Die Symptomatik aus heutiger Sicht
Für die Krankengeschichte der Emmerick habe ich mich im Institut für
die Geschichte der Medizin an der Freien Universität Berlin durch Prof.
Dr. Rolf Winau und Frau Dr.Bleker beraten lassen. Frau Bleker gab mir
neben einigen Erläuterungen zur historischen medizinischen Terminologie
den Hinweis, mich des "Eulenburgs" zu bedienen, in dem ich dann,
was die Symptomatik betrifft, auch fündig wurde. Das Hauptproblem bei
der Beurteilung der Kranken liegt in den Beobachtungen der Ärzte und der
nicht mehr gebräuchlichen Terminologie. So ist es kaum zulässig, etwa
den Begriff "gallichtes Wechselfieber" in die heutige Terminologie
zu übertragen, weil nicht klar ist, was exakt gemeint ist. Die Beobachtungen
der Ärzte sind an die medizinischen Paradigmen ihrer Zeit gebunden, so
daß nur damals deutungsfähige Phänomene beschrieben, andere aber gar nicht
wahrgenommen wurden. So wird in den Quellen häufig ein Zusammenhang zwischen
den Wundblutungen und der Mensis hergestellt (vikarierende Blutungen,
als Begriff noch 1904 bei Binswanger üblich!) oder zwischen Harnverhalten
und Blasenbildung auf dem Magenkreuz. Diese Beobachtungen lassen sich
leicht in die damals schon überholte Humoraltheorie (Säftelehre des Galen
und Paracelsus) einordnen.
Viele Begriffe wurden summarisch und unspezifisch gebraucht.. Rachitis
muß nicht unbedingt dasselbe bedeuten, was ein heutiger Arzt damit ausdrückt.
Es kann durchaus eine allgemeine körperlich schwache Konstitution gemeint
sein. Wesener läßt sich über seine Beobachtung nicht im Einzelnen aus.
Die häufig erwähnte "Pleuritis" dürfte wie auch heute als Synonym
für Rippenfellentzündung, aber darüber hinaus auch für Lungenentzündung
gebraucht worden sein. "Rheumatisch" bedeutete schlicht "schmerzhaft",
"Hepatitis" war vermutlich nur der Ausdruck für Druck im Oberbauch.
Was Wesener mit "Wassersucht" meinte ist nicht ganz eindeutig.
War es die Gewohnheit der Patientin Unmengen Wasser zu konsumieren oder
war es die Bezeichnung für Ödeme im heutigen Sinne?
Für die Symptome des Blutbrechens und Ausscheidens von Blut mit der Fäzes
kann man vermutlich keine exakte Diagnose stellen, weil völlig unklar
ist, wo der Ort der Blutung sich befand. Zumindest für das Blut im Stuhl
und das erbrochene muß es mindestens zwei verschiedene Ursprünge geben.
Das erbrochene Blut muß aus den oberen Organen stammen. Die Herkunft des
erbrochenen und herausgewürgten Blutes kann der Magen, die Bronchien,
die Speiseröhre, der Kehlkopf oder aber auch die Mundhöhle sein, es ist
dann aber in der Fäzes nicht so leicht zu erkennen, weil es verdaut und
somit schwarz wäre. Das Blut im Stuhl muß nahe des Rektums herrühren,
weil es mit bloßem Auge nur dann als solches zu erkennen ist. Als Krankheitsbild
bietet sich trotzdem eventuell ein Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür
(Ulcus ventricoli / Ulcus Duodeni) an. Bei dieser Krankheit wird gelegentlich
Blut erbrochen und es tritt auch Blut im Stuhl auf, jedoch als Teerstuhl.
Die Beobachtungen beider Ärzte, Krauthausen und Wesener, geben eindeutigen
Indizien für eine schwere körperliche Erkrankung. Den Ärzten standen keine
differenzierten Untersuchungsmöglichkeiten zu Verfügung, sie mußten sich
auf äußere Beobachtung beschränken, wie sie auch in den Quellen überliefert
sind. Eine retrospektive Diagnose ist somit äußerst erschwert. Trotzdem
gibt es genug Anhaltspunkte, um eine Einkreisung der Krankheit zu wagen.
Rachitis
Wesener bemerkt in seiner "Kurzgedrängten Geschichte", die
Emmerick sei von frühester Jugend schwächlich gewesen, und trüge noch
die unzweifelhaften Spuren einer in frühester Jugend erlittenen Rachitis
an sich. Weder Krauthausen noch Druffel bemerken diese Spuren. Rachitis,
auch englische Krankheit genannt, ist eine durch Vitamin-Mangel infolge
unzureichender Sonnenbestrahlung verursachte Stoffwechselerkrankung, die
mit typischen Skelettveränderungen (Brustkorbdeformation = Hühner- / Trichterbrust,
Säbelbeine, Wirbelsäulendeformation) einhergeht. Die Krankheit tritt vor
allem bei Säuglingen und Kleinkindern auf. Die Hauptmanifestation liegt
im 3. - 6. Monat. Zu den Symptomen der Rachitis gehören Unruhe, Muskelhypotonie,
schlaffer Bauch, Kopfschweiß, Haarausfall am Hinterkopf, krankhafte Weichheit
des knöchernen Schädels, Erweiterung der unteren Brustkorböffnung u.a..
Komplikationen einer Rachitis sind Neigungen zu entzündlichen Erkrankungen
des Atemtraktes, Durchfälle und Tetanie (anfallartige Störung der Motorik).
Anna Katharina Emmerick wird durchgehend als schwächlich und anfällig
für Infektionskrankheiten beschrieben, sie litt später immer wieder unter
Beschwerden der Atemorgane, möglicherweise ist diese mangelhafte Resistenz
eine Spätfolge der Rachitis. Da Wesener seine Beobachtung nicht weiter
ausführt, ist unsicher, ob er tatsächlich die Kinderkrankheit meinte.
Unterernährung, Hungersymptome
Trotz der diagnostischen Unsicherheiten habe ich verschiedene Ärzte um
Einschätzungen gebeten. Die naheliegenste Erklärungsmöglichkeit für einige
genannte Symptome wäre eine Form von Hungererkrankung. Die Mangelernährung
kann primär Mitursache, aber auch Begleiterscheinung einer Krankheit sein.
Im vorliegendem Fall ist sie wahrscheinlich beides. Direkte Folgen von
langandauernder Unterernährung sind Störungen des Stoffwechsels, des Hormonhaushalts,
Schwund der Körpergewebe sowie der Knochen und Störungen der inneren Sekretion.
Infolge Eiweißmangels nach lang andauernder Unterernährung kommt es durch
Ansammlung von Gewebsflüssigkeit in den Spalten des Unterhautzellgewebes
zu Hungerödemen. Bei vollem Nahrungsentzug reichen die Energiereserven
eines durchschnittlich ernährten, gesunden Menschen rund 50 Tage aus.
Völlige Ruhe verringert die Stoffwechselleistung und erhöht die ertragbare
Hungerzeit, doch wird der Grundumsatz nur um etwa 20% verringert, weil
alle lebenswichtigen Stoffwechselvorgänge weiterlaufen müssen. Das Ausbleiben
der Regelblutungen ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine solches Resultat
der Unterernährung, infolge derer die hormonelle Steuerung des Körpers
gestört ist. Dieses Phänomen wird z.B. häufig bei Frauen beobachtet, die
in Lagern gefangengehalten werden.
Eine bekannte Mangelerkrankung ist Skorbut. Skorbut kam häufig auf Schiffen,
in belagerten Militäreinrichtungen und Städten vor. Die Krankheit wird
ausgelöst durch die anhaltende Mangelernährung, fehlendes Tageslicht,
Stress erzeugende Unterbringung und wird gefördert durch die psychische
Disposition der Kranken. Skorbut äußert sich in vielfältigen Symptomen
und nicht unbedingt einheitlich. Wichtige äußere Symptome sind u.a. Blutungen
in der Haut und in den Schleimhäuten. Blutungen können, wenn dafür eine
Disposition vorliegt, schon durch Reiben der Hautoberfläche provoziert
werden. Gleichzeitig kann Blut durch die Schleimhäute der Speiseröhre
und des Mundes abgesondert werden. A. K. Emmerick ist jederzeit in der
Lage, Blut aus dem Mund hervorzubringen, was darauf hindeutet, daß die
Blutungen eher im oberen Teil des Halses, also in den Schleimhäuten, ihre
Ursache haben und nicht im Magen. Dies ist insbesondere deshalb zu vermuten,
weil die Peristaltik der Speiseröhre nicht der willkürlichen Kontrolle
des Bewußtseins unterliegt.
Andere mögliche Krankheiten
Etwas ferner, aber ebenso gut möglich ist eine Leberzirrhose oder ein
metastasierender Magenkrebs. Für die Leberzirrhose spricht, daß bei diesem
Krankheitsbild ebenfalls Bluterbrechen und Hautblutungen an den Extremitäten
und am Kopf auftreten können, zudem wäre die anhaltende Unverträglichkeit
von Speisen erklärbar. Das bei der Leberzirrhose, Hepatitis und auch bei
manchen Karzinomformen auftretende Palmar - Syndrom zeigt symmetrische
und chronische Erytheme der Handteller und Fußsohlen.
Für das Erscheinen der Wunden, unabhängig von inneren Erkrankungen, gibt
es eine ganze Reihe von Erklärungen, die aber überwiegend mit psychogenen
Faktoren zusammenhängen. Erwähnt sei hier das Krankheitsbild "Akrodynie"
und Erythromelalgie. In der Literatur zur Dermatologie finden sich mannigfaltige
Krankheitsbilder, die mit Blutungen der Hände und Füße und anderer Körperpartien
einhergehen. Eine besondere Verbindung zu den Symptomen der Emmerick findet
sich im Kreis der tuberkulösen Erkrankungen, besonders der Lungentuberkulose
und der Hauttuberkulose.
Lungentuberkulose
Eine Krankheit, in der die meisten der angegebenen Symptome auftreten
und die daneben psychische Auswirkungen hat, ist die Lungentuberkulose,
auch Schwindsucht, griechisch Phthisis pulmonum und seinerzeit Skrofulose
genannt. Die Lungentuberkulose ist inzwischen, zumindest in Mitteleuropa,
eine exotische und historische Krankheit. Für Wesener und Krauthausen
blieben die Zusammenhänge noch im Dunkeln, während die meisten heutigen
Ärzte kein exaktes klinisches Bild mehr haben, weshalb weder die zeitgenössische,
noch die derzeitige Medizin die Krankheit der Emmerick der Lungentuberkulose
zugeordnet haben. Zeitgenössische Ärzte konnten zwar auf ihre empirisch
gewonnenen Erfahrungen bauen, sie konnten aber nur wenige Krankheiten
genau bestimmen, was schon an der vieldeutigen Terminologie kenntlich
wird. Die kausalen Zusammenhänge einer Infektionskrankheit blieben ihnen
noch verschlossen. Erst mit der Begründung der Bakteriologie, die mit
der Entdeckung des Tuberkelbazillus (Mycobacterium tuberculosis, durch
Robert Koch 1882) eng verknüpft ist, können Symptome und Verlauf der Lungentuberkulose
verstanden werden.
Zwar gibt es erst seit den 1870er Jahren für Westfalen statistische Angaben
darüber, wie hoch der Durchseuchungsgrad war, man kann aber davon ausgehen,
daß mindestens die Mehrheit der Bevölkerung mit Tuberkelbazillen infiziert
war. Für die ersten statistischen Untersuchungen geht man von 90% der
Gesamtbevölkerung Westfalens aus, wobei allerdings das Ruhrgebiet mit
seinen Bergwerken mit eingeschlossen ist.
Wesener hat die Krankheit als Todesursache angegeben. Seine abschließende
Diagnose lautete auf Phthisis pituitosa was nichts anderes als auf Schleim
bezogene Schwindsucht bedeutet. Er benutzt jedoch nicht den Ausdruck Phthisis
pulmonum. Katarrhe, Husten und Pleuritis waren tatsächlich immer wiederkehrende
Erkrankungen der Emmerick schon seit ihrer Lehrzeit. Ein deutlicher Hinweis
auf Lungentuberkulose ist das profuse nächtliche Schwitzen, welches von
Wesener wiederholt konstatiert wurde. Wesener war sicherlich mit dem Krankheitsbild
der Lungentuberkulose vertraut, schon der Mediziner Thomas Sydenham (1624
- 1689) hatte 1661 - 1675 ein Kompendium mit der lehrbuchhaften Beschreibung
von Krankheiten verfaßt. Dieses Werk, die "Observationes medicae
circa morborum acutorum historiam et curationem" wurden just um 1800
in die deutsche Sprache übertragen und es ist wahrscheinlich, daß Wesener
mit dieser Frucht der Aufklärung in seinem Studium in Berührung kam. Über
die Lungentuberkulose ist vermerkt: "Die Phtise beginnt zwischen
dem 18. und 35. Lebensjahr. Der ganze Körper wird abgezehrt. Es besteht
ein quälender hektischer Husten, der bei Nahrungsaufnahme zunimmt. Dieser
wird begleitet von einer Beschleunigung des Pulses und von Rötung der
Wangen. Der mit dem Husten geförderte Auswurf ist blutig und eitrig. Wenn
er erhitzt wird, riecht er faulig. Wird er in Wasser gelegt, so sinkt
er unter. Nachts bricht Schweiß aus. Im Laufe der Zeit werden die Wangen
livide, das Gesicht blaß, die Nase scharf. Die Schläfen sinken ein, die
Nägel biegen sich einwärts, die Haare fallen aus, und es entleert sich
ein schleimig - eitriger Stuhlgang - Vorzeichen des Todes."
Auch die "untrüglichen Zeichen einer in frühester Jugend erlittenen
Rachitis" können in diesem Zusammenhang interpretiert werden. Rachitis
ist eine Kinderkrankheit und bewirkt durch Stoffwechselstörungen eine
Erweichung der Knochen, so daß diese sich bei Belastung verformen und
später die veränderte Form beibehalten.
Mögliche bleibende Schäden der Rachitis sind sogenannte "Säbelbeine"
oder eine Rückgratdeformation. Fraglich ist, ob Wesener solche Schäden
mit seiner Bemerkung gemeint hat. Anna Katharina Emmerick ist im Tagebuchzeitraum
nicht aus ihrem Bett aufgestanden und weigerte sich sogar ihren "Posterior"
zu entblößen. Wesener behandelte zwar den decubitus, der für gewöhnlich
am Kreuzbein auftritt, dabei mußte sich die Emmerick aber nicht vollständig
entblößt haben. Wesener konnte also seine Bemerkung nur auf eine offensichtliche
körperliche Veränderung bezogen haben, die er wiederholt wahrnahm und
das waren vor allem die Wunden am Brustkorb.
Eine Spätfolge von Rachitis ist die sogenannte "Hühnerbrust"
oder "Trichterbrust". Zu einer Verformung des Brustkorbes kommt
es aber auch bei Lungenschwindsucht. "Durch Veränderung der oberen
Lungenabschnitte kommt es bei chronischer Phthise zur Ausbildung einer
eigentümlichen Form des Brustkorbes, durch den Zug der schrumpfenden Lungenspitzen
wird der obere Teil des Sternums (Brustbein) der Wirbelsäule genähert,
so daß der Sternalwinkel besonders stark hervortritt.... Mit anderen Worten:
durch die tuberkulöse Lungenerkrankung entsteht die paralytische Thoraxform,
die bereits oben als habitus phthisicus besprochen worden ist."Wesener
kann das Phänomen des deformierten Brustkorbs fälschlicherweise auf rachitische
Ursachen bezogen haben, während es tatsächlich die Folge der Lungentuberkulose
war.
Infektionen fallen häufig in die Kindheit oder ins späte Alter. Eine
Infektion bedeutet jedoch noch nicht Ausbruch der Krankheit. Verantwortlich
für den Ausbruch der Krankheit ist das Zusammenwirken verschiedener Faktoren:
äußere, Prädisposition, Zustand der Immunabwehr usw.
Da sind zunächst die äußeren Bedingungen wie der andauernde Aufenthalt
in stark partikelhaltiger Luft (Staub, Rauch usw.), das Fehlen von Sonneneinstrahlung
und allgemein unhygienische Verhältnisse. Diese Bedingungen dürften sich
weit verbreitet in den engen, dunklen Behausungen der Landbevölkerung
um 1800 gefunden haben. Brentano beschreibt die Kate, in der A. K. Emmerick
großgeworden ist aber auch die allgemeinen häuslichen Gegebenheiten im
Münsterschen:"Das ganze Haus ist gewissermaßen um den Herd versammelt.
Das Feuer auf eiserner Platte an ser Erde, an einer Mauer und was zum
Herde gehört ist immer am besten in der Ordnung im ganzen Haus. Der erste
Eintritt ins Haus führt direkt in diese Küche, in der auch das ganze Leben
vor sich geht. Die Schlafstellen sind in den Wänden in einer Art eingemauerter
Schräncken, deren Thüren bei Tag geschlossen sind, angebracht, oft in
der Küche selbst, öfter in einer dicht anliegenden Tenne stehen links
und rechts Kühe oder Pferde auf etwas tieferen Boden, so daß ihre Futtertröge
ebener Erde stehen und sie durch Pfähle fressend die Köpfe hereinstecken.
In einem Haus sah das Kind, damit es nicht ins Feuer fallen mogt, in dem
runden Ausschnitt eines Brettes das sich an einer Stange um einen Pfeiler
bewegte im Kreiße herumlaufen. Am anderen Ende dieses großen Raumes oder
in der durch ein Thor abgesonderten Tenne wird gedroschen oder Flachs
gebrochen, oben drüber liegt das Heu, Stroh und Getreide. (...) Bei armen
Bauern ist alles dieses roher und einfacher, aber immer sehr vertraulich
und heimatlich. Eines nur, was jedoch immer seltener wird, beschwehrt
den Ungewohnten in den Wohnungen der Ärmeren Leute sehr, nehmlich der
Mangel eines Rauchfangs, der Rauch zieht nach Belieben allen Öffnungen
hinaus, was bei Regentagen sehr unangenehm ist, weil dann die Wohnung
oft von dichtem Rauch erfüllt ist. ." In der Kate wurde
sowohl gewohnt, als auch gearbeitet, d.h. ein großer Teil des Tages wurde
in ihr zugebracht. Hier waren äußere Voraussetzungen für eine Begünstigung
der Lungentuberkulose gegeben. Ein besonderer Gefährdungsfaktor ist das
Zusammenleben mit Rindern, wobei die Rindertuberculose (auch durch die
Milch) übertragen werden kann.
Sowohl Wirkung der Lungentuberkulose als auch förderlich für ihren Ausbruch
sind eine allgemeine schwache Konstitution. In diesem Fall bleibt offen,
was Henne ist, was Ei. Die andauernde Appetitlosigkeit der Emmerick kann
psychische Ursachen haben aber auch Folge der Schwindsucht sein. Der Name
der Krankheit beschreibt ihre äußerliche Wirkung. Muskulatur, Knochen
und Fettgewebe schwinden, das Erscheinungsbild einer Schwindsüchtigen
ist geprägt durch auffallende Blässe, neuromuskuläre Schwäche und zunehmende
Abmagerung. Wenn die Emmerick vor Auftreten der Lungentuberkulose schon
krankhaft zur Magersucht neigte, begünstigte das natürlich den offenen
Ausbruch der TBC. Denkbar ist eine Art Hand - in - Hand Effekt, wobei
eine psychische Vorbelastung vorhanden war, die durch die fortschreitende
Lungentuberkulose verstärkte wurde.
Die Folge einer chronischen Mangel- oder Unterernährung ist die nachhaltige
Störung des Stoffwechsels und des Hormonhaushalts. Indiz hierfür ist die
Unregelmäßigkeit der Menstruation, die Krauthausen erstmals 1803, also
zu Beginn der Klosterzeit feststellte. Nächst den Infektionskrankheiten
sind es chronische Störungen des Stoffwechsels und Veränderungen des Gesamtorganismus,
die zur Lungentuberkulose führen.
Auslösend für die Krankheit kann aber auch ein Trauma - eine stumpfe
Verletzung des Brustkorbs durch Stoß, Fall, Schlag oder Quetschung - sein.
Auch diese Bedingung ist bei A. K. Emmerick gegeben, erinnert sei an den
Sturz des Wäschekorbes im Jahr 1805. Die letzteren Fakten sind erst nach
1802 sicher bezeugt, es ist aber davon auszugehen, daß die Krankheit schon
vorher virulent war. Entscheidendes Indiz für frühzeitiges Auftreten der
Lungentuberkulose kann die Aufgabe der Lehrstelle im Jahr 1793/94 sein.
Nach Aussage der Lehrherrin Krabbe lag dem Abbruch kein Zerwürfnis zugrunde,
auch sei die Emmerick immer fleißig und zuvorkommend gewesen. Einziger
Grund für den Abbruch sei eine Krankheit gewesen. Diese muß also derart
schwerwiegend gewesen sein, daß die Emmerick völlig aus der Bahn geworfen
wurde. In den Quellen findet sich allerdings kein Anhalt dafür, daß die
Emmerick anschließend länger den üblichen Anforderungen nicht standgehalten
hätte oder länger pflegebedürftig war. 1794 arbeitet sie schon wieder
als selbständige Näherin.
Kopfschmerzen gehören ebenso wie Brustschmerzen zur Symptomatik der Krankheit.
A. K. Emmerick berichtet vom erstmaligem Auftreten der Kopfschmerzen zu
der Zeit, als sie bei Söntgen wohnte, etwa um 1800. Kopfschmerzen bleiben
ihr ständiger Begleiter, auch wenn sie diese als Vorboten der "Dornenkrone"
interpretiert.
Lungentuberkulose ist eine Infektionskrankheit, die sich zuerst in den
Schleimhäuten der Lunge festsetzt. Weitet sich die Krankheit aus, bilden
sich Infektionen an anderen Organen, vornehmlich an solchen, die ebenfalls
mit einer Schleimhaut umgeben sind. Dazu gehören Magen, Darm,
Kehlkopf, Rachen/Mundhöhle, Nase, Ohr. Ebenso können andere Organe wie
Leber, Milz, Urogenitalapparat, Blase und Niere befallen sein. Die im
Spätstadium ständig brennenden Augen und die Unterleibsentzündungen der
Emmerick deuten auf eine solche sich ausweitende Infektion hin.
Eine erste Nebenwirkung der Lungentuberkulose betrifft meist den Verdauungstrakt.
Hierbei kommt es zu Komplikationen im Magen, wo sich Tuberkelbazillen
festsetzen, es folgt häufig eine chronische Gastritis. Die anhaltende
Übelkeit, die Unverträglichkeit von Speisen und das ständige Erbrechen
lassen sich hiermit in Verbindung bringen. Ob das blutige Erbrechen nun
in Verbindung mit einer Gastritis steht, ist nicht sicher, da Blutungen
einer Lungentuberkulose auch in der Lunge oder den oberen Atmungswegen
ihre Ursache haben könnte. Möglicherweise kommen beide Quellen in Betracht.
Ein Hinweis könnte die Farbe des Blutes geben. Blutungen, die aus der
Lunge herrühren, sind eher hellrot, da es sich um arterielles Blut handelt.
Krauthausen beschreibt die Eigenschaften des erbrochenen Blutes als dunkelbraun
und koaguliert, so daß das bekannte Lungenbluten der Tuberkulösen hierbei
wohl nicht in Betracht kommt. Allerdings erwähnt Wesener öfter blutiges
Husten. Einmal ist die Rede von einem Erstickungsanfall, der sich erst
legt, als die Emmerick münzgroßen eitrigen Schleims auswirft, auch dies
ein deutlicher Hinweis auf Lungentuberkulose, für die eitriges, münzenförmiges
Sputum charakteristisch ist.
Profuse Nachtschweiße gehören zu den Symptomen einer entwickelten Lungentuberkulose.
Die Berichte aus der Klosterzeit lassen darauf schließen, daß die Krankheit
schon dort weit fortgeschritten war.
Katarrhe und Pleuritis sind beständige Begleiterscheinungen der TBC,
erstmals sind diese Symptome für 1802, also der Zeit des Noviziats belegt.
Sowohl akute als auch chronische Fieberzustände können auftreten. Die
akuten Fieber können vielleicht mit den "gallichten Wechselfiebern"
übereinstimmen, da die akuten Fieber schubartig auftreten um dann kurzfristig
wieder der Normaltemperatur zu weichen. Fieberschübe treten in diesem
Zusammenhang auf als Folge von Lungenblutungen, neuen Infektionsherden,
körperlicher oder psychischer Überanstrengung der Kranken. In jedem Fall
stehen Fieberanfälle für ein Fortschreiten der Krankheit. Chronische Fieberzustände
sind ebenfalls typisch für Lungentuberkulose; wechselnde Fieber, bei denen
tägliche Temperaturschwankungen sehr groß werden können. Bei solch stark
schwankenden "hektischen" Fieber steigt die Temperatur meist
in wenigen Stunden unter Frösteln auf 39 oder 40, selbst 41 Grad und fällt
nach kurzer Zeit unter starkem Schweißausbruch wieder ab zur Norm oder
selbst unter die Norm. Die Tageszeit der Maxima und Minima kann unterschiedlich
auf Morgen, Mittag oder Abend fallen. In jedem Fall kann das Fieber Halluzinationen
auslösen oder halluzinatorische Zustände stützen.
Von besonderer Bedeutung im Zusammenhang mit den als Stigmata interpretierten
Hautdefekten ist, daß Tuberkulose auch als Hauttuberkulose auftritt..
Hauttuberculose erscheint, wenn überhaupt, erst im fortgeschrittenem Stadium
einer Lungentuberkulose als metastasierender Herd. Da die Symptomatik
der "tuberculosis cutis" nicht zwingend mit den Stigmata der
Emmerick übereinstimmt - die Hautdefekte sind recht genau abgegrenzt und
erscheinen an symbolischen Stellen - kann dieses Phänomen für die Erklärung
erst einmal zurückgestellt werden.
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