisationswirren immer stärkeres
öffentliches Interesse erregte, bestellte Droste im August 1813 die kirchliche
Untersuchung. Als dann Preußen 1813/15 Dülmen übernahm, argwöhnten die
staatlichen Stellen, es handele sich bei der Emmerick um eine französische
Provokation. Ab November 1813 bis weit in das Frühjahr hinein war Dülmen
ein wichtiger Etappenort für preußische und russische Truppen. Die Chronik
der Stadt Dülmen verzeichnete die Belastungen: "Im ganzen Bezirk
hat kein Ort durch Einquartierungen und Kriegsfuhren so gelitten als Dülmen,
was es seiner Lage an der Heerstraße Münster - Dülmen bzw Düsseldorf zuzuschreiben
hat." ......."Im November 1813 mußte die Gemeinde Dülmen erst
die preußische Division von Thumen bewirten, dann passierte das ganze
(russische) Korps Witzingerode". In dieser Zeit war die Stigmatisierte
schon über die Stadt hinaus Gesprächsstoff, der sicherlich auch zu den
einquartierten Truppen gelangte. Ludwig Gerlachs und Christian Stolbergs
Besuch bei der Nonne datiert in die Apriltage 1815.
Die staatliche Untersuchung
Preußen hatte sich mit der Dülmener Nonne einen Kristallisationskern
römisch - katholischer Opposition eingehandelt, von dem noch lange unklar
bleiben sollte, welche politischen Auswirkungen er zeitigen würde. Clemens
August von Droste zu Vischering setzte die Wundertätige zumindest nicht
direkt in seine Auseinandersetzung mit Spiegel und Preußen ein. Sein starkes
Interesse läßt jedoch darauf schließen, daß er sich in dem Fall der wundertätigen
Nonne zumindest eine Option offen gehalten hat. Schon die Einsetzung der
kirchlichen Untersuchungskommission 1813 hatte für sich ja schon einen
gewissen Propagandaeffekt. Begünstigt wurde die starke Öffentlichkeitswirkung
durch den Streit, den der Fall in verschiedenen Publikationen auslöste.
Hier standen sich Parteiungen gegenüber, die einerseits das aufgeklärte
Denken repräsentierten, auf der anderen eine relativ junge Bewegung, die
Mythen, Wunder und Metaphysik für sich reklamierte: die Romantiker und
die Erweckungsbewegungen. Das Kgl. preußische Ministerium d. Inneren,
ob der oppositionellen Haltung der münsterschen Bevölkerung mißtrauisch
und von einer betrügerischen Inszenierung überzeugt, wies den Oberregierungspräsidenten
Ludwig von Vincke am 24. Januar 1817 an, Erkundigungen einzuziehen: "wenn
es sich ergibt, daß ihre Krankheit verderblichen Aberglauben oder törichten
Wunderglauben unterhält und befördert, so hat die Kgl. Regierung anzuzeigen,
was von ihrer Seite füglich den Umständen gemäß angeordnet werden kann,
um die Sache ins klare zu bringen." Die Regierung in Münster
berichtete am 19. Februar 1817 nach Berlin, daß sie über die Emmerick
nichts Nachteiliges zur Kenntnis genommen hätte, daß sie viel Besuch empfange,
von den Wundmalen Abdrücke genommen würden, die dann weit und breit insbesondere
nach Holland versandt würden. Der Meldung wurde einiges Schrifttum zu
dem Fall beigelegt. Als Hindernis einer genaueren Untersuchung wurde der
Wunsch genannt, "mit einer Partei" in Frieden leben zu wollen,
die einem solchen Anliegen entgegenstehe, einer Untersuchung nur unter
geistlicher Direktion zustimmen würde.
Zwischen dem Oberpräsidenten Ludwig v. Vinke und dem Generalvikar hatte
es unterdessen schon 1816 Verhandlungen um eine gemeinsame Untersuchungskommisson
gegeben. Droste Vischering hatte am 22. August 1816 ein detailliertes
Instruktionsprojekt verfaßt und dem Oberpräsidenten übergeben. Vischering
schlug darin eine Kommission aus vier vom Präsidenten und vier von ihm
zu bestimmenden Mitgliedern vor. Vincke verzögerte die Angelegenheit,
später legte er sie ad acta, weil er mit Vischering keine Einigung gefunden
hatte. Nach einer neuerlichen Weisung aus Berlin vom 30. November 1818
- der Fall zog immer weitere Kreise, der Zulauf mehrte sich bedenklich
- beauftragte Vincke den Landrat Bönninghausen mit der Zusammenstellung
einer Kommission, die am 3. Februar 1819 zusammentreten sollte. Zuvor
hatte Vincke über den Hofkammerrat Mersmann die Kranke beobachten lassen.
Dieser berichtete am 26. Januar, daß seit dem Weihnachtstag keine Blutungen
mehr aufgetreten seien und die Kranke auch wieder Nahrung zu sich nähme.
Diese Tatsachen meldete Vincke in seinem Bericht vom 26. Februar 19 nach
Berlin: "Sonach hatte die Kommission ihren Zweck, das trügerische
Unwahre aufzuklären erfüllet, ehe sie noch begann". Um ganz sicher
zu gehen, ließ der Präsident die Bettlägerige noch von Dr. Rave, den Kreisphysikus
des Borkenschen Kreises eingehend untersuchen, die Resultate legte er
seinem Bericht bei.
Die Sache schien erledigt, gleichwohl wurde eine Kommission am 3. August
1819 unter Bönninghausen einberufen. Daran nahmen Bönninghausen als Landrat,
Borges als der für Medizinalangelegenheiten zuständige Regierungsrat (wurde
später durch Dr. Zumbrinck abgelöst), die Ärzte Rave und Busch, Dr. Kessel
von Lüdinghausen, Bürgermeister Möllmann, der Apotheker Nagelschmidt und
der Organist Althoff teil. Die drei letztgenannten ersetzten die drei
geistlichen Mitglieder der Kommission, denen der Generalvikar eine Teilnahme
untersagt hatte.
Der Untersuchung folgte dann ein Bericht Bönninghausens, der Auslöser
einer größeren Kontroverse wurde. Letztendlich konnte aber in keiner der
Untersuchungen zweifelsfrei ein Betrug nachgewiesen werden.
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