Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


Klemens Brentano

 

Der Weg zur Konversion

Seit Anfang 1810 hatte eine seelische Krise eingesetzt, infolge derer sich Brentano innerlich immer mehr vereinsamt fühlte, eine Stimmung, die wohl mehrere Romantische Leitfiguren befallen haben mag, denn auch sie blieben nicht ewig jung und die Protesthaltung einer verabsolutierten Subjektivität wich einer inneren Leere. Ein Faktor, den alle Romantiker in Berlin oder Wien getroffen haben mag, ist der Beginn des Massenzeitalters. Berlin mit seinen 200.000 Einwohnern (1818) war nicht Jena, Göttingen oder Heidelberg, Kleinstädte, in denen noch jeder jeden kannte, deren Universitäten durchaus übersichtlich waren. Sowohl in den frühen "Metropolen" als auch in den Massenheeren verlor sich das Individuum und führte den romantischen Individualismus ins absurde, auch wenn die Bilder von einigen "Helden", wie Körner oder Schill den Krieg romantisch verklärten. Die romantische Ablehnung von Konventionen allein konnte keine positive Utopie begründen, also tragfähige Entwürfe für das individuelle oder gesellschaftliche Leben liefern, noch konnte sie aus dem Dualismus "Vernunft" versus "Gefühl" etwas Drittes entwickeln. Hier liegt die Tragik der "Urromantik" die sich den folgenden romantischen Bewegungen, angefangen vom Fernweh Karl Mays, über den Wandervogel, Hitlerjugend oder der Hippiebewegung wiederholen sollte. Sie mündeten entweder in Katastrophen oder versandeten in esoterischen Sekten.

Die Hinwendung zur Religion war für einen ansehnlichen Teil der Romantiker die letzte Möglichkeit, dem realen Leben - dem Philistertum - zu entfliehen. Der Preis war Verrat und Kapitulation zugleich, indem alle Prinzipien der Romantik zugunsten der Unterordnung unter konfessionelle kirchliche Zwänge aufgegeben wurden . Dem Lebensentwurf der unbregrenzten Möglichkeiten in der Früh- und Hochromantik folgte die zäh - schwere Erbauungsliteratur von Görres und Brentano oder schwülstig - naive Reimchen à la Hensel. Brentanos Konversion weicht in den Motiven von den anderen jedoch ab. Brentanos Konversion ist nicht ästhetisch oder intellektuell begründet, noch ist sie im Herkommen angelegt. Sie ist Folge einer gebrochenen Lebenslinie, Lebensunfähigkeit und Halt und Schutz suchenden Schwäche.

Insofern man Brentanos Seelenkrise als chronisch betrachtet, kann hier nur von einer Verschärfung die Rede sein. Eine anhaltende Reihe von Umständen führte hierzu. Brentanos Leben verlief unstet und ungebunden. Dazu kamen persönliche Katastrophen, einmal der Verlust Sophiens, darauf die gescheiterte Ehe mit Auguste Bußmann, dann die starke Veränderung in der Beziehung zu Arnim und Bettina und letztlich war der schriftstellerische Erfolg nach "Des Knaben Wunderhorn" eher bescheiden geblieben und in Wien hatte Brentano gerade ein künstlerisches Desaster hinter sich.

Brentano fehlte der eigentliche Halt im Leben, er unternahm einige Versuche, diesen Halt zu finden. So übte er sich in Mathematik, nahm Zeichenunterricht bei Schinkel und überlegte einen Beruf zu ergreifen. Wien hatte ihm die Möglichkeit der Flucht in die katholische Religion gezeigt, die er früher als Kerker der Seele verachtete. Die Kirche der Poesie, die er bevorzugte, konnte ihm den Halt nicht mehr geben, nachdem die meisten Protagonisten der Frühromantik vor dem bürgerlichen Leben kapituliert hatten, es diese Kirche als Gemeinschaft der Poeten faktisch nicht mehr gab.

Brentano weilte, nachdem er einige Zeit in Wiepersdorf bei den Arnims verbracht hatte, seit dem Spätherbst 1814 wieder in Berlin. Brentano war nach seiner Rückkehr nach Berlin hochdepressiv, er war geplagt von Schuldgefühlen und innerer Leere. Eine Tendenz hin zur Kirche deutete sich in seinen Aussagen klar ab. Seinen innerer Zustand legte er in einem Brief an Wilhelm Grimm 1815 dar:

"...mir ist oft, ja meist, als gehöre ich nicht mehr zu den Lebendigen. Mein ganzes Leben habe ich verloren, teils in Sünde, teils in falschen Bestrebungen. Der Blick auf mich selbst vernichtet mich, und nur wenn ich die Augen flehend zum Herrn aufrichte, hat mein zitterndes, zagendes Herz einigen Trost."

Ludwig v. Gerlach schilderte Brentano um 1814/15:

Mit mir von Savignys nach Hause gehend, sagte er:"Er hoffe nichts mehr in der Welt, - am Ende komme der Tod - dem lieben Gott sei er ganz gut und der ihm auch. Das sei ja ganz charmant - er habe noch nie eine vergnügte Stunde gehabt - ihm etwas schenken oder ihm Gesellschaft bitten mache ihm kein Vergnügen; wenn man lieber statt dessen Gott bäte, ihm seine Sünden zu vergeben! - Mädchen, wenn sie holdselig machen mir Freude, aber dann dreht sich mit einem Male das Auge um; ich muß sie von allem Fleisch entkleiden und sehe nichts als das Gerippe und den Totenkopf." - Er lernt jetzt rechnen und treibt Algebra, er sagt, das sei ihm verhaßt; aber darum tut er es, weil ihm das einen Widerstand, einen Druck gebe; Dichten, Schreiben sei ihm zu leicht, er mache oft Witze, ohne lustig zu sein; so könne er trefflich einen Betrübten trösten, ohne selbst Trost zu empfinden; manchmal wundere er sich, wenn er seine eigene Hand sehe, so sehr fehle ihm das Gefühl seiner eigenen Persönlichkeit. "Als mich mein Vater erzeugte, hat er keinen Willen miterzeugt." - Ein Gespenst!

Maikäferei

Nichtsdestotrotz war er häufig zu Gast bei den verschiedenen Salons und Abendkränzchen. Er hatte Umgang mit Fouqué, Chamisso, E.T.A. Hoffmann, mit dem er gerne einen trank; bei seinen Schwägern Arnim und Savigny war er häufig auf Besuch. Mit August Wilhelm Goetze und Friedrich Karl v. Bülow begründete er im Dezember 1814 die Maikäferei (genannt nach dem Wirt des Lokals an der Schloßfreiheit, Mai), eine Tischgesellschaft ähnlich der Christlich Deutschen Tischgesellschaft. Der Ton unterschied sich von dieser jedoch gravierend und die Mitglieder waren jünger. Dieser Gesellschaft gehörten die drei Brüder Gerlach, Carl von Voss, Carl von Rappard, August Wilhelm Goetze, Friedrich Karl von Bülow, Adolf von Thadden, Albrecht v. Alvensleben zeitweise auch der jung gefallene Graf Christian Stolberg und der Dichter Karl Thorbecke an. Die Teilnehmer an der Maikäferei gehörten zum christlich - konservativen Teil der gesellschaftlichen Gruppierungen, die liberale Ideen als "französisch" verachteten und den Preußischen Reformen Hardenbergs und Steins ebenso ablehnend gegenüberstanden, wie zuvor die Christlich Deutsche Tischgesellschaft. Das Hauptinteresse der "Maikäfer" wäre nach den Erinnerungen Ludwig v. Gerlachs patriotisch-romantisch-genial-christliche Poesie gewesen. Man sang Lieder und Brentano - als Mittelpunkt - trug Gedichte vor.

Prägend für die "Maikäferei" war der in den preußischen Eliten um sich greifende Neupietismus. Religiös - erbauliche Stimmung und Frömmigkeit war eine direkte Reaktion auf die Befreiungskriege, in denen viele Teilnehmer zurück zur Religion gefunden hatten. Die neupietistische Erweckungsbewegung entwickelte sich in kleinen Zirkeln, entsprechend der katholischen Erneuerungsbewegung in Münster und Landshut. Ihre Teilnehmer missionierten vornehmlich durch persönliche Einwirkung von Mensch zu Mensch, die bald soziale Schranken überschritt und Personen aller Stände erfaßte. An den Bestrebungen der Berliner Pietisten nahm neben dem Adel auch das hohe Beamtentum Anteil; der Kronprinz und Nicolovius - der im Ministerium über die Besetzung der Kirchenämter zu entscheiden hatte - verschafften den pietistischen Kreisen Einfluß. Leopold und Ludwig Gerlach aber auch Adolph v. Thadden waren wohl die treibenden Kräfte, sie hatten in jedem Fall später die allergrößte Wirksamkeit. Wichtig in Hinblick auf Brentano ist der überkonfessionelle Charakter der Erweckungsbewegungen. Die Mystik war die gemeinsame Quelle, ob protestantisch oder katholisch. Matthias Claudius und Friedrich Perthes, Jacobi, Hamann und Nicolovius - er war Erzieher im Hause des konvertierten Grafen Stolbergs gewesen, - sie alle pflegten enge Beziehungen zum Gallitzinschen Kreis in Münster und zu Sailer in Landshut. Brentano selbst wendete sich mehr und mehr der katholischen Erweckungsbewegung zu. Mit dem befreundeten Sailer und dem ihm bekannten Ringseis nahm er wieder Kontakt auf und vermittelte deren Briefe über die "Katholische Reformation" an v. Thadden und Gerlach. Brentano war in der Maikäferei eine ideale Brücke zur Konversion gebaut, er fand hier einen Nährboden, der seine weitere Entwicklung hin zum mystischen Katholizismus entscheidend begünstigte.

1816/17 erschien der erste Band der "Restauration der Staatswissenschaft" des Schweizers Carl Ludwig v. Haller. Hallers antiliberale Staatskonzeption stieß in der konservativen Abendgesellschaft sofort auf Resonanz, die sich schnell zur Begeisterung steigern sollte. In Hallers Entwurf verband sich aristokratisches Standesgefühl mit religiöser Gläubigkeit. In der ständischen Gliederung der Gesellschaft sah er eine von Gott gegebene Ordnung, denn sie baute das soziale Leben von der Familie her auf, sie bot mit dem gebundenen Bodenbesitz ein Moment des Beharrens. Der Staat ginge aus einem Aufbau aus Familien und Korporationen hervor. Der Souverän sei nichts anderes, als der größte Fideikommißherr neben den vielen kleineren, die in ihrem Kreise ähnliche Herren sind, der Staat ist eine Familie im großen, und der Fürst unterscheide sich von einem anderen Familienvater nur darin, daß er keinen anderen Oberen über sich hat außer Gott.

Beide Strömungen - Neupietismus und Hallersche Staatslehre - verschmolzen in der "Maikäferei" und radikalisierten sich. Als Brentano Berlin 1818 verließ, war dies kein Bruch, sondern eine konsequente Zuspitzung, wobei Brentano den katholischen Weg wählte (den der kirchlichen Suprematie), während die Gerlachs und andere sich dem protestantisch - preußischen Neupietismus zuwandten und später politisch den ständischen Konservativismus repräsentierten.

Konversion und Luise Hensel

Auf einer Abendgesellschaft am 4. Februar 1816 im Savignyschen Salon erwähnte Ludwig v. Gerlach am Soupertisch, daß er im April des vergangenen Jahres die stigmatisierte Nonne in Dülmen besucht habe, was Brentano tief berührte, der hier zum ersten Mal etwas von Anna Katharina Emmerick hörte, so daß er auffuhr "Was? Das haben Sie gesehen und sitzen hier noch und essen?" Gerlach:" Solchen Eindruck hätte ich nicht von derartigen Wundern; wir seien ja rings umgeben von größeren Natur- und Geisteswundern usw. Er fand dies kühl, altklug, prosaisch und machte ein Spottgedicht auf mich, worin er mich sagen läßt:

Daß ich nicht wüßte,
Denn vieles ist kurios,
So meiner Mutter Brüste
Wie meiner Mutter Schoß

Die kränkte mich sehr - besonders als Goetze behauptete, in diesem Ton hätte ich wirklich gesprochen. Es war mir tiefer Ernst mit meiner Antwort"

Gerlach befand sich1815 mit Stolberg in Blüchers Armee auf dem Weg nach Ligny - Waterloo. Chr. Stolberg ist in der Schlacht bei Belle Alliance gefallen. In seinem Tagebuch vom 9./ 10. April berichtet Gerlach: In Dülmen besuchten wir (Chr. v. Stolberg u. Gerlach) die stigmatisierte Nonne, sahen aber nur ein alltäglich weibliches Wesen auf einem Bette liegen, die Wundmale verbunden; sie segnete Christian mit wenigen leisen Worten"

Das Thema "Emmerick" scheint Brentano im weiteren nicht besonders interessiert zu haben. In höheren Kreisen nahm man jedoch von der Dülmener Nonne Notiz, nachdem der Theologe und Arzt Dr. Johann Christoph Friedrich Baehrens ein Buch über den "animalischen Magnetismus" herausgab, welches einiges Aufsehen erregte. Dieses Friedrich Wilhelm IV gewidmete Buch brachte den Fall Emmerick in Zusammenhang mit dem "tierischen Magnetismus", eine Lehre, die eine späte Frucht der Aufklärung darstellte, doch dazu später. Der "Streit um die Erscheinungen bei der Dülmener Nonne Anna Katharina Emmerick" hatte damit Berlin erreicht und forderte die staatlichen Autoritäten heraus.. Brentano wurde auf Baehrens Buch von seinem Bruder Christian in einem Brief vom 13. Februar 1817 hingewiesen. In einem weiteren Brief vom 17. Februar kündigte der Bruder seine Absicht an, die stigmatisierte Nonne in Dülmen zu besuchen. Christian selbst hatte sich zuvor mit den in Mode gekommenen "magnetischen Kuren" befaßt und ließ sich auch mit dieser Methode behandeln. Im April 1817 erschien er in Dülmen und blieb für drei Monate am Bett der kranken Nonne, an der er magnetische Experimente vornahm.

Brentano hatte unterdessen im Oktober 1816 die frömmelnde Pastorentochter Luise Hensel kennengelernt. Die Beziehung zur Hensel sollte unmittelbar zu seiner Konversion und zu seinem Abschied aus Berlin nach Dülmen führen.

Am 10. Oktober besuchte Brentano eine Donnerstagssoiree im Hause des Staatsrates Staegemann, dem alten Bekannten von der Christlich Deutschen Tischgesellschaft. Veranstalter waren die Töchter, zu deren Freundinnen Luise Hensel gehörte. Ob Brentano an diesem Abend auf Luise Hensel aufmerksam wurde ist unklar, es gibt verschiedene Auskünfte. Den 38jährigen Brentano jedenfalls erinnerte die 18jährige Hensel an seine Schwester Sophie.

Luise Hensel war die Tochter einer Pfarrerfamilie aus Linum und Schwester des späteren preußischen Hofmalers Wilhelm Hensel. Nach dem Tod des Vaters geriet die Familie in Not und zog im gleichen Jahr nach Berlin, wo Luise kurz die Realschule besuchte. In dieser Zeit mußte sie zur Ernährung der Familie beitragen. Die Mutter schien etwas sonderlich, sie schrieb Briefe an ihr Ungeborenes und Selbstgespräche mit verstorbenen Familienmitgliedern scheinen im Haushalt üblich gewesen zu sein. Luise war früh religiös interessiert, entsprechend ihrer Unreife eher in einer gefühlsmäßigen Weise und war ganz dem romantischen Zeitgeschmack entsprechend der protestantischen Erweckungsbewegung zugetan. Um 1815/16 gehörte sie mit den Brüdern Gerlach, A. W. Goetze, K. F. v. Savigny, F. K. Bülow einer kleinen pietistischen Gemeinde an, die sich besonders um den Pastor Hermes geschart hatte. Zum Zeitpunkt, als Brentano sie kennenlernte, stand Luise Hensel also seiner Geisteshaltung auch über die Personen seines Freundeskreises sehr nahe.

"An Leib und Seele liebestrunken" trug sich Clemens Brentano, bald nachdem er Luise Hensel kennengelernt hatte, mit dem Gedanken, sie zu heiraten. Im Jahre 1816 hatte sich seine zweite Frau, Auguste Bußmann, von der er seit 1811 gerichtlich geschieden war, wieder verheiratet. Brentano konnte auch nach seinem katholischen Empfinden wieder eine Ehe eingehen, war dafür sogar bereit, seine Konfession zu wechseln. Für Brentano war die Verliebtheit eine Erlösung aus seiner depressiven Grundstimmung, er empfand sie als Geschenk Gottes, entsprechend stark war sein Engagement in der Affaire. Ende 1816 wurde Brentanos Werben um Luise Hensel immer drängender und unnachgiebiger. Im Dezember war Luise Hensel schwer krank, Brentano war vermutlich lange Zeit allein um sie, die Mutter weilte zwischen November 1816 und Januar 1817 bei Luisens todkranken Schwester in Stettin. Einen ersten verschlüsselten Heiratsantrag machte Brentano am Heiligen Abend 1816, den er mit ihr und Wilhelm Müller gemeinsam verbrachte. Luise Hensel war den Heiratswünschen nicht von vornherein abgeneigt, um den erotischen Aspekt der Beziehung herrscht nach wie vor Unklarheit, weil große Teile des Briefwechsels von Luise Hensel im Alter vernichtet wurden. Bettine war jedoch überzeugt, Luise wäre Clemens' Konkubine. In Luise Hensels Aufzeichnungen zwei Jahre später distanzierte sie sich völlig von erotischen Ansprüchen Brentanos, diese ihre Ehe würde kinderlos und keusch sein. Sowohl Luise Hensels Angehörige als auch die Mehrzahl von Brentanos Verwandten waren bald eifrigst bemüht gewesen, einer Ehe der beiden entgegenzuwirken und zu verhindern: "Meine Mutter", schrieb Luise Ende 1816 an Brentano "...hält Dich nicht für gut, sie hat aus Deinem Leben manches gehört, was sie für wahr hält, manche Schuld, die ich Dir nicht zutrauen kann.....Meine Schwester ist auch argwöhnisch und wird nicht verstehen, wenn ich ihr auch die Wahrheit sage." Trotz der Vermittlungsbemühungen Wilhelm Hensels steigerte sich Frau Hensels Abneigung gegen Brentano nach ihrer Rückkehr aus Stettin immer mehr, bis zum brennenden Haß. Ende Januar unternahm Brentano einen zweiten Versuch um die Hand Luisens anzuhalten, er wurde jedoch abermals von der Mutter zurückgewiesen.

Die Zurückweisung der Hensels hatte Brentano äußerst schwer getroffen und ihn offensichtlich in die Schwermut zurückgetrieben. Schon seit Anfang Dezember nahm er nicht mehr an den Sitzungen der "Maikäferei" teil, er befand sich letztlich in einer Sackgasse. So entschloß er sich in den ersten Wochen des Februars 1817 zur "Umkehr" und legte am 27. Februar bei dem Probst Taube, Vorsteher der katholischen Gemeindekirche zu St. Hedwig in Berlin, seine Generalbeichte ab. Am 24. Januar 1817 hatte schon Christian Brentano die Generalbeichte abgelegt, ein katholisches Procedere, mit welchem üblicherweise das weltliche Leben beschlossen wird und eine Ordens- oder Klerikerlaufbahn beginnt. Im Fall Christians und unmittelbar darauf Clemens' bedeutete dies - beide waren katholisch - die Anerkennung des Absolutheitsanspruch der katholischen Kirche. Die Generalbeichte war in diesem Sinne eine Konversion, nun nicht von einer Religion zur anderen, sondern eine Abwendung von der weltlichen Orientierung - weg von der Kirche des Poetischen, weg von jeglicher Akzeptanz weltlicher Ansprüche hin zum Ritus der Kirche unter Einschluß ihrer Heiligenverehrung und mystischen Verklärungen. Genau hier liegt die Spannung für Brentano im Fall Emmerick. Sein engagierter Einsatz gegen die staatliche Untersuchung ebenso wie sein propagandistisches Wirken in und nach Dülmen sind in erster Linie aus seiner Konversion zu erklären. Die Konversion selbst war jedoch nicht Folge einer rationalen, intellektuellen Entscheidung, sondern ist vor allem aus der psychischen Struktur des Lyrikers zu erklären, einer Gesamtentwicklung, die in eine seelische Katastrophe führte. Brentano selbst nannte den Vorgang "seelischen Konkurs". Brentano fand in der Anlehnung an den Glauben eine Stütze, die er seit den Heidelberger Tagen entbehren mußte, aber erst Dülmen, der Rückzug aus der Welt, wird für ihn eine wirkliche Entspannung bringen. Den letzten Anstoß zu dieser Entscheidung gab die Zurückweisung der Hensels, wobei ihn Luise zur Generalbeichte drängte, sei es um sich seiner Klagen zu entledigen, sich vor seinem Drängen Luft zu verschaffen oder ihm überhaupt wieder irgendeine Richtung zu geben. Brentano seinerseits drängte Luise Hensel nach der Generalbeichte zur Konversion zum Katholizismus.

In Brentanos Freundeskreis wurde die Verbindung mit Luise Hensel Anfang Februar bekannt und eher kritisch betrachtet. Sie galt als verdrehtes Ding, der Liäson wurden keine Chancen eingeräumt. Auch die Konversion selbst fand kaum Beachtung. "Ich finde nicht", bemerkte Gerlach viele Jahre später zu dieser Tagebuchnotiz, "daß dieses doch so bedeutende Faktum auf unseren Kreis einen besonderen Eindruck gemacht hätte".

Im November 1817 kam Christian Brentano zu seinem Bruder nach Berlin, nachdem er sich im Sommer drei Monate bei der stigmatisierten Emmerick in Dülmen aufgehalten hatte. In Berlin lernte Christian Luise Hensel kennen, zu deren Konversion er nicht unwesentlich beitrug.

Nach der Konversion blieb die Beziehung zur Hensel eine reine Seelengeschwisterschaft, die allerdings einige literarische Auswirkung haben sollte. Brentano äußerte im August 1818 Gerlach gegenüber, sie sei von allen, die er gekannt hatte, die Ausgezeichnetste und Tiefste. Seit zwei Jahren sähe er sie täglich. Mit ihr hatte, ähnlich wie mit Sophie Mereau und Arnim eine schriftstellerische Produktion im Sinne der romantischen Kontamination eingesetzt. In den literarischen Produkten der Hensel sind kaum ihre Anteile oder die Brentanos herauszufiltern. Luise Hensels bekanntestes Gedicht ist das "Müde bin ich, geh zur Ruh'", andere sind weitgehend in Vergessenheit geraten, vermutlich, weil sich ihre naiv - pietistischen Anschauungen schon lange überlebt haben und niemanden mehr berühren, außer vielleicht einige Germanisten. Um Luise Hensel warben nach Brentano weiterhin junge Männer der Gesellschaft. Ihre Zuneigungen galt aber vor allem Ludwig v. Gerlach. Ob Gerlach diese Zuneigung spürte und erwiderte ist umstritten.

Durch den Besuch Christian Brentanos sind die Dülmer Ereignisse für den Kreis um Brentano noch einmal aktualisiert worden. So verfaßte Achim von Arnim eine Romanze mit dem Titel "Heilige Zeichen". Das Gedicht veröffentlichte er in der Wünschelruthe (Nr.45, 9.2.1818), eine Publikation, an der neben Arnim auch Brentano und die Grimms mitarbeiteten. Inzwischen hatte sich der Fall der Emmerick zu einem Gegenstand des öffentlichen Interesses auch in Berlin ausgeweitet. In der "Wünschelruthe" Nr. 52 vom 29. Juni erschien eine Nachricht über die "Nonne von Dülmen":

"Im Städtchen Dülmen im Münsterlande", heißt es in dem Aufsatze, "lebt eine gewesene Nonne Catharina Emmerich, die nach Aufhebung ihres Klosters (Agnetenberg in Dülmen) zu ihrer Schwester daselbst gezogen ist. Diese hat jetzt schon seit sechstehalb Jahren an ihrem Körper die sogenannten Wundmale ... Sie ist 40 Jahre alt, sehr mager, hat ein eingafallenes Gesicht, das sehr weiß, sehr lieblich und fromm, und schöne sanfte Augen. Ihr früherer Lebenswandel ist unbescholten, sie ging früh ins Kloster und war immer still und freundlich, lebte sehr fromm und hielt viel auf die strengern Andachtsübungen. Schon im Kloster kränklich, ward sie bald nach Aufhebung desselben bettlägerig." Sie aß fast nichts, behielt keine Nahrung, außer dem heil. Abendmahl bei sich, das Volk sah darin Wunder. Die französische Regierung veranlaßte 1813 eine Untersuchung und Bewachung der Nonne durch 30 rechtliche Bürger unter Aufsicht eines Arztes. Ihr Bericht und eidliche Bekräftigung ist in dem Vicariatsarchiv zu Münster niedergelegt. Auch andre Aerzte untersuchten sie. Als ein hoher münsterscher Geistlicher bei einer Audienz beim Papste von ihr erzählte, hat dieser sich alles auf das genaueste berichten lassen, darauf aber gesagt, man müsse die Zeit erwarten und vor Trug sich ernstlich hüten.".

Im Spätsommer 1818 drängte Luise Hensel, wohl weil seine Gegenwart ihr zu bedrängend wurde, Brentano dazu, eine Einladung des Grafen Friedrich Leopold Stolberg zu dessen Gut Sondermühlen anzunehmen. Der Sohn des Grafen, Cajus Stolberg, gehörte in den Umkreis der "Maikäferei". Er notierte dazu in seinTagebuch am 14. September 1818:

Brentano will nach Münster und zum Grafen Stolberg. Gestern war er empört über das neue Verfahren gegen die Dülmer Nonne:"Die Königl. Preußische Regierung in Münster - zwei Geistliche wären gewonnen, die ihr das Urteil vorher gemacht. Es wäre unendlich, was über einer solchen Quälerei an inneren Gnaden verloren ginge - sie fühlte die inneren Schmerzen: 'Siehst Du, warum hast Du's jemanden gesagt.' Protestanten sollten keine katholischen Untertanen haben - sie sollten auseinander. Durch dies und ähnliches Benehmen der preußischen Behörden und durch das Reformationsfest sei dort und am Rhein die Spannung auf das höchste gestiegen."


Der Propagandist

Brentano kam am 24. September 1817 in Dülmen an, nachdem er zuvor den Grafen Stolberg auf dessen Gut Sondermühlen nahe Bielefeld besucht hatte. Am 23. September war er in Münster, wo er Bernhard Overberg aufsuchte. Sailer, den Spiritus Rector der Erweckungsbewegung in Landshut, hatte er dort verpaßt. Brentano kannte Sailer aus seiner Landshuter Zeit über Savigny, der bevor er 1810 nach Berlin ging in Landshut zum Professor berufen worden war. In den Jahren zuvor hatte Brentano die Bekanntschaft wieder aufgefrischt, im übrigen blieb Brentano über Apollonia und Melchior Diepenbrock mit Sailer verbunden. Die Bedeutung Sailers und Diepenbrocks kann für die katholische Erneuerungsbewegung kaum überschätzt werden. Sailer war im September in Münster, suchte die bettlägerige Emmerick in Dülmen aber erst ende Oktober auf. Diepenbrock und Sailer zusammen sandten an die Emmerick im Jahr 1821 sogar einen Brief, indem Diepenbrock bedauerte, sich nicht an ihr erbaut zu haben.

In Dülmen blieb Brentano entgegen seiner ursprünglichen Absicht längere Zeit. Er mietete sich dort ein und besuchte die Kranke zweimal täglich. In der Zeit bis Weihnachten machte er Aufzeichnungen für Luise Hensel, die eine Fülle biografisches Material der Emmerick enthalten. Er nannte diese "Ein Tagebuch für Luise Hensel", seine Intention dabei war, Luise Hensel zur Konversion zu bewegen oder diesen Prozeß zu beschleunigen.

Für seine andauernde Anwesenheit in Dülmen fügten sich für Brentano verschiedene Motive zusammen:

  • mit Luise Hensel und Anna Katharina Emmerick gemeinsam ein heiligenmäßiges Leben zu führen
  • in der Auseinandersetzung gegen Aufklärung und preußischem Staatsanspruch im Sinne der katholischen Erweckungsbewegung propagandistisch tätig zu werden
  • eine Lebensaufgabe zu finden, indem er mithilfe der Emmerick eine Heiligenvita in Arbeit nahm
  • und als nicht mindestes, zur Ruhe zu kommen, seinen Depressionen zu entfliehen, indem er eine politisch-religiös verkleidete "Auszeit" zu nahm.


Brentano sitzt begeistert am Krankenbett, protokolliert jeder Regung und Äußerung der Kranken. Von den Blutungen nimmt er Abdrücke und verschickt sie. Die Extasen der Nonne lassen sich von ihm in gewünschte Richtungen lenken, ebenso die Visionen.

Ein wichtiger Gegenstand der Gespräche Brentanos mit der exklaustrierten Nonne war - natürlich - Luise Hensel. Die überkommenen Tagebücher Brentanos sind "purgiert", also von jeder intimen Aufzeichnung Brentanos über Luise Hensel gesäubert. Brentano spricht in dieser Zeit von sich als Pilger, die Emmerick bezeichnet er als Leidensbraut. Brentano versuchte über das "Medium" Anna Katharina Emmerick die "Braut", Luise Hensel", zum Kommen und zur Konversion zu bewegen. In beidem wird er enttäuscht. Die "magischen Kräfte" der Emmerick reichen nicht aus, auch ihre "Gesichte" sind schlicht falsch. Echt ist allein die Hoffnung Brentanos. Als diese enttäuscht wird, weil Luise Hensel heimlich, hinter seinem Rücken konvertierte, fuhr er im Dezember 1818 nach Berlin zurück. Wenige Tage nach seiner Abreise verschwinden die Blutungen der Nonne.

Brentano kehrt zwar bald nach Dülmen zurück, doch seine ursprünglichen Pläne sind zerstört. Zwar hält sich Luise Hensel in der Nähe Dülmens auf, sie wird Erzieherin im Hause Salm (in Horstmar), das Zerwürfnis ist aber so eindeutig, daß es nur noch lose Kontakte gibt.

Brentano ist über sein weiteres Wirken noch unschlüssig. Zunächst einmal politisiert er, wird deswegen sogar ausdrücklich von der Teilnahme an der staatlichen Untersuchung im August 1819 ausgeschlossen, quasi des Landes verwiesen. Er verfaßte empört einen Bericht über die staatliche Untersuchung. Die Resonanz in der Öffentlichkeit bleibt gering. Zum anderen beginnt er mit der Arbeit an der Geschichte Jesu, in der ihm die Emmerick als Stichwortgeberin dient. Sie ist von diesem Verfahren sehr angestrengt, schließlich muß sie unentwegt als Medium zur Verfügung stehen und hysterische Extasen, die nicht aus sich selbst herausbrechen, sind auf Dauer strapaziös. Die Begeisterung Brentanos und auch der Emmerick kühlt langsam ab. Brentanos Wunsch ist es, sein Werk fertig zu stellen, seinen Werkplan zu erfüllen.