Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und der Fall Emmerick- Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


Politischer Umbruch um 1800

 

Das Schicksal der Augustinerinnennonne Anna Katharina Emmerick war unmittelbar verbunden mit der politischen Umstrukturierung Deutschlands um 1800. Ihr Kloster Agnetenberg in Dülmen gehörte zur Diözese Münster, die als Fürstbistum 1802 säkularisiert wurde. Die Aufhebung des Klosters erfolgte auf eine Anweisung, die Napoleon im November 1811 in Düsseldorf erließ. Die Nonnen mußten das Kloster verlassen, ihre Zukunft war ungewiß. Mit der Exklaustrierung begann das öffentliche Leiden der Anna Katharina Emmerick. Ihre Karriere als Stigmatisierte von Dülmen hing einerseits mit der naiven Gläubigkeit der westfälischen Landbevölkerung zusammen. Andererseits geriet der Fall rasch zum Spielball anderer Interessen, wobei die kranke Nonne aus der Anonymität herausgerissen wurde. Im Fall der wundersam Kranken trafen verschiedene Zeitströmungen aufeinander: Aufklärung, Staatsinteresse, romantische Erweckungsbewegungen, literarische Romantik, neue medizinische Systeme und vor allem Abgrenzungsinteresse der katholischen Kirche gegen den preußischen Suprematieanspruch.

Säkularisation in Westfalen

Auslösend für den grundsätzlichen Wandel in Politik, Gesellschaft und Kultur waren die Revolutionskriege und die nachfolgende Eroberung Mitteleuropas durch Napoleons Heere. Folge dieser kriegerischen Ereignisse waren die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches, die Neuordnung der deutschen Territorien und die Verteilung des weltlichen Besitzes der Katholischen Kirche. Am Ende dieser Umwälzungen, nach den Befreiungskriegen von 1813 und dem Wiener Kongreß 1815, hatte sich die Landkarte Deutschlands grundlegend geändert.

Die Neugestaltung der Landkarte begann mit der französische Eroberung des linken Rheinufers. Preußens Machtpolitik war zwar auf die Erweiterung im Osten orientiert, trotzdem hatte sich Preußen an den Kämpfen zur Niederringung der Französischen Revolution beteiligt. Der Anteil an der Beute nach der dritten Teilung Polens 1795 hatte Preußens Kräfte weitgehend absorbiert, deshalb schied es im Sonderfrieden zu Basel aus dem ersten Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich aus. Mit dem Friedensschluß waren geheime Absprachen verknüpft, die im August 1797 in einem Geheimvertrag mündeten, in dem erstmals die geistlichen Länder Westfalens als Kompensation für die linksrheinischen Verluste Preußens genannt wurden. Im Frieden von Campo Formio stimmte Österreich der Abtretung der linksrheinischen Reichsterritorien zu. Damit wurde das Säkularisationsprogramm, wenn auch mit Einschränkungen, akzeptiert, der Weg zur Neuordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen freigemacht. Auf dem nach Rastatt berufenen Friedenskongreß (Dezember 1797 bis April 1799) mußten die Reichsdeputierten die Vorabsprachen der drei Mächte hinnehmen. Eine Bestätigung erfuhren die Absprachen 1801 im Frieden von Lunéville, allerdings waren die zur Entschädigung vorgesehenen Gebiete jetzt nicht nur auf die Westfälischen Territorien beschränkt. In allen Friedensverträgen konnte Frankreich seine Vorstellungen zur Neugliederung Deutschlands durchsetzen. Neben den realpolitischen Motiven spielten revolutionär inspirierte antiklerikale Ressentiments eine starke Rolle. Frankreichs Politik zielte auf die Schwächung Österreichs, die Stärkung Preußens und die Bildung einer deutschen Mittelmacht. Die Rückdrängung der Kirchenmacht war dabei ein durchaus erwünschter Nebeneffekt.

Profitiert haben von der Neuverteilung zuvörderst Preußen, Hannover und die Süddeutschen Großterritorien, also Bayern, Württemberg und Baden. Daneben gab es eine Reihe kleinerer Herrschaften, die sich auf Kosten ehemaligen Reichsgutes oder geistlicher Länder ausdehnen konnten. Bei der Durchsetzung seiner Säkularisationsansprüche konnte Preußen sein politisches Gewicht in die Waagschale werfen. Kleinere Herrschaften waren auf dynastische Verbindungen, Protektion oder schlicht auf Bestechungsgelder angewiesen. Preußens Interesse war und blieb auch später, einen durchgehenden Korridor zu seinen westlichen Besitzungen zu erhalten und diese zu vergrößern. Im Reichsdeputationshauptschluß in Regensburg vom 25. Februar 1803 erhielt Preußen neben den ehemaligen Fürstbistümern Hildesheim und Paderborn die Abteien Herford, Quedlinburg, Elten, Essen, Werden und Kappenberg, dazu Erfurt sowie die Reichsstädte Mühlhausen, Nordhausen und Goslar, das Eichsfeld und den östlichen Teil des Hochstifts Münster mit der Stadt, wogegen es nur das Herzogtums Cleve aufgeben mußte. Das bedeutete einen Gewinn von 235 Quadratmeilen gegen 48 verlorene und von 600.000 gegen 137.000 Menschen.

Die Umverteilung der kleineren weltlichen und der geistlichen Territorien an die benachbarten Fürstentümer und neugeschaffenen Königreiche führte zur politischen Entmachtung der Fürstbischöfe und des niederen Adels. Die ständische Machtteilhabe an Ämtern in Domkapiteln, Pfründen und Klöstern ging weitgehend verloren. Für einen großen Teil der Bevölkerung zwischen Rhein und Elbe bedeutete das neue Landesregiment vor allem eine politische und kulturelle Fremdbestimmung. Indem weite Teile des katholisch dominierten Westfalens und des Rheinlandes zum protestantischen Preußen kamen, waren konfessionelle Spannungen unvermeidlich. Die Administration in den neuen Preußischen Provinzen war von Berlin eingesetzt, protestantisch und altpreußisch orientiert. Entgegen dem alten Herkommen ging die politische Macht nun von einer weit entfernten Hauptstadt aus und nicht vom regional legitimierten Adel. Für die meisten Gebiete Westfalens vollzog sich der Wandel in einem Dreischritt. Zeitlich liegen die Einschnitte bei 1802/3 erste Besitzergreifung, 1806 Besetzung durch die Franzosen und 1815 Zuweisung durch den Wiener Kongreß.

Katholische Kirche und Preußen

Innerhalb der Kirche brodelte der Kampf um Nationalkirchentum und Romorientierung. Seit dem 18. Jahrhundert gab es partikulare episkopale Bestrebungen, die sich unter dem Begriff "Febronianismus" zusammenfanden. Die nationalkirchlichen Ideen wurden von dem Konstanzer Aufklärer und Bischof Wessenberg aufgegriffen und weiterverbreitet. Sie wurden später vertreten durch den rationalistischen Theologen Georg Hermes, weshalb sie auch unter dem Begriff "Hermesianismus" bekannt wurden. Dem gegenüber stand die Hinwendung zum Papst "hinter den Bergen", eine Richtung, die als Ultramontanismus bekannt wurde. Die Wirren der Säkularisation und das Wiedererstarken des Papsttums beendeten die nationalkirchlichen Bestrebungen rasch.

Der Übergang vom konfessionellen zum paritätischen Staat beinhaltete für den deutschen Katholizismus die Notwendigkeit, sich als Teil des gesellschaftlichen Ganzen zu begreifen und in einem neuartigen politischen Kräftefeld zu bestehen. Der Absolutheitsanspruch der katholischen Kirche kollidierte mit dem des Staates. Der Anspruch beider war durch Aufklärung und Bürgeremanzipation schon lange in Frage gestellt. Nichtsdestrotrotz wurde er eingefordert, von den Gläubigen und von den Untertanen. Andererseits wurden aus ursprünglich religiösen Forderungen sekundär politische, weil sie sich an den Staat richteten.

Auf dem Wiener Kongreß wurde ein deutsches Bundeskirchenrecht nicht verabschiedet. Dadurch fiel das gesamte Staatskirchenrecht im Vormärz an die ausschließliche Zuständigkeit der Einzelstaaten des Deutschen Bundes. Zur Regelung der staatskirchlichen Fragen handelte die römische Kurie zwischen 1817 und 1827 mit den einzelnen Bundesstaaten Staatskirchenverträge aus. Die Bundesakte des Wiener Kongresses erklärte in religiöser Hinsicht im Artikel XVI lediglich, daß "die Verschiedenheit der christlichen Religions - Partheyen" in den Ländern und Gebieten des Deutschen Bundes "keinen Unterschied in dem Genusse der Bürgerlichen und politischen Rechte" begründen könne.

Nach damaligem Sprachgebrauch waren damit die drei christlichen Hauptkonfessionen umschrieben: Katholiken, Lutheraner und Reformierte. In den preußischen Landen wurden Lutheraner und Reformierte 1817 zur Unionierten Kirche unter ihrem Oberhaupt, dem "summus episcopus", dem König zusammengefaßt. Das Kirchenrecht war im Allgemeinen Landrecht von 1794 im Geiste der aufgeklärten Toleranz fixiert worden. Danach war jede Kirchengesellschaft zugelassen, aber der Oberaufsicht des Staates unterworfen. Die Geistlichen der privilegierten Religionsgemeinschaften wurden als Beamte des Staates betrachtet. Die katholische Kirche unterlag gewissen Einschränkungen. Darunter fiel die Zulassung von geistlichen Orden und Gesellschaften, das staatliche Plazet für die Veröffentlichung päpstlicher Breven und Bullen, das Beschwerderecht an die Staatsbehörden gegen kirchliche Anordnungen, die staatliche Aufsicht über den Verkehr zwischen Bischöfen und dem Vatikan sowie über die kirchliche Vermögensverwaltung und die kirchlichen Unterrichtsanstalten.

Doch ganz gleich waren die verschiedenen Konfessionen in Preußen nicht gestellt. Noch 1810 befahl König Friedrich Wilhelm III. seinen katholischen Soldaten, an jedem vierten Sonntag dem evangelischen Militärgottesdienst beizuwohnen, um sie an die "nötige Achtung für die Hauptreligion des Landes zu gewöhnen". Als durch die westdeutschen Erwerbungen sich die konfessionellen Verhältnisse verschoben, trat kaum eine Änderung in die Kultuspolitik ein. Das programmatische kirchenpolitische Dokument bleibt die Äußerung aus der Denkschrift Altensteins vom Frühjahr 1819: "Der preußische Staat ist ein evangelischer Staat und hat über ein Drittel katholische Untertanen. Das Verhältnis ist schwierig. Es stellt sich richtig dar, wenn die Regierung für die evangelische Kirche sorgt mit Liebe, für die katholische Kirche sorgt nach Pflicht. Die evangelische Kirche muß begünstigt werden. Die katholische Kirche soll nicht zurückgesetzt werden - es wird für ihr bestes Pflichtgemäß gesorgt"

In den Verhandlungen mit der Kurie hatte Preußen einen widerspenstigen Partner, von dessen Intentionen und weitausgreifenden Ansprüchen man in Berlin nichts ahnte. Die päpstliche Kurie dachte trotz aller Katastrophen nicht daran, auf ihren universellen Besitzstand zu verzichten. Sie setzte auf langfristiges Durchsetzen ihrer Interessen, rechnete sich Chancen aus, über die Lebzeiten der jeweils herrschenden Potentaten doch noch ihre Ansprüche realisieren zu können. Sie war aber bestrebt, ihre Positionen gegenüber den neuen Herren auszubauen und erst einmal rechtlich abzusichern. Das Denken der Kurie belegt ein ebenso drastisches Zitat des Preußischen Gesandten, Frhr. V. Bunsen, in Rom: "Der Grad von Macht, den die römische Kirche über ihre Glieder ausübt, und der erneute, stets wachsende Entschluß, diese Macht bis zur äußersten Grenze auszudehnen, war völlig unbekannt. Der Eindruck war allgemein, daß die französische Revolution und ihre Folgen den Papst und seine Macht vernichtet hätten und daß beide nur noch geduldete Existenzen führten; daß sie keine Forderung machen wollten und könnten, sondern bereit seien, in alles einzuwilligen, was von der Politik verfügt werde."

Bei der Eingliederung der neuen westlichen Provinzen in den preußischen Staat von 1815 sollten die unterschiedlichen Interessen dann konkret aufeinanderstoßen.

Die Verhältnisse im Hochstift Münster

Schon vor der Säkularisation von 1803 war Preußen bei den Münsteranern außerordentlich unbeliebt. Insbesondere fürchtete man sein zentralistisches Regiment, durchgreifende Bürokratie, harten Steuerdruck und militärischen Drill. Adel und Klerus fürchteten die Beschneidung ihrer ständischen Rechte, insbesondere die Auflösung des Domkapitels. Vor allem galt die Religionsverschiedenheit als unüberbrückbare Kluft..

Die Spannungen zwischen dem Domkapitel und preußischer Regierung bestanden schon geraume Zeit, da Preußen schon vor der Übernahme Münsters in die Besetzungsangelegenheiten des Domkapitels eingegriffen hatte. Vorausgegangen war eine lange Sedivakanz, die sich dadurch verkomplizierte, daß der Bischofsstuhl des Hochstifts in Personalunion verbunden war mit dem des Erzbistums Köln. Beide Bistümer waren seit dem Tod des Kurfürsten Max Franz am 26. Juli 1801 ohne Bischof und Regenten, sie wurden kommissarisch von dem jeweiligen Generalvikar der Domkapitel geführt. In Münster wurde der Domdechant Ferdinand August Freiherr von Spiegel zum Desenberg zum Interimsregenten bestellt. Das Recht, den Bischof von Köln zu stellen, lag beim Haus Habsburg, eine Gepflogenheit, die darin begründet war, daß mit dem Erzbistum die Kurwürde verbunden war. Habsburg konnte damit wenigstens eine Stimme in das Kollegium der Kurfürsten einbringen, auch wenn eine Kaiserwahl seit dem späten Mittelalter nicht mehr notwendig war, weil Habsburg die Thronfolge sichern konnte. Die Domkapitel Kölns und Münsters fühlten sich angesichts der reichspolitischen Bedeutung der Bistümer vor Übergriffen relativ sicher. Die Sedivakanz brachte nun eine neue Situation. Nach Lage der Dinge kam als Kandidat nur ein Habsburger in Frage, der auch bald im Erzherzog Anton Viktor gefunden wurde.

Preußen setzte alles daran eine Neubesetzung des münsterschen Bischofstuhls zu verhindern, war es doch leichter von einem verwaisten Bistum Besitz zu ergreifen, als einen geistlichen Fürsten zu entmachten, besonders, wenn dieser ein Bruder des Kaisers war. Eine Ausnutzung der herrschaftslosen Situation wagte Preußen nicht, da es mit dem bewaffneten Widerstand des ansässigen Adels rechnen und die in Fanatismus umschlagende religiöse Abneigung der Bevölkerung fürchten mußte. Immerhin wurden einige Truppen in den benachbarten preußischen Gebieten zusammengezogen. Als beste Lösung erschien die Wahl einer Preußen genehmen Person, eine Lösung, die vom Domkapitel mit dem habsburgischen Kandidaten zunichte wurde. Das Kapitel versuchte aus dem latenten Gegensatz Habsburg / Hohenzollern Kapital zu schlagen und sich in Sicherheit zu bringen. Nach etlichen Verhandlungen erklärten sich der Kandidat Erzherzog Anton Viktor als auch der Wiener Hof mit der Wahl einverstanden. Entgegen dem ausdrücklichen Widerstand Preußens wurde der Habsburger am 7. September 1801 gewählt, das Volk jubelte, allgemein ging man nun davon aus, der Säkularisierung entgangen zu sein. Preußen seinerseits dachte nicht daran die Wahl anzuerkennen und drohte der münsterschen Regierung in einer diplomatischen Note. In Wien verhielt man sich nach vollzogener Wahl abwartend, am 19. Oktober teilte der gewählte Regent mit, es sei ihm unmöglich, die Regierung zu übernehmen. Die münsterschen Hoffnungen auf Österreich waren damit zusammengebrochen.

Das Besitzergreifungspatent für die an Preußen gefallenen Gebiete erging schon am 6. Juni 1802. Am 2. August 1802 - einen Tag vor dem Geburtstag des Königs und ein halbes Jahr vor dem Hauptschluß der Reichsdeputation - besetzte General Blücher die Stadt Münster mitsamt dem östlichen Teil des Hochstifts.

Der Oberpräsident vom Stein beschreibt die Stimmung:

"Man bemerkt mehr Niedergeschlagenheit, trübes Hinblicken in die Zukunft als Unwillen und Widersetzlichkeit. Der Adel fürchtet den Verlust seines politischen Daseins, seines Ansehens, seiner Stellen, die Geistlichkeit sieht ihrer gänzlichen Auflösung entgegen; der große Haufe ist beunruhigt über Abgaben, Akzisen und Konskriptionen und fürchtet auch mitunter für seine Religion. Es ist unbegreiflich, daß in einem Lande, welches, zwischen den preußischen Provinzen eingeschlossen, in diesen überall Beweise einer energievollen, milden, gesetzlichen, kenntnisreichen Verwaltung findet, solche rohen Begriffe über diese Verwaltung herrschen, die sich jedoch gewiß bei diesem ernsthaften, nachdenklichen und redlichen Volke mit der Zeit verlieren werden, wenn man ihm Zutrauen und Achtung zeigt, besonders die letztere, das der Münstelränder viel Nationalstolz hat, wie schon das westfälische Sprichwort 'Der münsterische Mops trägt den Kopf hoch' die Volksmeinung beweist."

Christoph Wilhelm Heinrich Sethe, ein aus dem französisch gewordenen Cleve vertriebener preußischer Gerichtsrat bestätigt die Beobachtungen Steins:

"Auf freundlichen Empfang und auf Zuvorkommenheit gegen uns eingewanderte Fremdlinge hatten wir nicht gerechnet, weil wir schon wußten, wie sehr die Münsteraner ihrer Verfassung anhingen, mit welcher Festigkeit ein großer Teil von ihnen noch auf den erwählten Viktor Anton (Der vom Domkapitel gewählte, aber von den neuen Herren verhinderte Fürstbischof, Bruder Franz II.) rechnete und wie ungern sie die neue preußische Herrschaft empfingen. Ich habe das den Münsterischen nie verübelt. Es war ein rühmlicher Zug in ihrem Charakter, daß sie sich ungern von einer Verfassung und Regierung trennten, unter welcher sie sich glücklich und zufrieden gefühlt hatten. Andere hingegen verargten ihnen dies sehr und verlangten, daß sie die Preußen mit offenen Armen empfangen und gleich mit Leib und Seele Preußen sein sollten, was nur von einem wetterwenderischen Volk zu erwarten ist oder aber von einem solchen, das unter den Fesseln einer harten despotischen Regierung geseufzt hat. Dies war unter allen deutschen geistlichen Staaten so wenig der Fall, daß es sprichwörtlich hieß: "Unterm Krummstab ist gut leben." Von Anfang an bestand daher eine gwisse Spannung und Distanz zwischen den Münsterschen und den hinzugekommenen Altpreußen, die sich nicht verminderte, sondern eher vermehrte. Es geschahen nämlich Dinge, welche eben nicht geeignet waren, die Annäherung zu fördern und bei den Münsterischen eine gute Stimmung zu erwecken. So wurden bei der Auflösung des münsterschen Militärs die meisten Offiziere mit einer Pension verabschiedet und so aus der Lebensbahn, die sie erwählt hatten, hinausgeworfen. Diese erste Maßregel nach der preußischen Besitznahme verwundete nicht allein die verabschiedeten Offiziere tief in ihrem Gemüt, sondern erregte auch bei ihren Familien und Freunden großes Mißbehagen. Allgemein sah man darin eine Ungerechtigkeit, zumal unter den münsterschen Offizieren wirklich viel Bildung und wissenschaftliche Kenntnis herrschte, womit der Bildungsstand der damaligen preußischen Offiziere einen Vergleich nicht aushielt. Die Einführung des Kantonwesens trug ebenfalls zur Vermehrung des Mißvergnügens bei, aber mehr noch erregten die Mißhandlungen, welche die zum Militärdienst ausgehobenen Söhne der Bürger und Landleute von jedem Unteroffizier erdulden mußten, einen allgemeinen Unwillen. Ich selbst bin Augenzeuge gewesen, wie ein Unteroffizier einen Rekruten mit Schimpfworten, Stößen und Fußtritten mißhandelte und ihn mit seinem Rohrstock auf die Schienbeine schlug, so daß dem armen Menschen vor Schmerz die Tränen über die Backen liefen. Auch war der Geist, der damals bei dem größten Teil der preußischen Offiziere herrschte, und das daraus hervorgehende Betragen derselben abstoßend und nicht geeignet, in einem neu erworbenen Lande Zutrauen zur preußischen Regierung zu erwecken. Zwar hatte sich Blücher, welcher damals Kommandant von Münster war, durch seine Volkstümlichkeit, seinen offenen und biederen Charakter und sein bei manchen Gelegenheiten hervorgetretenes Rechtsgefühl wirklich Achtung und Zuneigung erworben, und der General von Wobeser, Chef eines Dragonerregimentes, ein sehr vernünftiger, gebildeter und gemäßigter Mann, hielt hierin mit ihm gleichen Schritt. Allein, was diese beiden gutmachten, wurde durch andere, namentlich durch die Masse der Subaltern-Offiziere wieder verdorben."

Die preußische Zeit währte nur kurz, Reformen konnten kaum Fuß fassen. Der staatsunmittelbare Bereich von Verfassung, Verwaltung und Gerichtsaufbau erfuhr den raschesten Wandel. In zweiter Linie wurde das Steuer- und Militärwesen erfaßt. In der dritten Ebene, der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, hinterließen die Preußen kaum Spuren.

Alle neuen Landesherren in Westfalen haben von der reichsrechtlich verbürgten Genehmigung zur Aufhebung geistlicher Institutionen Gebrauch gemacht. Nirgendwo gab es ein generelles Aufhebungsdekret, jeder Fall wurde im einzelnen geprüft. Die Bestimmungen des RDHS zur Versorgung der Exkonventualen wurden in der Regel beachtet und waren beispielsweise im Herzogtum Westfalen außerordentlich großzügig ausgelegt. Vor der Aufhebung geschlossener Frauenorden erbaten die Behörden meist die Genehmigung der Diözesanleitung. In den preußischen Gebieten beließ man die Frauenorden, bestimmte sie jedoch durch eine Novizinnensperre zum Aussterben. Einige Damenstifte wurden zur Aufnahme von Mitgliedern aller Konfessionen gezwungen. Die Mehrheit der Ordensleute nahm die Vorgänge passiv hin.

Das Münstersche Domkapitel

Fast überall im Reich wurden die Domkapitel in die Säkularisation einbezogen, wobei sie als geistliche Institutionen erhalten blieben und die Domkirchen mit den erforderlichen Mitteln auszustatten waren. Das Domkapitel in Münster blieb bestehen, die politischen Rechte wurden ihm zusammen mit der ständischen Ordnung jedoch entzogen.

Das Domkapitel als Landesregierung repräsentierte die ansässigen stiftsfähigen Adelsfamilien, aus ihrem Kreis wurden die Kapitelmitglieder kooptiert. Die ihm unterstellte Administration rekrutierte sich ebenfalls aus diesen Familien. Zwischen den Familien gab es zwei wesentliche Parteiungen, auf der einen Seite die Anhänger Franz Freiherr von Fürstenbergs, die sich ihre Rückendeckung von Preußen verschaffte, auf der anderen Seite war eine Gruppe um Ferdinand August Graf Spiegel geschart, die sich an Habsburg anlehnte. Spiegel stand also in der Tradition des aufgeklärten Absolutismus josephinischer Provenienz, die kirchliche und weltliche Verwaltung rational reformieren wollte. Die Fürstenberg-Gruppe entwickelte sich zum Verteidiger ständischer Rechte und strenger Kirchlichkeit. Spiegel rückte bald dank seiner Tüchtigkeit und mangels eines Kandidaten der Fürstenberg-Gruppe in die höchsten Positionen des Fürstbistums auf. Nach dem Tod des letzten Fürstbischofs bis zum Einrücken der preußischen Truppen leitete er als Domdechant die weltlichen Geschäfte und hielt auch die Wahl Anton Viktors ab. Nachdem Preußen die ständische Ordnung aufgehoben hatte, womit Spiegel die Grundlage entzogen war, und Fürstenberg zum Generalvikar gewählt war, verlor Spiegel alle Möglichkeiten, auf die weltliche Verwaltung einzuwirken.

Als Kapitularvikar, in Vertretung der bischöflichen Funktionen, fungierte danach Franz Wilhelm von Fürstenberg zusammen mit Clemens August von Droste zu Vischering. Im Jahr 1808 wurde dieses Amt auf Droste Vischering allein übertragen.

Mit dem Generalvikariat unter Fürstenberg und dessen Nachfolger Clemens August von Droste zu Vischering machte der preußische Militärgouverneur bald unangenehme Erfahrungen. Die Spannungen erreichten im Sommer 1806 ihren Höhepunkt, als das Kapitel die Rekrutierungen behinderte. Die darauf folgende Aufhebung des Domkapitels am 20. September konnte nicht mehr wirksam werden, weil wenige Wochen später die preußische Herrschaft beendet war.

Im November 1806, nach der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt, rückten französische Truppen in Münster ein. Die politische Übernahme zog sich bis zum Frieden von Tilsit 7./9. Juli 1807 hin. Während ehemals preußische Besitzungen um Teile Hannover, Paderborn usw. das neue Königreich Westfalen bildeten, wurde das Erbfürstentum Münster 1808 dem Großherzogtum Berg zugeschlagen. Durch Senatsbeschluß vom 13. Dezember 1810 wiederum wurde das Großherzogtum zusammen mit anderen Gebieten an der Nordsee mit dem Kaiserreich vereinigt.

Wenn auch schon die preußische Regierung keine Anstalten gemacht hatte, den Bischofsstuhl neu zu besetzen, bestand unter Napoleon die Gefahr der endgültigen Suppression. Im November 1811 hob Napoleon per Dekret alle geistlichen Institutionen des Lippedepartements auf, die Verfügung wurde aber schon am 24. August 1812 wieder rückgängig gemacht. Der Franzosenkaiser strebte danach, das Bistum enger an Frankreich zu binden. Unter Berufung auf das Konkordat von 1801, das dem ersten Konsul die Nominierung der Bischöfe zugestand, setzte er den Freiherrn von Spiegel zum Bischof ein. Da das Konkordat nur für linksrheinische Gebiete Gültigkeit hatte, nicht aber für die erst später eroberten rechtsrheinischen, war die Berufung Spiegels unter kirchenrechtlichem Gesichtspunkt rechtsungültig. Um aber ein auskömmliches Verhältnis mit den französischen Behörden herzustellen, wurde Spiegel vom Kapitel zum zweiten Generalvikar gewählt. Clemens August von Droste zu Vischering, ein Parteigänger der Ultramontanen, der diesen Posten eigentlich ausfüllte, mußte auf die ihm zukommende Funktion verzichten und war damit entmachtet.

Nach dem Zusammenbruch der französischen Herrschaft und der Wiederinbesitznahme der westfälischen Gebiete durch Preußen, wurden drei Regierungsbezirke gegründet, einer davon war Münster. In kirchlichen Angelegenheiten wollte die Berliner Regierung eigene Vorstellungen durchsetzen. Noch bevor sie richtig zum Zuge kam, hatte Clemens August von Droste zu Vischering die Initiative ergriffen. Er war im September 1814 nach Rom gereist und hatte sich dort der Unterstützung der Kurie versichert. Man erklärte ihm, daß die Bestellung zweier Generalvikare ungültig sei. Zurückgekehrt beendete er die "staatsbischöfliche" Wirksamkeit Spiegels - gegen den Willen Preußens, welches mit Spiegel gute Erfahrungen gemacht hatte. Spiegel, der entgegen preußischer Wünsche zu einem Rücktritt bereit gewesen wäre, wurde durch Drostes Handeln düpiert. Der inzwischen eingesetzte preußische Oberpräsident Ludwig von Vincke wollte das Vorgehen Drostes nicht hinnehmen, etwas voreilig veröffentlichte er einen entsprechenden Erlaß im "Münsterischen Intelligenzblatt". In Berlin war man vorsichtig, man forderte Droste auf, seine Ansprüche zu belegen, worauf dieser ein päpstliches Breve vom 14. Oktober 1814 einsandte. Daraufhin genehmigte die Regierung die Veröffentlichung des Breves. Durch die schwankende Haltung des Ministeriums war Vincke öffentlich desavouiert, Spiegel in eine verhängnisvolle Lage gebracht, Drostes Position aber erheblich gestärkt worden. Eine andere Folge des Breves war die Wiederherstellung des Status quo ante im Domkapitel. Alle unter napoleonischer Herrschaft hinzugewählten Domherren mußten zurücktreten, an ihre Stelle traten die vormaligen Kapitulare und mit ihnen Spiegel als alter Domdechant. In den Auseinandersetzungen während der Säkularisation gab es also drei große Parteiungen. Auf der einen Seite den preußischen Staat, der im Grunde sehr behutsam vorging, auf der anderen zwei katholische Linien. Die eine, pragmatische, war repräsentiert von Spiegel, die andere, kompromißlos die Autonomie der Kirche verteidigend und nach Rom orientierte, die von Clemens August von Droste zu Vischering.

C. A. v. Droste zu Vischering und die Gallitzinsche "familia sacra"

Die Wurzeln der Entzweiung zwischen Spiegel und Droste zu Vischering lagen in der Parteiung des stiftfähigen Adels, also in der Besetzungspolitik des Kapitels. Die Parteiung reichte schon lange vor die Ereignisse der Säkularisation zurück. Die Dynamik des Konflikts entfaltete sich, nachdem die Stände ihre Dignität verloren hatten, an der Neuorientierung der Kirche. Spiegel stand den Ideen Wessenbergs nahe, Droste den ultramontanen Erneuerern der Erweckungsbewegungen.

Clemens August von Droste zu Vischering war eng dem münsterschen Kreis der Fürstin Adelheid Amalia von Gallitzin verbunden, in deren Haus er zusammen mit seinem Bruder aufwuchs. Ihre bekannten pädagogischen Interessen prädestinierte die Fürstin dazu, den Sohn aus einer der bedeutendsten Familien Münsters christlich zu erziehen. Clemens August von Droste zu Vischering kann ruhigen Gewissens als der Pflegesohn der Fürstin bezeichnet werden, dem sie sich mit besonderer Zuneigung widmete.

Die Fürstin lebte seit 1779 in einer Art geistigen Ehe mit dem Domherrn Franz Freiherr von Fürstenberg, dessentwegen sie sich von ihrem Ehegatten getrennt und sich in Münster niedergelassen hatte. Ihr Haus in der grünen Gasse avancierte in den 1780er Jahren zu einem Zentrum der Münsterschen Gesellschaft. Ähnlich wie viele Romantiker später war sie 1786 nach schwerer Krankheit unter dem Einfluß Fürstenbergs zum Katholizismus konvertiert. Der Kreis, der sich um Fürstenberg und die Fürstin Gallitzin scharte wurde, nachdem die Fürstin sich von der deistischen Aufklärung abgewandt hatte, zu einem einflußreichen Zirkel der aufkommenden Erweckungsbewegung. Um die "Familia sacra" sammelten sich vor allem katholische Pädagogen. Fürstenberg selbst war der Gründer der Münsterschen Universität. Der Priester Bernhard Overberg, ein führender Neuerer in der katholischen Pädagogik, gehörte zu den engsten Vertrauten der Fürstin. Der Gallitzinsche Kreis hatte Kontakte zu prominenten Köpfen des Reiches. Dazu gehörte Goethe ebenso wie Beethoven, Johann Georg Hamann, Mathias Claudius und vor allem der späteren Bischof Michael Sailer aus Landshut. Im Jahre 1800 konvertierte der Graf Stolberg im Gallitzinschen Hause, er blieb dem Kreis eng verbunden. Dessen "Geschichte der Religion Jesu Christi" wird als Vermächtnis des Kreises von Münster angesehen. Zum Ende des Jahrhunderts hin bis zu seinem Ende mit dem Tod Fürstenbergs (1810) und der Fürstin Gallitzin (1806) war der Kreis mehr und mehr der Mystik zugetan. Mit der Leidensgeschichte Anna Katharina Emmericks war der Kreis nicht nur geistig, sondern auch über die Personen Droste, Overberg, Stolberg, Michael Sailer sowie den Geschwistern Diepenbrock verbunden.

Im Konflikt mit Spiegel und den staatlichen Suprematieansprüchen mögen die Parteiungen im Münsterschen Domkapitel sicherlich einen Anteil gehabt haben. Der wesentliche Grund für die anhaltende Opposition gegen die Staatsmacht lag jedoch in seiner Verwurzelung im Münsterschen Kreis. Clemens August von Droste zu Vischering war als Quasi- Pflegesohn der Fürstin von dem Milieu des Gallitzinschen Kreises geprägt. Allerdings nahm er nur die späten, mystischen Entwicklungen in sich auf. Vom aufgeklärten Bildungshintergrund der Fürstin und der geistigen Offenheit des Kreises blieb er merkwürdig unberührt. Mit heutigen Maßstäben könnte man ihn vielleicht als Fundamentalisten bezeichnen. Seine Opposition gegen den preußischen Staat, sogar gegen die Politik der Römischen Kurie war gespeist aus seiner Vorstellung der unbedingten Suprematie der Kirche in der Gesellschaft. Staatlichen Institutionen räumte er bestenfalls schützende oder nebengeordnete Funktionen ein. Die Vereinigung von Landesherrschaft und Kirchenoberheit, wie in den hohenzollernschen Ländern seit dem Augsburger Frieden praktiziert, war für ihn nicht akzeptabel. Schon gar nicht konnte Droste Vischering die Einsetzung eines Bischofs durch den Kaiser der Franzosen hinnehmen, der zudem noch den Papst in Fontainebleau als Geisel gefangenhielt. Hier wich er nur der Macht der Besatzungsbehörden, die Zurücksetzung in seinem Amt empfand er lebenslang als Kränkung durch die weltliche Gewalt. Hieraus ist auch sein sofortiges Interesse an den wundersamen Vorgängen in Dülmen zu erklären.

In genau die Zeit der Auseinandersetzungen in und um das Domkapitel seit Mitte 1812 fiel der Beginn der öffentlichen Leiden der Emmerick. Die Stigmatisation der Emmerick konnte ihm, während dieser Demütigung, nur als Fingerzeig Gottes erscheinen. Droste Vischering schaltete sich schon unmittelbar nach den ersten Nachrichten mehrfach in die Vorgänge um die Kranke ein. So erbat er regelmäßige Berichte vom Dechanten Rensing, suchte die Kranke mit seinem Arzt Druffel auf, vernahm die exklaustrierten Nonnen des Klosters Agnetenberg und veranlaßte die kirchliche Untersuchung des Falles.

Droste Vischering nutzte die wachsende Neugier der Bevölkerung nicht für eine spirituelle Demonstration gegen die Besetzung des Bistums, die neuen Herrscher oder den von ihnen eingesetzten Bischof. Ganz im Gegenteil unterband er die vielen Besuche bei der Emmerick, die leicht zu einer Wallfahrt ähnlichen Veranstaltung sich hätte ausweiten können. Vermutlich war er sich der politischen Sprengkraft des Falles voll bewußt, ebenso aber auch des Risikos für das Domkapitel. Unklar bleibt, ob er die kranke Nonne oder das Kapitel vor Eingriffen der ganz und gar nicht abergläubigen Obrigkeit schützen wollte. Ein Übergriff gegen die Nonne hätte mit großer Wahrscheinlichkeit eine öffentliche Protestreaktion der tiefkatholischen Bevölkerung gegen die staatlichen Behörden provoziert, deren Ausgang nicht abzuschätzen war. Andererseits hätte ein Federstrich Napoleons genügt, das Kapitel aufzuheben und oppositionelle Regungen notfalls auch militärisch zu unterdrücken, wie es das Beispiel Südtirol abschreckend zeigte.

Konfliktfeld theologische Fakultät

In seinem Kampf gegen Spiegel und die weltliche Obrigkeit nutzt der Generalvikar eine andere Arena, nämlich das Kuratorium der Münsterschen Universität. Das Kuratorium hatte die Professoren der Universität zu berufen, hier wurden die Richtungsentscheidungen für die Ausbildung junger Priester getroffen. Gerade den Bildungssektor wollte Vischering dem Einfluß der Kirche vorbehalten, hier berief er sich auf den althergebrachten Anspruch der Kirche. Am 9. April 1807 war Droste von der französischen Administration in das Gremium berufen worden, in welchem neben ihm selbst Spiegel und ein Vertreter der Staatsmacht - A. v. Merveldt - saß. Spiegel hatte sich nach seiner Entmachtung 1802 von seiner Funktion als Domdechant in die Universität zurückgezogen. Seit 1805 hatte er die Geschicke der Universität im Sinne einer maßvollen Aufklärung fast allein bestimmt und den Professor für biblische Exegese Michael Wecklein berufen. Droste, als neuem Kuratoriumsmitglied, gelang es nicht, die Berufung dieses Aufklärers vollständig rückgängig zu machen; er erreichte aber immerhin die Beschränkung des Professors auf orientalische Sprachen und verhinderte dessen Bekleidung des Dekanats. 1818 war Wecklein dann ganz von der Universität verdrängt. 1808 wollte Droste seinen Hauslehrer Katerkamp für die freigewordene Professur für Kirchengeschichte durchsetzen, scheiterte jedoch an Spiegel. Katerkamp übte zwar die Lehrtätigkeit aus, eine ordentliche Professur erhielt er aber erst 1819.

Inzwischen hatten preußische Behörden die Leitung der Universität übernommen. Droste Vischering hatte nun keine direkte Handhabe mehr, in die Hochschule hineinzuregieren. Es gab jedoch keine verbindliche Regelung zwischen den Behörden und den kirchlichen Autoritäten, was die theologische Fakultät betraf. Hier eröffnete sich dem Generalvikar die Möglichkeit, eine Machtprobe mit dem preußischen Staat zu führen. Auslösend war die Lehrtätigkeit des Dogmatikprofessors Georg Hermes, dessen Lehre Droste für unorthodox hielt. Ein weiterer Stein des Anstoßes war Hermes' "Philosophische Einleitung" in die katholische Theologie, die ohne Imprimatur 1819 veröffentlicht wurde. Hermes kam Drangsalierungen durch Droste zuvor, indem er einen Ruf nach dem nahegelegenen Bonn annahm. Daraufhin verbot Droste den Theologiestudenten Münsters, ohne Genehmigung Vorlesungen an auswärtigen Universitäten zu hören. Zuwiderhandlungen würden durch Nichterteilen der kirchlichen Weihen bestraft. Das Verbot sollte außerdem jedes Semester den Studenten erneut bekanntgegeben werden.

Bei diesen Anweisungen handelte es sich um eine klare Kompetenzüberschreitung des Generalvikars, die sich der neu eingesetzte Kurator, der preußische Oberpräsident Ludwig von Vincke, nicht ohne weiteres gefallen ließ. Als Droste auch noch die freigewordene Stelle mit seinem Kandidaten besetzte - es handelte sich um einen Gallitziner und ehemaligen Erzieher im Hause Stolberg - erklärte Vincke, daß den kirchlichen Autoritäten kein Besetzungsrecht zukäme. Von Berlin aus versuchte man mittels Overberg mäßigend auf Droste Vischering einzuwirken. Dieser widersetzte sich allen Vermittlungsversuchen, er könne nicht anders, er folge einer höheren Eingebung. Am 6. April 1820 wurde die theologische Fakultät Münster per Kabinettsorder suspendiert, gegen Droste Vischering selbst ging die Regierung jedoch nicht entschiedener vor, weil die Verhandlungen in Rom um die Neuordnung der katholischen Kirche in Deutschland nicht beeinträchtigt werden sollten. Mit Rom war sich die preußische Regierung mittlerweile einig, Droste von der Leitung des Bistums zu entfernen. Am 28. August war das Ziel erreicht, indem der bisherige Fürstbischof von Corvey, Ferdinand Freiherr von Lüninck, zum Bischof von Münster bestellt wurde. v. Lüninck hob alle Entscheidungen Droste Vischerings auf, dieser schied aus der Bistumsverwaltung aus.

Im Streit um die Priesterausbildung konnte Droste Vischering die Autonomie der Kirche genauso wenig behaupten wie in der drohenden Auseinandersetzung um die Dülmer Nonne. Im Falle der Emmerick wurde die preußische Regierung aktiv, sie forderte eine staatliche Untersuchung. Diese neuerliche Untersuchung, sie sollte zu Beginn des Jahres 1819 stattfinden, ist unbedingt im Zusammenhang mit dem Konflikt Droste - Vincke zu betrachten. Immerhin stellte die stigmatisierte Nonne immer noch einen gewissen "Trumpf" im Ärmel des Generalvikars dar. Brentanos Anwesenheit seit September 1818 gab der öffentlichen Prominenz des Falles noch zusätzlichen Auftrieb, zumal der Konflikt bei den mittlerweile vielfach konvertierten romantischen Literaten genau beobachtet wurde.

Eine Steigerung der Auseinandersetzungen, ein von Droste Vischering provozierter öffentlicher Eklat, also etwa die Verweigerung der staatlichen Untersuchung der Emmerick hätte die Gefahr mit sich gebracht, daß der Gegensatz Staat - Kirche den Protagonisten entglitten wäre, was enorme Konsequenzen für die politische Stellung der katholischen Kirche in Preußen gehabt hätte. Daran war wohl auch Clemens August von Droste zu Vischering nicht interessiert.

Die Auseinandersetzung um die Priorität kirchlicher Entscheidung an katholischen Ausbildungsstätten hat Droste Vischering mit äußerster Härte in seinen Tagen als Kölner Erzbischof weitergeführt. Schon 1820 hätte die preußische Regierung gewarnt sein müssen, dem münsteraner Fundamentalisten eine höhere Position zuzugestehen. Fast zwanzig Jahre später nahm Droste Vischering als Erzbischof von Köln und Nachfolger Spiegels den Kampf um Hermes wieder auf, unterlag in diesem Kampf jedoch abermals. Die Weiterung des Konflikts, die als "Kölner Wirren" bekannt wurden, brachte ihn in preußische Festungshaft. Am Ende war er als Erzbischof entmachtet, nach Münster verbannt und von der römischen Kurie fallengelassen.

Anna Katharina Emmerick und Dülmen

Das Münster nahebei westlich gelegene Städtchen Dülmen gehörte zuerst nicht zum preußischen Säkularisationsgewinn. Es fiel 1803 an den Herzog von Croy, der aus dem Amt Dülmen und seinem Besitz die Grafschaft Croy-Dülmen bildete. Die Croys hatten in der Stadt Dülmen ein Schloß. Der Herzog säkularisierte das Kloster nicht, vermutlich deshalb, weil kein größerer materieller Gewinn zu erwarten war." Im Jahre 1802 übernahm Herzog Emmanuel von Croy die Herrschaft über Dülmen; alle geistlichen Güter gingen in seinen Privatbesitz über. Während nun nach vorher eingeholter Zustimmung des Papstes die Cartause Weddern aufgehoben wurde, ließen die Herzöge das Kloster Agnetenberg bestehen. Als am 31. August 1803 der triumphale Einzug in Dülmen gehalten wurde, gab der neue Fürst ein glänzendes Festmahl, bei welchem jeder umsonst nach Belieben essen konnte. An dieses schloß sich ein Festball an, der wegen des Mangels eines geräumigen Saales im Kloster Agnetenberg abgehalten wurde. Ob und in wie weit die Schwestern sich beteiligten, ist nicht verzeichnet. Zwei Wochen später wurde dem neuen Fürsten eine eigenartige Bittschrift vorgelegt: Zwei arme Mädchen, Novizinnen des Klosters Agnetenberg, baten um die Erlaubnis, zur heiligen Profeß zugelassen zu werden; es waren Clara Söntgen und Anna Katharina Emmerick."

Kaum zu überschätzen für die Erklärung der hysterischen Anfälle der Anna Katharina Emmerick ist die Nachricht, daß der Herzog die im Kloster untergebrachte "Irrenanstalt" schließen ließ. Stattdessen erweiterte er die Bildungstätigkeit des Klosters für den Ort, indem er eine dritte Lehrerin unterrichten ließ. Nach der Niederlage Preußens 1806 wurde Dülmen dem Herzog von Arenberg zugesprochen. Die Arenberger gehörten zu den Erstmitgliedern des Rheinbundes. Als der Herzog von Arenberg eine Nichte der Kaiserin Josephine heiratete, gehörte er mit zum weiteren Umkreis der Familie Napoleons. Arenberg vertrat nun französische Interessen auf rechtsrheinischem Gebiet. Anders als bei den Säkularisationen behielten die Croys als Standesherren in der Mediatisierung begrenzte Hoheitsrechte, die niedere Gerichtsbarkeit und eine eingeschränkte Polizeigewalt. Durch den Beschluß des Senats vom 13. Dezember 1810 wurde auch das Herzogtum Arenberg mediatisiert, Dülmen kam an das Kaiserreich Frankreich und blieb es bis zum Zusammenbruch des Empires 1813/14. Der Maire von Dülmen, also Bürgermeister, wurde 1813 August Philipp Emanuel Herzog von Croy, der Oberpolizeikommissar war der Franzose Garnier. Beide spielten im Leben der Emmerick eine gewisse Rolle, da der Herzog von Croy als neuer Landesherr und auch als Bürgermeister für die Pensionsansprüche der säkularisierten Ordensmitglieder verpflichtet war. Garnier hingegen, der für die Sicherheit und Unterdrückung antifranzösischer Propaganda zuständig war, übte Druck auf die kirchlichen Stellen aus, den "Fall Emmerick" genauer zu untersuchen. Garnier besuchte selbst die Kranke am 4. April 1813 und verlangte Berichte von Droste. Dabei scheint es so, als wenn die kirchlichen Autoritäten nach wie vor die Zügel in der Hand hielten und die wechselnden Landesherren ihrer Kooperation bedurften. Dies änderte sich erst mit der preußischen Herrschaft ab 1813/15.

Ende 1811 weilte Napoleon in Düsseldorf, im November erging die Anordnung, sämtliche kirchlichen Institutionen aufzuheben. Von dem Dekret Napoleons, welches wohl die Mobilisierung der übriggebliebenen Vermögensreserven für den Rußlandfeldzug zum Ziele hatte, waren sowohl das Augustinerinnenkloster Agnetenberg, als auch das Domkapitel in Münster betroffen. A. K. Emmerick blieb noch bis in das Frühjahr 1812 im Kloster, in dieser Zeit begann sich Clemens August von Droste zu Vischering für den Fall zu interessieren. Die Franzosen waren nur unwesentlich beunruhigt, immerhin beauftragten sie den Präfekten Garnier, den Fall zu beobachten und nach Paris zu berichten. Da die Angelegenheit in der Zeit der Säkularisationswirren immer stärkeres öffentliches Interesse erregte, bestellte Droste im August 1813 die kirchliche Untersuchung. Als dann Preußen 1813/15 Dülmen übernahm, argwöhnten die staatlichen Stellen, es handele sich bei der Emmerick um eine französische Provokation. Ab November 1813 bis weit in das Frühjahr hinein war Dülmen ein wichtiger Etappenort für preußische und russische Truppen. Die Chronik der Stadt Dülmen verzeichnete die Belastungen: "Im ganzen Bezirk hat kein Ort durch Einquartierungen und Kriegsfuhren so gelitten als Dülmen, was es seiner Lage an der Heerstraße Münster - Dülmen bzw Düsseldorf zuzuschreiben hat." ......."Im November 1813 mußte die Gemeinde Dülmen erst die preußische Division von Thumen bewirten, dann passierte das ganze (russische) Korps Witzingerode". In dieser Zeit war die Stigmatisierte schon über die Stadt hinaus Gesprächsstoff, der sicherlich auch zu den einquartierten Truppen gelangte. Ludwig Gerlachs und Christian Stolbergs Besuch bei der Nonne datiert in die Apriltage 1815.

Die staatliche Untersuchung

Preußen hatte sich mit der Dülmener Nonne einen Kristallisationskern römisch - katholischer Opposition eingehandelt, von dem noch lange unklar bleiben sollte, welche politischen Auswirkungen er zeitigen würde. Clemens August von Droste zu Vischering setzte die Wundertätige zumindest nicht direkt in seine Auseinandersetzung mit Spiegel und Preußen ein. Sein starkes Interesse läßt jedoch darauf schließen, daß er sich in dem Fall der wundertätigen Nonne zumindest eine Option offen gehalten hat. Schon die Einsetzung der kirchlichen Untersuchungskommission 1813 hatte für sich ja schon einen gewissen Propagandaeffekt. Begünstigt wurde die starke Öffentlichkeitswirkung durch den Streit, den der Fall in verschiedenen Publikationen auslöste. Hier standen sich Parteiungen gegenüber, die einerseits das aufgeklärte Denken repräsentierten, auf der anderen eine relativ junge Bewegung, die Mythen, Wunder und Metaphysik für sich reklamierte: die Romantiker und die Erweckungsbewegungen. Das Kgl. preußische Ministerium d. Inneren, ob der oppositionellen Haltung der münsterschen Bevölkerung mißtrauisch und von einer betrügerischen Inszenierung überzeugt, wies den Oberregierungspräsidenten Ludwig von Vincke am 24. Januar 1817 an, Erkundigungen einzuziehen: "wenn es sich ergibt, daß ihre Krankheit verderblichen Aberglauben oder törichten Wunderglauben unterhält und befördert, so hat die Kgl. Regierung anzuzeigen, was von ihrer Seite füglich den Umständen gemäß angeordnet werden kann, um die Sache ins klare zu bringen." Die Regierung in Münster berichtete am 19. Februar 1817 nach Berlin, daß sie über die Emmerick nichts Nachteiliges zur Kenntnis genommen hätte, daß sie viel Besuch empfange, von den Wundmalen Abdrücke genommen würden, die dann weit und breit insbesondere nach Holland versandt würden. Der Meldung wurde einiges Schrifttum zu dem Fall beigelegt. Als Hindernis einer genaueren Untersuchung wurde der Wunsch genannt, "mit einer Partei" in Frieden leben zu wollen, die einem solchen Anliegen entgegenstehe, einer Untersuchung nur unter geistlicher Direktion zustimmen würde.

Zwischen dem Oberpräsidenten Ludwig v. Vinke und dem Generalvikar hatte es unterdessen schon 1816 Verhandlungen um eine gemeinsame Untersuchungskommisson gegeben. Droste Vischering hatte am 22. August 1816 ein detailliertes Instruktionsprojekt verfaßt und dem Oberpräsidenten übergeben. Vischering schlug darin eine Kommission aus vier vom Präsidenten und vier von ihm zu bestimmenden Mitgliedern vor. Vincke verzögerte die Angelegenheit, später legte er sie ad acta, weil er mit Vischering keine Einigung gefunden hatte. Nach einer neuerlichen Weisung aus Berlin vom 30. November 1818 - der Fall zog immer weitere Kreise, der Zulauf mehrte sich bedenklich - beauftragte Vincke den Landrat Bönninghausen mit der Zusammenstellung einer Kommission, die am 3. Februar 1819 zusammentreten sollte. Zuvor hatte Vincke über den Hofkammerrat Mersmann die Kranke beobachten lassen. Dieser berichtete am 26. Januar, daß seit dem Weihnachtstag keine Blutungen mehr aufgetreten seien und die Kranke auch wieder Nahrung zu sich nähme. Diese Tatsachen meldete Vincke in seinem Bericht vom 26. Februar 19 nach Berlin: "Sonach hatte die Kommission ihren Zweck, das trügerische Unwahre aufzuklären erfüllet, ehe sie noch begann". Um ganz sicher zu gehen, ließ der Präsident die Bettlägerige noch von Dr. Rave, den Kreisphysikus des Borkenschen Kreises eingehend untersuchen, die Resultate legte er seinem Bericht bei.

Die Sache schien erledigt, gleichwohl wurde eine Kommission am 3. August 1819 unter Bönninghausen einberufen. Daran nahmen Bönninghausen als Landrat, Borges als der für Medizinalangelegenheiten zuständige Regierungsrat (wurde später durch Dr. Zumbrinck abgelöst), die Ärzte Rave und Busch, Dr. Kessel von Lüdinghausen, Bürgermeister Möllmann, der Apotheker Nagelschmidt und der Organist Althoff teil. Die drei letztgenannten ersetzten die drei geistlichen Mitglieder der Kommission, denen der Generalvikar eine Teilnahme untersagt hatte.

Der Untersuchung folgte dann ein Bericht Bönninghausens, der Auslöser einer größeren Kontroverse wurde. Letztendlich konnte aber in keiner der Untersuchungen zweifelsfrei ein Betrug nachgewiesen werden.