Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


Parallelfälle

Die sogenannte Einzigartigkeit des "Emmerickerlebnisses" relativiert sich deutlich, wenn man die Parallelfälle der Zeit betrachtet. In Carl du Prels "Philosophie der Mystik" sind seitenweise die Somnambulen jener Zeit verzeichnet. Neben DuPrel wird man bei Kerner und auch in Görres "Mystik" auf der Suche nach Parallelfällen fündig. Überwiegend handelte es sich um einfache Frauen, selten Männer oder Kinder. Auffällig ist, daß jede Somnambule ihren "Seelenführer" hatte. Oder umgekehrt, jeder, der es mit der Metaphysik hielt und es sich leisten konnte, beherbergte "seine" Somnambule. Eine "höchste Blüthe" erklomm das Wesen mit den künstlichen Somnambulismus "in den Jahren 1812 - 1820" (Pierers Lexikon von 1835).

Von herausgehobener Bedeutung sind zwei Fälle aus der ersten Hälfte des 19. Jahrunderts, und zwar deshalb, weil auch hier das gleiche Reaktionsmuster der Öffentlichkeit, der Administration und der nahestehenden Personen zu erkennen ist. Beide Fälle ereigneten sich knapp nach dem Tode Anna Katharina Emmericks, sind jedoch noch so zeitnah, daß die Parallelität nicht zu übersehen ist. Der erste Fall betrifft Friederike Hauffe - auch sie eine Somnambule - der andere Kaspar Hauser, von dem gerade jetzt viel die Rede ist wegen des Versuchs der gentechnischen Lösung des Rätsels seiner Herkunft.

Kaspar Hauser

Kaspar Hauser wurde am 26. Mai 1828 hilflos in Nürnberg aufgegriffen. Nach seinen verworrenen Angaben war der Verwahrloste wie ein Tier im Kellerverließ aufgewachsen. Forschungen nach seiner Herkunft blieben ergebnislos. Kaspar Hauser verfügte nur über einen außerordentlich eingeschränkten Wortschatz, etwa 50 Worte. Der rasch Auffassende wurde zur Erziehung dem Gymnasialprofessor F. Daumer übergeben, bei ihm lernte er lesen und schreiben. Daumer und der Nürnberger Stadtgerichtsarzt Dr. Preu nahmen an dem Findling psychologische und pädagogische Experimente vor. Zum Obervormund wurde der Strafrechtsprofessor und seit 1817 Präsident des Appellationsgerichtes Ansbach Anselm Feuerbach bestellt. Feuerbach verfügte 1832 die Übersiedlung nach Ansbach in die Obhut des Lehrers J. G. Meyer, nachdem 1829 und 1831 zwei rätselhafte, unaufgeklärte Attentatsversuche auf Hauser stattgefunden hatten. Hauser wurde bei der Kreisregierung als Aktenkopist beschäftigt und fand reges Interesse bei der Gesellschaft. Zahlreiche Bewunderer verlangten ihn zu sehen, er galt teils als Jahrmarktsattraktion, teils als wissenschaftliches Curiosum. Am 14.12 1833 kam Hauser mit einer schweren Stichwunde im Unterleib, an der er nach drei Tagen verstarb, nach Hause und berichtete von einem Attentat. Bis heute dauert die Debatte um seine Herkunft an. Im wesentlichen gibt es zwei Theorien: Die Betrügertheorie, nach der er von eigener Hand gestorben ist und die Prinzentheorie (1834 erstmals publiziert nachdem sie bereits 1832 von Feuerbach vertreten wurde). Sie erklärt, daß Kaspar Hauser der am 29.8.1812 geborene Sohn des Großherzogs Karl von Baden gewesen sei, der wegen dynastischer Ranküne um die Erbfolge mit einem toten Kinde vertauscht worden sei. Die Aufträger des Mordes werden in den Kreisen vermutet, deren dynastische Ansprüche nicht eindeutig abgesichert waren. Das betraf neben kleineren Fürstenhäusern vor allem das Haus Baden ebenso wie das wiedereingesetzte Haus Bourbon in Frankreich.

Die Parallelen zur Emmerick sind eindeutig. Eine völlig unbekannte Figur - Kaspar Hauser oder A. K. Emmerick - regt die Phantasie der Gesellschaft an, beide sind bald in ganz Europa bekannt. Die Personen sind jeweils hilflos und kaum von sich aus aktiv. Umgehend stellen sich prominente Personen des Landes an deren Seite. Der Fall wird publizistisch unter den Gesichtspunkten Wunder oder Betrug, Aufklärung oder Metaphysik abgehandelt. Über beide wird in Berlin mit großer Wirkung publiziert. Beide Fälle ergeben rasch politische Verwicklungen. Von außerhalb wird Einfluß genommen, um den Fall auf- bzw. abzuwerten. Sofort werden psychologische und medizinische Spekulationen angestellt. Die nächststehenden Personen - bei Hauser zunächst Daumer und Brentano - nehmen psychologische Experimente vor, welche die Besonderheit der Person nutzt, aber im wesentlichen auf Mesmer oder Hahnemann (Homöopathie) also die Naturphilosophie zurückgehen. Beide Betroffene sterben nach wenigen Jahren. Die Nachwirkung ist in beiden Fällen erheblich. Die Publizistik beschäftigt sich im Falle Hauser bis heute und im Falle Emmerick bis in die 1950er Jahre mit ihnen. Kaspar Hauser wird Namensgeber des Kaspar Hauser Syndroms, nach dem kleine Kinder völlig vernachlässigt und ohne Ansprache aufwachsen. Vor allem aber meinte man, mit Kaspar Hauser die Rousseausche Theorie von den Entwicklungsstufen des Kindes beweisen zu können und die Zuwendungsabhängigkeit des Individuums. Das isolierte Aufwachsen des Kindes Kaspar Hauser galt ebenso als Wunder, wie die Nahrungslosigkeit und die Wunden der Dülmener Nonne.

Welcher Art aber waren die Experimente Daumers? Daumer gilt unter den meisten Hauser - Historikern als ein mystisch - verschrobener Einzelgänger, eine bürgerliche Figur der biedermeierlichen Spätromantik. Scholz stellt fest, daß drei von den vier seriösen Hauserianern ein Urteil über Daumer vermieden. Der vierte, Bartning meinte, daß Daumer selbst Gegenstand einer psychologischen Untersuchung zu werden verdiente. Übrigens zählte Scholz auch Pies zu den seriösen Wissenschaftlern. Meyer und Tradowskys "Kind von Europa" war zu der Zeit (1964) noch nicht erschienen, inzwischen gibt es eine ganze Reihe Literatur mit fundierten Urteilen. Allerdings ist ein Großteil des derzeit lieferbaren Schrifttums im Umkreis der Anthroposophen herausgebracht worden, wie auch die Emmerickschriften hauptsächlich von Augustinern befördert wurden, also eindeutig Tendenzliteratur. Bezeichnend, und auch hierin parallel - siehe Schrifttum der Emmerickbiografen und des Emmerickbundes -, ist die Äußerung Rudolf Steiners, "Wenn Kaspar Hauser nicht gelebt hätte und gestorben wäre, wie er es tat, so wäre der Kontakt zwischen der Erde und der geistigen Welt vollkommen unterbrochen" . Und letzten Endes flössen die Gegnerschaft gegen Dr. Steiner und gegen die Anthroposophie aus der gleichen trüben Quelle, wie der Schmutz, der über Daumer ausgegossen würde und der Dolchstoß, der den Findling ins Herz getroffen hätte. Na ja! Zurück zu den Versuchen, die in der Mesmerischen Variante schon aus dem Vorkapitel bekannt sind.

Die erste Abteilung der Versuche betraf Hahnemanns neue Lehre, die Homöopathie. Experimentiert wurde mit hochverdünnten Präparaten von Pflanzen Ipecacuanha (Brechwurzel), Nux vomica (Brechnuß), Lycopodium (Bärlapp=Farnpfl.), Aconit (Eisenhut, äußerst giftig) und Arnica (Wohlverleih). Dann auch mit tierischen Stoffen: Sepia (Fischbein, Tintenfisch) und weiterhin mit Mineralien: Schwefel und Silicea (gefällte trockene Metakieselsäure). In der Regel mußte Hauser an den Stöpseln der Flaschen mit den hochverdünnten Stoffen riechen und diejenigen Stöpsel, die mit den Stoffen in Berührung gekommen sind, benennen. Die Wirkung der einzelnen Stoffe auf Hauser wurde genau registriert. Die Reaktionen gingen von Wutausbrüchen (stinkt, stinkt!) zu allen möglichen körperlichen Erscheinungen (Tränen, Augenbrennen, Haarausfall, Übelkeit, Anlaufen der Adern in der Hand mit Hitze im Gesicht!! Fußschweiß usw.)

Hauser wurde ein übersteigerter Geruchssinn zugeschrieben, ebenso die Fähigkeit auf Mineralisches und Organisches zu reagieren. Er galt darüber hinaus als sensibles mesmerisches Medium.

Ein ganz ähnliches Experiment wie die Erkennung der Benediktion bei der Emmerick findet sich bei den Experimenten Daumers. "Von mir und Herrn Professor Herrmann fühlte er die magnetische Einwirkung am stärksten,..... Ich trat einst mit jenem in sein Zimmer, als er, mit dem Rücken gegen die Tür gekehrt, bei einer Arbeit sehr aufmerksam beschäftigt war. Da er in solchem Falle, in welchem er außer dem Gegenstande seiner Aufmerksamkeit nichts hörte noch sah, auch die magnetische Wirkung schwächer fühlte, so versuchte mein Freund, ob er es merke, wenn er in Entfernung den Finger gegen ihn hinhalte. Er tat dies eine Zeitlang, ohne daß Hauser zu erkennen gab, daß er etwas verspüre; Kaum aber hatte ich (schweigend, wie sich versteht) den finger gegen ihn gerichtet, so schrak er zusammen und sah sich ganz verstört nach den Ursachen dieser Einwirkung um." "Ich ließ ihn in ziemlicher Entfernung vor mir hergehen und sagte ihm, ich wolle gegen ihn mit der Hand herabfahren und er solle sagen, wann er etwas empfinde. Ich fragte ihn zweimal, ob er nichts spüre, so daß es schien, als mache ich hinter ihm die Bewegung, die ich unterließ, worauf er verneinend antwortete. als ich aber wirklich, und zwar schnell mit der Hand herabfuhr, sah man in diesem Augenblick die Äußerung des Frostschauders an ihm, worauf er sich umdrehte und sagte, nun sei ich mit der Hand herabgefahren."

"Bei Fassung und Berührung eines, wenn auch für die Empfindung anderer nicht kalten Metalls, Glases usw. fühlte er sogleich eine durch den Arm hinaufgehende Erkältung, deren Schnelligkeit bei verschiedenen Mineralien verschieden war. ... Ich legte in seiner Abwesenheit einen goldenen Ring, einen Zirkel von Stahl und Messing und eine silberne Reißfeder unter Papier, so daß man nicht sehen konnte, daß etwas darunter verborgen war. Ich ließ ihn mit den Fingern über dieses Papier herfahren, so daß das Papier nicht berührt wurde, und er unterschied durch die verschiedene Stärke des Zuges, den jene Metalle gegen seine Finger ausübten sie alle."

Die Szene ist bekannt und heißt bei Wesener:

"Am unerklärlichsten war mir aber die Erscheinung, daß sie auch allemal ein Kreuzzeichen machte, wenn ein Priester den Segen über sie sprach. Mit diesem letzten Experiment dachte ich sicher hinter die Schliche zu kommen, weshalb ich oft die Bettvorhänge dicht zuzog und einen Geistlichen bat, ihr die Benediktion bloß in Gedanken von weitem, ja vor dem Hause zu geben mit wahrer Intention; aber allemal sah ich ein und denselben Erfolg. Um zu erproben, ob bloß der Reiz des kalten Weihwassers, womit man sie besprengte, sie mechanisch zum Bezeichnen mit dem Kreuze veranlaßte, ließ ich ihr bei krampfhaft verschlossenen Augen, ohne geringstes Geräusch das Weihwasser vorhalten. Sie richtete sich auf, tunkte ein und segnete sich. Als sie sich wieder eine Zeilang niedergelegt hatte, ließ ich ihr ein Glas Wasser vorhalten. Sie richtete sich wieder auf, ergriff das Glas, trank daraus und gab es wieder hin. Von allem wußte sie nachher nichts.".

Ähnliche Berichte gibt es in den Aufzeichnungen Weseners und den Akten der kirchklichen Untersuchung Hümpfners in Fülle, nachzuschlagen im Register unter "Hierognosie". Angemerkt werden muß, daß "die Regel Ausnahmen hatte", wie Hümpfner zugesteht. Vermutlich gab es viele Ausnahmen, nach der Regel, daß nur die Prognosen erinnert werden, die auch tatsächlich eingetreten sind. Der Domdechant Rensing, der ein solches Experiment selbst und bewußt vornahm, schrieb in seiner kritischen Revision: "Was ich von dem Kreuzmachen bei heimlicher Erteilung des priesterlichen Segens, von der Bewegung ihrer Hände, ein ihr dargebotenes Kruzifix anzunehmen, und von der Erschütterung ihres Körpers bei Berührung derselben mit dem gesalbten Finger eines Priesters gesagt habe, das habe ich, indem ihr Beichtvater Limberg, den Versuch machte, selbst gesehen, hernach auch durch eigenen Versuch erfahren; aber in diesen Fällen wurde, soviel ich mich erinnere, vorher von dem, was man vorhatte oder versuchen wollte, laut gesprochen. Zu einer anderen Zeit, stellte ich ganz versteckt und ohne ein Wort davon zu sagen, solche Versuche an, aber ohne denselben Erfolg."

Ein Kommentar erübrigt sich wohl, angesichts solcher Versuchsanordnung. Festzuhalten ist, daß solche Versuche fast gleichartig an allen Somnambulen und "sensiblen Medien" vorgenommen wurden.