Die sogenannte Einzigartigkeit des "Emmerickerlebnisses" relativiert
sich deutlich, wenn man die Parallelfälle der Zeit betrachtet. In Carl
du Prels "Philosophie der Mystik" sind seitenweise die Somnambulen
jener Zeit verzeichnet. Neben DuPrel wird man bei Kerner und auch in Görres
"Mystik" auf der Suche nach Parallelfällen fündig. Überwiegend
handelte es sich um einfache Frauen, selten Männer oder Kinder. Auffällig
ist, daß jede Somnambule ihren "Seelenführer" hatte. Oder umgekehrt,
jeder, der es mit der Metaphysik hielt und es sich leisten konnte, beherbergte
"seine" Somnambule. Eine "höchste Blüthe" erklomm
das Wesen mit den künstlichen Somnambulismus "in den Jahren 1812
- 1820" (Pierers Lexikon von 1835).
Von herausgehobener Bedeutung sind zwei Fälle aus der ersten Hälfte des
19. Jahrunderts, und zwar deshalb, weil auch hier das gleiche Reaktionsmuster
der Öffentlichkeit, der Administration und der nahestehenden Personen
zu erkennen ist. Beide Fälle ereigneten sich knapp nach dem Tode Anna
Katharina Emmericks, sind jedoch noch so zeitnah, daß die Parallelität
nicht zu übersehen ist. Der erste Fall betrifft Friederike Hauffe - auch
sie eine Somnambule - der andere Kaspar Hauser, von dem gerade jetzt viel
die Rede ist wegen des Versuchs der gentechnischen Lösung des Rätsels
seiner Herkunft.
Kaspar Hauser
Kaspar Hauser wurde am 26. Mai 1828 hilflos in Nürnberg aufgegriffen.
Nach seinen verworrenen Angaben war der Verwahrloste wie ein Tier im Kellerverließ
aufgewachsen. Forschungen nach seiner Herkunft blieben ergebnislos. Kaspar
Hauser verfügte nur über einen außerordentlich eingeschränkten Wortschatz,
etwa 50 Worte. Der rasch Auffassende wurde zur Erziehung dem Gymnasialprofessor
F. Daumer übergeben, bei ihm lernte er lesen und schreiben. Daumer und
der Nürnberger Stadtgerichtsarzt Dr. Preu nahmen an dem Findling psychologische
und pädagogische Experimente vor. Zum Obervormund wurde der Strafrechtsprofessor
und seit 1817 Präsident des Appellationsgerichtes Ansbach Anselm Feuerbach
bestellt. Feuerbach verfügte 1832 die Übersiedlung nach Ansbach in die
Obhut des Lehrers J. G. Meyer, nachdem 1829 und 1831 zwei rätselhafte,
unaufgeklärte Attentatsversuche auf Hauser stattgefunden hatten. Hauser
wurde bei der Kreisregierung als Aktenkopist beschäftigt und fand reges
Interesse bei der Gesellschaft. Zahlreiche Bewunderer verlangten ihn zu
sehen, er galt teils als Jahrmarktsattraktion, teils als wissenschaftliches
Curiosum. Am 14.12 1833 kam Hauser mit einer schweren Stichwunde im Unterleib,
an der er nach drei Tagen verstarb, nach Hause und berichtete von einem
Attentat. Bis heute dauert die Debatte um seine Herkunft an. Im wesentlichen
gibt es zwei Theorien: Die Betrügertheorie, nach der er von eigener Hand
gestorben ist und die Prinzentheorie (1834 erstmals publiziert nachdem
sie bereits 1832 von Feuerbach vertreten wurde). Sie erklärt, daß Kaspar
Hauser der am 29.8.1812 geborene Sohn des Großherzogs Karl von Baden gewesen
sei, der wegen dynastischer Ranküne um die Erbfolge mit einem toten Kinde
vertauscht worden sei. Die Aufträger des Mordes werden in den Kreisen
vermutet, deren dynastische Ansprüche nicht eindeutig abgesichert waren.
Das betraf neben kleineren Fürstenhäusern vor allem das Haus Baden ebenso
wie das wiedereingesetzte Haus Bourbon in Frankreich.
Die Parallelen zur Emmerick sind eindeutig. Eine völlig unbekannte Figur
- Kaspar Hauser oder A. K. Emmerick - regt die Phantasie der Gesellschaft
an, beide sind bald in ganz Europa bekannt. Die Personen sind jeweils
hilflos und kaum von sich aus aktiv. Umgehend stellen sich prominente
Personen des Landes an deren Seite. Der Fall wird publizistisch unter
den Gesichtspunkten Wunder oder Betrug, Aufklärung oder Metaphysik abgehandelt.
Über beide wird in Berlin mit großer Wirkung publiziert. Beide Fälle ergeben
rasch politische Verwicklungen. Von außerhalb wird Einfluß genommen, um
den Fall auf- bzw. abzuwerten. Sofort werden psychologische und medizinische
Spekulationen angestellt. Die nächststehenden Personen - bei Hauser zunächst
Daumer und Brentano - nehmen psychologische Experimente vor, welche die
Besonderheit der Person nutzt, aber im wesentlichen auf Mesmer oder Hahnemann
(Homöopathie) also die Naturphilosophie zurückgehen. Beide Betroffene
sterben nach wenigen Jahren. Die Nachwirkung ist in beiden Fällen erheblich.
Die Publizistik beschäftigt sich im Falle Hauser bis heute und im Falle
Emmerick bis in die 1950er Jahre mit ihnen. Kaspar Hauser wird Namensgeber
des Kaspar Hauser Syndroms, nach dem kleine Kinder völlig vernachlässigt
und ohne Ansprache aufwachsen. Vor allem aber meinte man, mit Kaspar Hauser
die Rousseausche Theorie von den Entwicklungsstufen des Kindes beweisen
zu können und die Zuwendungsabhängigkeit des Individuums. Das isolierte
Aufwachsen des Kindes Kaspar Hauser galt ebenso als Wunder, wie die Nahrungslosigkeit
und die Wunden der Dülmener Nonne.
Welcher Art aber waren die Experimente Daumers? Daumer gilt unter den
meisten Hauser - Historikern als ein mystisch - verschrobener Einzelgänger,
eine bürgerliche Figur der biedermeierlichen Spätromantik. Scholz stellt
fest, daß drei von den vier seriösen Hauserianern ein Urteil über Daumer
vermieden. Der vierte, Bartning meinte, daß Daumer selbst Gegenstand einer
psychologischen Untersuchung zu werden verdiente. Übrigens zählte Scholz
auch Pies zu den seriösen Wissenschaftlern. Meyer und Tradowskys "Kind
von Europa" war zu der Zeit (1964) noch nicht erschienen, inzwischen
gibt es eine ganze Reihe Literatur mit fundierten Urteilen. Allerdings
ist ein Großteil des derzeit lieferbaren Schrifttums im Umkreis der Anthroposophen
herausgebracht worden, wie auch die Emmerickschriften hauptsächlich von
Augustinern befördert wurden, also eindeutig Tendenzliteratur. Bezeichnend,
und auch hierin parallel - siehe Schrifttum der Emmerickbiografen und
des Emmerickbundes -, ist die Äußerung Rudolf Steiners, "Wenn
Kaspar Hauser nicht gelebt hätte und gestorben wäre, wie er es tat, so
wäre der Kontakt zwischen der Erde und der geistigen Welt vollkommen unterbrochen"
. Und letzten Endes flössen die Gegnerschaft gegen Dr. Steiner und
gegen die Anthroposophie aus der gleichen trüben Quelle, wie der Schmutz,
der über Daumer ausgegossen würde und der Dolchstoß, der den Findling
ins Herz getroffen hätte. Na ja! Zurück zu den Versuchen, die in der Mesmerischen
Variante schon aus dem Vorkapitel bekannt sind.
Die erste Abteilung der Versuche betraf Hahnemanns neue Lehre, die Homöopathie.
Experimentiert wurde mit hochverdünnten Präparaten von Pflanzen Ipecacuanha
(Brechwurzel), Nux vomica (Brechnuß), Lycopodium (Bärlapp=Farnpfl.), Aconit
(Eisenhut, äußerst giftig) und Arnica (Wohlverleih). Dann auch mit tierischen
Stoffen: Sepia (Fischbein, Tintenfisch) und weiterhin mit Mineralien:
Schwefel und Silicea (gefällte trockene Metakieselsäure). In der Regel
mußte Hauser an den Stöpseln der Flaschen mit den hochverdünnten Stoffen
riechen und diejenigen Stöpsel, die mit den Stoffen in Berührung gekommen
sind, benennen. Die Wirkung der einzelnen Stoffe auf Hauser wurde genau
registriert. Die Reaktionen gingen von Wutausbrüchen (stinkt, stinkt!)
zu allen möglichen körperlichen Erscheinungen (Tränen, Augenbrennen, Haarausfall,
Übelkeit, Anlaufen der Adern in der Hand mit Hitze im Gesicht!! Fußschweiß
usw.)
Hauser wurde ein übersteigerter Geruchssinn zugeschrieben, ebenso die
Fähigkeit auf Mineralisches und Organisches zu reagieren. Er galt darüber
hinaus als sensibles mesmerisches Medium.
Ein ganz ähnliches Experiment wie die Erkennung der Benediktion bei der
Emmerick findet sich bei den Experimenten Daumers. "Von mir und
Herrn Professor Herrmann fühlte er die magnetische Einwirkung am stärksten,.....
Ich trat einst mit jenem in sein Zimmer, als er, mit dem Rücken gegen
die Tür gekehrt, bei einer Arbeit sehr aufmerksam beschäftigt war. Da
er in solchem Falle, in welchem er außer dem Gegenstande seiner Aufmerksamkeit
nichts hörte noch sah, auch die magnetische Wirkung schwächer fühlte,
so versuchte mein Freund, ob er es merke, wenn er in Entfernung den Finger
gegen ihn hinhalte. Er tat dies eine Zeitlang, ohne daß Hauser zu erkennen
gab, daß er etwas verspüre; Kaum aber hatte ich (schweigend, wie sich
versteht) den finger gegen ihn gerichtet, so schrak er zusammen und sah
sich ganz verstört nach den Ursachen dieser Einwirkung um." "Ich
ließ ihn in ziemlicher Entfernung vor mir hergehen und sagte ihm, ich
wolle gegen ihn mit der Hand herabfahren und er solle sagen, wann er etwas
empfinde. Ich fragte ihn zweimal, ob er nichts spüre, so daß es schien,
als mache ich hinter ihm die Bewegung, die ich unterließ, worauf er verneinend
antwortete. als ich aber wirklich, und zwar schnell mit der Hand herabfuhr,
sah man in diesem Augenblick die Äußerung des Frostschauders an ihm, worauf
er sich umdrehte und sagte, nun sei ich mit der Hand herabgefahren."
"Bei Fassung und Berührung eines, wenn auch für die Empfindung
anderer nicht kalten Metalls, Glases usw. fühlte er sogleich eine durch
den Arm hinaufgehende Erkältung, deren Schnelligkeit bei verschiedenen
Mineralien verschieden war. ... Ich legte in seiner Abwesenheit einen
goldenen Ring, einen Zirkel von Stahl und Messing und eine silberne Reißfeder
unter Papier, so daß man nicht sehen konnte, daß etwas darunter verborgen
war. Ich ließ ihn mit den Fingern über dieses Papier herfahren, so daß
das Papier nicht berührt wurde, und er unterschied durch die verschiedene
Stärke des Zuges, den jene Metalle gegen seine Finger ausübten sie alle."
Die Szene ist bekannt und heißt bei Wesener:
"Am unerklärlichsten war mir aber die Erscheinung, daß sie auch
allemal ein Kreuzzeichen machte, wenn ein Priester den Segen über sie
sprach. Mit diesem letzten Experiment dachte ich sicher hinter die Schliche
zu kommen, weshalb ich oft die Bettvorhänge dicht zuzog und einen Geistlichen
bat, ihr die Benediktion bloß in Gedanken von weitem, ja vor dem Hause
zu geben mit wahrer Intention; aber allemal sah ich ein und denselben
Erfolg. Um zu erproben, ob bloß der Reiz des kalten Weihwassers, womit
man sie besprengte, sie mechanisch zum Bezeichnen mit dem Kreuze veranlaßte,
ließ ich ihr bei krampfhaft verschlossenen Augen, ohne geringstes Geräusch
das Weihwasser vorhalten. Sie richtete sich auf, tunkte ein und segnete
sich. Als sie sich wieder eine Zeilang niedergelegt hatte, ließ ich ihr
ein Glas Wasser vorhalten. Sie richtete sich wieder auf, ergriff das Glas,
trank daraus und gab es wieder hin. Von allem wußte sie nachher nichts.".
Ähnliche Berichte gibt es in den Aufzeichnungen Weseners und den Akten
der kirchklichen Untersuchung Hümpfners in Fülle, nachzuschlagen im Register
unter "Hierognosie". Angemerkt werden muß, daß "die Regel
Ausnahmen hatte", wie Hümpfner zugesteht. Vermutlich gab es viele
Ausnahmen, nach der Regel, daß nur die Prognosen erinnert werden, die
auch tatsächlich eingetreten sind. Der Domdechant Rensing, der ein solches
Experiment selbst und bewußt vornahm, schrieb in seiner kritischen Revision:
"Was ich von dem Kreuzmachen bei heimlicher Erteilung des priesterlichen
Segens, von der Bewegung ihrer Hände, ein ihr dargebotenes Kruzifix anzunehmen,
und von der Erschütterung ihres Körpers bei Berührung derselben mit dem
gesalbten Finger eines Priesters gesagt habe, das habe ich, indem ihr
Beichtvater Limberg, den Versuch machte, selbst gesehen, hernach auch
durch eigenen Versuch erfahren; aber in diesen Fällen wurde, soviel ich
mich erinnere, vorher von dem, was man vorhatte oder versuchen wollte,
laut gesprochen. Zu einer anderen Zeit, stellte ich ganz versteckt und
ohne ein Wort davon zu sagen, solche Versuche an, aber ohne denselben
Erfolg."
Ein Kommentar erübrigt sich wohl, angesichts solcher Versuchsanordnung.
Festzuhalten ist, daß solche Versuche fast gleichartig an allen Somnambulen
und "sensiblen Medien" vorgenommen wurden.
|