Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


Kultureller Wandel: Romantik

Krise im ausgehenden 18.Jahrhundert

Die Entwicklung hin zum romantischen Weltbild, weg von der Aufklärung ist nicht sprunghaft vor sich gegangen. Die allmähliche Veränderung des Denken bewirkten die sozialen und wirtschaftlichen Krisen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ursächlich für die gesellschaftlichen Krisen war in erster Linie die Bevölkerungsvermehrung, mit der das wirtschaftliche Wachstum nicht schritthielt. Kennzeichnend für die vorrevolutionäre Zeit ist die allgemeine Verarmung und ein Anwachsen der Städte. Für das Bürgertum bedeutete das Wachstum der Städte, ohne daß sich zugleich deren wirtschaftliche Kraft erhöhte, eine enorme Konkurrenz untereinander, wobei die Gefahr von Verarmung und sozialer Deklassierung jederzeit gegeben war. Hemmend für jede "vernünftige" Lösung der Krise im Sinne der Aufklärung war die politische und gesellschaftliche Vorrangstellung des Adels, der seinen Lebensunterhalt vor allem aus den Renten seiner agrarischen Güter sicherte und am Verteilungskampf nur insofern beteiligt war, daß er seine privilegierte Stellung politisch verteidigen mußte. Die höfische Kultur hatte inzwischen jegliche Ausdruckskraft eingebüßt. Die bürgerliche Kunst rang zwar noch immer mit den höfischen Manierismen, hatte sich gegen 1800 aber endgültig durchgesetzt und diktierte den Zeitgeschmack.

Die Entmachtung des Adels in der Französischen Revolution und die damit verbundene Emanzipation des Bürgertums war für Deutschland aus vielerlei Gründen kein praktisches Modell. Die französischen Ereignisse haben sich insofern in Deutschland niedergeschlagen, daß die alleinige Herrschaft des Adels erschüttert war, der Spielraum des Bürgertums in wirtschaftlichen Angelegenheiten und insbeondere im Kulturellen erweitert war. An der politischen Vorherrschaft des Adels hatte sich aber grundsätzlich nichts geändert.

Die Unauflöslichkeit der bedrückenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland bewirkte, quasi als Ersatz einer tatsächlichen Lösung, die Flucht in Innerlichkeit und ins Übernatürliche. Ganz allgemein ist eine Wendung hin zu Metaphysik, Mystik und Religion zu verzeichnen, wenn auch die Spätaufklärung noch die offizielle Kultur in Preußen bestimmte.

Während die Revolution sich ganz auf die Aufklärung bezog, ihren künstlerischen Ausdruck im Heroischen und in der Klassik fand, entwickelte sich im deutschen Bürgertum, nach einer kurzen Phase der Anlehnung an die französischen Ideale, eine zunächst spezifisch deutsche Kunstrichtung, die Romantik.

Literarische Romantik

Die Romantik war ursprünglich eine literarische Bewegung, folgend, anknüpfend und sich abgrenzend von der vorangegangenen Sturm und Drang Episode. Ihr Name ist abgeleitet von der literarischen Gattung des Romans und meint das Unwahrscheinliche und Phantastische, das im 17. Jh. diese Literaturgattung prägte, ebenso war auch das Empfindsame, Gefühlvolle, ja Stürmische intendiert. Die Romantik war eine Geisteshaltung, die fast alle Gebiete der Künste und des Wissens ihrer Zeit beeinflußte. Das ganze 19. Jahrhundert war künstlerisch von der Romantik abhängig, die Romantik selbst aber war noch ein Produkt des 18. Jahrhunderts und hatte das Bewußtsein des Übergangscharakters und ihrer problematischen historischen Stellung nie verloren. Zeitlich bildete die Romantik einen Schwerpunkt etwa zwischen 1797 bis 1830, wobei einzelne Kunstdisziplinen, - etwa die Musik bis zum ersten Weltkrieg - länger romantisch geprägt bleiben.

Herausragende Autoren waren an allererster Stelle Schelling mit seiner Naturphilosophie und Friedrich Schlegel, um den sich später die Jenenser Gruppe des Athenaeum scharen wird. Die Gruppe um die Zeitschrift Athenaeum war die einzige, die philosophisch "sympathetisierend" nach außen wirkte und eine gewisse einheitliche Richtung zustande brachte. Die Romantik war kein philosophisch geschlossenes System, wie es die Aufklärung darstellte, sondern eine künstlerische Bewegung, die wie ein Flickenteppich aus verschiedensten Ansätzen zusammengeflickt war. Ihre Protagonisten arbeiteten mehr oder minder individuell, wenn auch das universitäre Milieu ihre gemeinsame Grundlage bildete.

Die verschiedenen Phasen der Romantik unterscheiden sich deutlich, wenn auch generalisierende Aussagen schwer zu treffen sind. Die Frühromantik charakterisiert sich durch literarische Gruppenbildung (Jena / Berlin: Gebr. Schlegel, Tieck, Wackenroder, Novalis - Hardenberg, Dorothea Veit, Jean Paul um die Zeitschrift "Athenäum") während in ihrer Mitte (1801 - 1815) eher "dezentrierte Zentrenbildung" anzufinden ist. Dezentrierte Zentrenbildung meint, daß von verschiedenen Zentren, meist Universitätsstädten wie Jena, Bamberg, Göttingen, Marburg oder Heidelberg aber auch Dresden und Wien produktive Impulse ausgingen, ohne daß eines dieser Zentren eine Priorität für sich beanspruchen konnte. In der literarischen Produktion treten romantische Autoren wie Kleist, Brentano, Arnim, Gebr. Grimm oder E.T.A. Hoffmann hervor. Die ausmäandernde Spätromantik geht ab 1815 in das restaurative "Biedermeier" über, einer Zeit der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Stagnation. Hier stehen deutlich restaurative, nationale und konfessionelle Ideen im Vordergrund.

Weitgehend ist die Romantik eine Generationserscheinung gewesen, denn ihre Vertreter gehörten der gleichen Generation an, derjenigen, die um die Jahrhundertwende zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt war. Vielleicht kann man die Romantik am besten als erste deutsche Jugend- und Protestbewegung verstehen. Ihr Protest richtete sich künstlerisch gegen die Erstarrung der Spätaufklärung, in der jegliche Lebendigkeit, also Subjektivität, Spontaneität verloren war. Vor allem war es aber die bürgerliche Jugend, die auf das Recht einer eigenen Kultur pochte.

Die literarische Jugend scherte sich wenig um spätaufklärerische Bildungsideale, die noch in Sturm- und Drang Dramen Schillers und Herders bestimmend waren. Wesentlich für die Romantik ist die Absage an die Aufklärung, in der geistige Systematik, Naturbeobachtung und enzyklopädisches Wissen Voraussetzung waren. Die Romantiker verstanden sich geradezu als Gegenprojekt zum Modell der "reinen Vernunft" und der antikisierenden Klassik. Als künstlerische Bewegung charakterisiert sich die Romantik durch das subjektive Moment, das Hervorheben des Individuellen und durch das Ersetzen des Vernunftprinzips durch die schöpferische Willkür. Im Mittelpunkt der romantischen Kunstauffassung steht die Empfindung und das Unbewußte, Natur wird zur Metapher des Unverdorbenen im Gegensatz zur "philisterhaften" Zivilisation. Selbstentdeckung, Selbstreflektion ist im Gewande unzähliger Gedichte, Erzählungen und Romane das Leitmotiv der Bewegung. Die Seele wird erstmalig zur weltlichen Instanz, wobei die Spätromantik jedoch zum religiösen Sinngehalt zurückkehrt. Die Entdeckung der Seele, genauer des Unbewußten, als Kern des Individuums kann als die epochale Leistung der Romantik angesehen werden. Seele als Lebendiges, als Prozess, als Agens des Seins setzt aber vor allem den Willen und die Fähigkeit zu erinnern voraus. So erscheint, quasi als Vorgriff, 1785 der erste psychologische Roman "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz. Diesem Vorbild werden dann zahlreiche weitere folgen, für die Romantiker besonders prägend "Wilhelm Meisters Wanderjahre" von Johann Wolfgang von Goethe. Moritz und Goethe waren nun freilich keine Romantiker, Goethe distanzierte sich von ihnen entschieden.

Die Romantik lebte aber geradezu von der Konkurrenz zu Spätaufklärung und Weimarer Klassik, in dem sie sich als Gegenmodell profilieren konnte. Der Idealisierung der klassischen griechischen Themen, die allgemein als erstarrt und festgelegt empfunden wurden, andererseits eine immense Bildung verlangten, setzten die Romantiker mehr zeitgemäße Regungen der Seele entgegen. Zeitgemäße, immer wieder aufgegriffene Motive waren das Unheimliche, Sehnsucht, Ganzheitlichkeit, sie finden sich in fast allen Werken der Romantiker.

Rückwärtsgewandtheit der Romantiker war Progamm. Erinnern war ihnen, das Eigentliche finden. So nimmt nicht wunder, daß die Romantiker mit der Wiederentdeckung der nationalen Vergangenheit Besonderes leisteten. Vergangenheitssuche war ihnen nicht Legitimation von Herrschaftsansprüchen, sondern Suche nach Wahrhaftigkeit und Identität. Sehnsüchtig wurde das katholische Mittelalter als eine Zeit ursprünglicher Harmonie verklärt, die wiedergefunden werden sollte. Das Mittelalter galt als ganzheitliches Ideal, weil in ihm eine universelle Kirche in einem universellen Staat vereinigt war, die Gesellschaft wohlgeordnet schien. Als Reaktion auf die Verwerfungen der Französischen Revolution und ihrer Auswirkungen auf Deutschland gewann die Idee eines Nationalstaates an Attraktivität. Im "Volk", besonders im Nationalvolk meinte man ebenfalls eine natürliche Harmonie zu finden, allerdings erst, nachdem Napoleon mit seiner Gewaltherrschaft das geeinte christliche Europa als romantische Idee zerschlagen hatte. Künstlerischen Ausdruck fanden diese Strömungen zunächst in der "Kunstvolksdichtung". Ein Zentrum dieses neuen Genres wurde Heidelberg, wo Brentanos und Arnims "Des Knaben Wunderhorn" erschien, aber auch Görres und die Gebrüder Grimm eifrig "Teutsche Volksbücher" und deutsche Volksmärchen sammelten.

In fast allen Erklärungsversuchen erscheint die Romantik als etwas Quecksilberhaftes, der Begriff ist kaum zu fassen, er widersetzt sich oder er zerfließt sogleich. Schon den Romantikern selbst schien das Phänomen schwer zu beschreiben, Schlegel meinte zur Erklärung der Romantik 125 Druckbogen zu brauchen. Selbst das Handbuch der Romantik ist mehrere hundert Seiten stark, ohne den Anspruch zu erheben, die Romantik vollständig zu erfassen und übt sich in Bescheidenheit, indem es sich als ein Projekt in Arbeit darstellt. Hierin stimmt es mit Carus überein, der darauf hinwies, daß dem Romantischen immer die Abgeschlossenheit fehlen wird, daß immer noch auf ein Weiteres, auf ein Fortschreiten gedeutet würde.

Mentalitätswandel und Wunderglaube

"Der Romantiker ist im wesentlichen durch seine Wundergläubigkeit gekennzeichnet. Alle anderen Charakterzüge lassen sich davon ableiten. Die Vorzüge, die er dem Gefühl der Intelligenz, der Inspiration vor der Arbeit, der Revolution vor der Reform gibt, sind nur verschiedene Ausdrucksformen dieses Glaubens. Eine derartige Geisteshaltung ist zweifellos nicht neu; man begegnet ihr zu allen Zeiten bei bestimmten Individuen und in bestimmten Bereichen; doch am Ende des 18. Jahrhunderts manifestiert sie sich in Preußen bei der gesamten Jugend und auf fast allen Gebieten"

Die übernatürliche Deutung des Lebens ist geradezu eine charakteristische Reaktion auf Krisenerscheinungen, die individuell oder kollektiv nicht bewältigt werden können; das betrifft die Zeit um 1800 genauso wie moderne Zeiten. Um 1800 war diese Auffassung allgemein. Ob es sich um Religionen, Hygiene und Gesundheit, Mode oder Sitten handelte, immer und überall bestand starkes Interesse an obskuren Lösungen.

Spätaufklärung und Scharlatanerie

Die Wundergläubigkeit des 18. Jahrhunderts nahm teils skurile Züge an, der Scharlatanerie war Tür und Tor geöffnet. Aufklärung und Wunderglauben existierten nebeneinander. Nur gelang es der übernatürlichen Deutung des Lebens nicht ohne weiteres, sich als vorherrschende Mentalität zu etablieren.

Exemplarisch für die Wundersüchtigkeit des späten 18. Jahrhunderts ist die Geschichte des Hochstaplers und Betrügers Joseph Balsamo, der als Graf Cagliostro bekannt wurde, welcher in ganz Europa, in seinen besten Zeiten in Paris, sein Unwesen trieb. Er produzierte ein Lebenselexier, magnetisierte, hypnotisierte und erleichterte einige Seigneurs, deren Bekanntschaft er auf seinen Reisen und in Pariser Kreisen machte. Cagliostro gründete eine Loge, in der dreißig Stufen der Hierarchie erklommen werden sollten. Von den Logenbrüdern und -schwestern sammelte er - wie sollte es anders sein? - Spenden ein. Die Affaire um eine Kette, die der Kardinal Rohan 1785 für die Königin Marie Antoinette bestellt haben soll, bei dieser aber nie eintraf, leitete den Abstieg des Betrügers ein. Cagliostro war in die Affaire verstrickt, er stand dem Kardinal sehr nahe. Ob nun er den Betrug angezettelt hat und ob er der Nutznießer des 600.000 Livres teuren Bubenstücks war, bleibt offen. Cagliostro, der Kardinal und die Vertraute der Königin und Rohans, Gräfin de la Motte, verschwanden fürs erste in der Bastille. Der Betrüger wurde 1791 durch die Inquisition zu lebenslänglicher Haft verurteilt und starb dort 1795.

Für den Zusammenhang mit Anna Katharina Emmerick ist wichtig, daß Cagliostro sich einer Methode bediente, die obwohl obskur, gerade Konjunktur hatte: dem Mesmerismus. Die Heilmethode des "animalischen Magnetismus" geriet wegen des häufigen Mißbrauchs, u. a. Cagliostros, in Mißkredit.

Um das Besondere des Betrügers Cagliostro gleich zu relativieren möchte ich kurz auf zahlreiche moderne Parallelen hinweisen, z. Zt. etwa den Hochstapler "Johannes von Buttlar", der allerdings mehr zu astronomischer Schwärmerei neigt. Für plumpe Betrügereien steht Uri Geller, der gerade einmal Löffel verbiegen konnte. Raffiniertere Methoden sind bei amerikanischen Wunderheilern zu finden, vor allem aus dem Milieu amerikanischer Erweckungsbewegungen, die mit suggestiven Methoden "heilen" und einen enormen finanziellen Gewinn erzielen. Die "Wunderheilungen" werden durch das Fernsehen der Öffentlichkeit präsentiert und unterstreichen den missionarischen Anspruch dieser Sekten. Auch sie heilen per Suggestion, wenn sie nicht sogar auf direkten Betrug zurückgreifen; teils verschmelzen die Methoden.

Zumindestens um 1880 - 90 war die Spätaufklärung noch in der Lage, sich des aufkommenden Wunderglaubens zu erwehren. Zu Cagliostro erschienen zahlreiche Veröffentlichungen, die den Betrüger bloßstellten. Zur Illustration hier ein Zitat aus einer Schrift zum Fall Cagliostro von der russischen Kaiserin Katharina persönlich:

"Obwohl unser Jahrhundert", heißt es da, "von allen Seiten das Kompliment erhält, das philosophische Jahrhundert zu heißen, und obwohl wir demselben das große Wort "Aufklärung" schon zum voraus zur Grabschrift bestellen: so werden dennoch überall eine Menge Köpfe von einem so anhaltenden Schwindel ergriffen, daß die Göttin der Weisheit sich genötigt sieht, die komische Muse um Arzenei für diese Kranken zu erbitten. Man mögte seinen eigenen Augen nicht trauen, so oft man lieset, was für wunderbare Dinge um und neben uns vorgehen. Man zitieret Geister, man sieht durch dicke Wände, hält Klubben mit Verstorbenen, distilliert Universaltinkturen und präserviert sich auf ewig gegen den Tod - man schmiedet Diamanten, kocht Gold, trägt den Stein der Weisen schon in der Tasche, zaubert ohne weitere Umstände den Mond herab und reißt die Welt aus ihrer Achse. Tierischer Magnetismus und Kabbala, Desorganisation und Mystik sind aus Worten zu Ideen geworden, die dem Scharfsinn zum Wetzstein dienen. Und die Depositäre dieser Wundergaben versammlen nicht etwa die leichtgläubige Menge um eine Jahrmarktsbude, nein, Mesmer, Cagliostro und Compagnie sehen sich in geschmückten vollgedrängten Assembleen; - die Pariser Welt hascht ihnen ein Geheimnis nach dem andern weg, und verschickt die Pariser Puppe so eiligst als möglich nach allen Residenzen zum angestaunten Modemodell u. f. Dazu schüttelt nun freilich wohl die wahre Philosophie den Kopf und legt nicht immer den Finger auf den Mund; aber ihre leise Stimme wird nicht überall vernommen; man hört eben auf zu megnetisieren, und fängt mit dem Herrn Marquis von Puysegur an, zu desorganisieren. Erst mußten die Akademisten zu Paris in Atem gesetzt werden, ehe Mesmers Heiligenschein verschwand; Kardinal Rohan mußte erst denVerhaftsbefehl lesen, ehe er und halb Paris mit ihm sich überzeugen konnte, daß ihn Cagliostro nicht wirklich mit Heinrich dem Vierten zu Abend hatte speisen und die Nacht über in Cleopatras Armen schlummern lassen; Bayern mußte erst Männer in ansehnlichen Posten auf die Wanderung senden, ehe es in den Köpfen Tag ward, Berlin mußte seinen Philosophen volle Arbeit geben, um nachbarlichen Philosophen Behutsamkeit anzuempfehlen. Der glückliche Norden bedurfte dieser mächten Anstalten nicht, ein lachendes Lustspiel reicht hin, die schwindelnden Köpfe zu heilen und die gesunden auf immer zu präservieren. Das bezauberte Schloß, gegen welches andrer Orten Justiz und Philosophie mit Katapulten und Ballisten anzieht, wird hier mit Knallpulver des Witzes gesprengt."

Ähnlich wie in dieser Affaire ging es u. a. auch bei der Dülmener Nonne um die grundsätzliche Auseinandersetzung von Wunderglaube und Aufklärung, nur daß im Dülmener Fall sich die Kräfte der Vernunft nicht mehr lautstark artikulierten. Für die aufgeklärte Position stand die preußische Regierung, die das Dülmener Wunder nicht ausschließlich wegen der politischen Wirkung untersucht wissen wollte, sondern auch das Primat der Vernunft gesichert sehen wollte. In Berlin hatte mit der französischen Besatzungszeit ein Mentalitätswandel stattgefunden. Obskure Ideen hatten den kritischen Geist der Spätaufklärung unterminiert. Trotzdem hatte sich mit den preußischen Reformen die von der Spätaufklärung geprägte Generation in den Institutionen des Staates etablieren können. Die Zeitschrift, die dieses Denken repräsentierte, war die "Berlinische Monatsschrift, deren Erscheinen jedoch bezeichnenderweise 1792 eingestellt wurde. In dieser Zeitschrift wurden genau die gleichen Themen behandelt wie später im "Museum des Wundervollen", jedoch mit gänzlich anderen Intentionen. Die Autoren waren scharf antikatholisch (so gab sich ein Autor das Pseudonym "Akatholikus") und rundherum religionskritisch. Die Monatsblätter befaßten sich fortwährend und aufklärerisch mit Aberglauben, Religion, Hexen und "paranormalen Phänomenen". Nach den Befreiungskriegen war von dieser offenen und kritischen Geisteshaltung kaum noch etwas zu spüren. Ein Grund für die Wundergläubigkeit mag darin liegen, daß das wissenschaftliche Interesse der Spätaufklärung eine Fülle von Ergebnissen zeitigte. Dies allein kann aber nicht als alleinige Ursache der Wundergläubigkeit angesehen werden, weil die Empfänglichkeit für übernatürliche Deutungen weit über die übliche Sensationslust hinausging. Der Ausbruch von Leichtgläubigkeit und Sentimentalität hätte wenige Jahrzehnte zuvor als lächerlich gegolten.

Ein Beispiel: das Glücksspiel

Ein Phänomen des sich ausbreitenden Wunderglaubens war der allgemeine Erfolg des Glückspiels, insbesondere der staatlichen Lotterien. Friedrich II. unterzeichnete am 8. Februar 1763 das Patent, das die Zahlenlotterie einführte. Mit den Einnahmen gedachte der König die Staatsfinanzen aufzubessern, die durch den Siebenjährigen Krieg arg in Mitleidenschaft gezogen waren. Doch daraus wurde vorerst nichts. 1765 ging die Finanzgesellschaft, die als Pächter der preußischen Lotterie auftrat, mangels Nachfrage in den Konkurs. Lief dieses Geschäft Mitte des 18. Jahrhunderts eher schleppend, nahmen Ende des Jahrhunderts alle Schichten an diversen Veranstaltungen teil. Ab 1770 war der Erfolg gesichert. 1776 bezog der Staat 40.000 Taler Pachtgewinn, im Jahre 1796 wuchsen die Staatseinnahmen aus der Pacht auf 467.000 Taler. Hinter dem ansteigenden Interesse am Glückspiel stand - wie heute - die Hoffnung, dem Leben durch ein Wunder eine jähe Wende zu geben. Die Lebenserfahrung zeigte, daß durch eigene Kraft das Leben nur geringfügig in bessere Bahnen zu bringen sei. Die geringe Mobilität innerhalb der Gesellschaft ließ einen Aufstieg aus eigenen Kräften kaum zu. Gleichwohl war die Gefahr aus der sozialen Bahn geworfen zu werden, ein Abstieg in die Armut, sehr real. Der Sieg der Mentalität des Wunders war durch die Arbeitslosigkeit bedingt, die alle Schichten bedrohte; die Arbeitslosigkeit, die aus dem Tagelöhner einen Vagabunden, aus dem Handwerker einen Bettler und aus dem Studierten einen Schriftsteller machte.

Die Schauergeschichte

Die zeitgenössische Presse spiegelt den Trend zum Übernatürlichen. Entsprechende Artikel erschienen im "Journal des Luxus und der Moden", Kleists Abendblätter griffen die Sensationsmeldungen des Tages auf, vornehmlich solche mit schauerlichem Hintergrund. Am originellsten sind die Zeitschriften, die sich direkt mit den "allerlei merkwürdigen Stücklein" befaßten, wie das "Museum des Wundervollen". Dieses Magazin befriedigte die Neugier der Leser mit Nachrichten von außergewöhnlichen Naturereignissen, besonderen menschlichen Fähigkeiten, von Abnormitäten in der Tier- und Pflanzenwelt, von Sitten und Gebräuchen exotischer Völker. Themen sind etwa "ein Mädchen mit männlichen Zeugungsgliedern an den Armen", "Ein Affe, den man für eine verstorbene Frau ansieht", "Ein Kriegsrath geht mit einer trächtigen Kuh schwanger", "Haberkörner schlagen in dem Magen eines Menschen Wurzel und gehen darin auf", "Ein Affe schließt richtig von Wirkung auf Ursache, und übt Kriminaljustiz", "Furchtbare Folgen, welche die Unterlassung des Branntweintrinkens nach sich zieht" usf.. Das Ungewöhnliche wurde häufig in Form von Reiseberichten kolportiert. Tatsächlich häuften sich Forschungsreisen, das Innere der fremden Kontinente war noch weitgehend unerforscht. Beispiele geben da die Seereisen von James Cook, die mit seinem Tod auf Hawaii endeten, die berühmte Reise der Bounty (die literarische Verarbeitung "Meuterei auf der Bounty" erschien erst später), auf der Kapitän Bligh Pflanzen nach Europa bringen sollte, Napoleons Expedition nach Ägypten, auf der ihn 167 Fachgelehrte begleiteten, Georg Forsters Weltreise und die späteren Südamerikaexpeditionen Alexander von Humboldts.

Auch bei diesem Phänomen gibt es einen Wandel von der Früh- zur Spätromantik. Der Gegenstand der Frühromantik ist noch das Wunder, das Rätselhafte, in dem das Bedrohliche eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielte. Erst in der Spätromantik findet sich die Schauergeschichte, die speziell das Beängstigende, Unbehagliche, Gruselige sucht. Diese Literaturgattung hält sich das ganze Jahrhundert in Form der Kurzgeschichte, berühmte spätere Autoren sind Poe und Beaudelaire. Die Wundergeschichten wurden zuerst als Kunstmärchen nachempfunden oder als Volksmärchen gezielt gesammelt. Die bekannteste Märchensammlung ist die der Brüder Grimm, aber auch andere Romantiker haben gesammelt, dazu gehörten u. a. Arnim / Brentano und Tieck. Gruselige Kunstmärchen oder Sagen waren ebenso beliebt wie die der Volkskultur. In Brentanos Märchen fließt das Blut und das Unheimliche ist ständig präsent. Der vollkommendste Autor von unheimlichen Geschichten dürfte wohl E. T. A. Hoffmann gewesen sein. E. T. A. Hoffmanns "Sandmann" hat dann auch Freud zu seinem Aufsatz "Das Unheimliche" angeregt.