Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


Justinus Kerner und die "Seherin von Prevorst"

Ein anderer sehr prominenter Fall von Somanmbulismus ist aus dem Württembergischen bekannt und verknüpft mit dem Dichter und Arzt Justinus Kerner (1786 - 1862). Kerner studierte 1804 - 1808 Medizin in Tübingen und unterhielt enge Beziehungen zu schwäbischen Dichterkreis um Uhland, Schwab, Varnhagen v. Ense u.a.. Während einer Bildungsreise 1809 machte er in Berlin die Bekanntschaft Chamissos und Fouqués, in Wien die Beethovens und den Schlegels. Zu Kerners Freundschaften zählten Möricke, Lenau, Alexander Graf von Württemberg und - David Friedrich Strauß! Seit 1810 praktizierte er in verschiedenen Gegenden Württembergs und wurde 1818 Oberamtsarzt in Weinsberg. Zu seinen Patienten gehörte ein Jahr lang der psychotische Hölderlin.

Kerners naturwissenschaftliche Leistung lag in der Erforschung des Botulismus, der Wurstvergiftung. Hierin leistete er außerordentliches für die Volksgesundheit. Es ging ihm um die Vermeidung von Vergiftungen, die sich die damalige Bevölkerung häufig durch verdorbene Wurst zuzog. Kerner wies sowohl die Toxik als auch den Zusammenhang mit den Lebensmittelvergiftungen experimentell, teils in Selbstversuchen, nach.

Kerner zählte durch seine umfangreiche publizistische Tätigkeit zu den Romantischen Ärzten, von denen eine starke Wirkung ausging.. Zu seinen bekanntesten medizinisch - philosophischen Schriften zählen die Mesmer - Biografie - die erste überhaupt - und die Veröffentlichungen über die Somnambulen, mit denen er experimentierte. Seine zahlreichen Veröffentlichungen zu dem Thema brachten ihm einen Bekanntheitsgrad, den er mit seiner lyrischen Dichtung nie erreicht hat. Kerner hatte sich in seiner Berufsausübung nach der Botulismuserforschung alsbald der Psychotherapie zugewandt. Er befaßte sich mit dem Mesmerismus, seine Einstellung radikalisierte sich jedoch im Laufe der Zeit hin zur medizinischen - mystischen Spekulation. Justinus Kerner entwickelte sich zu einem erfolgreichen und verständnisvollen Experten für Hysterie, Somnambulismus und hypnotische Phänomene, während er für Menschen, die an endogenen Psychosen erkrankt waren, nicht immer Verständnis aufbrachte. Sein Konzept war die Heilung durch Sympathie, worunter er alle psychisch wirksamen Verfahren verstand. Letztlich verdichtete sich seine Methode zu einer Mischung aus Mesmerismus und Exorzismus. Kerner venachlässigte dabei, ähnlich Reil, nicht die physikalische Therapie, also Aufenthalt im Freien, körperliche Betätigung, ästhetisches Erlebnis usw.. Geistig verwirrte und gestörte Menschen aus ganz Süddeutschland konsultierten ihn. Seinen Ruf als erfolgreicher Behandler psychischer Störungen aus dem Bereich der Grenzphänomene verdankte er seinen Schriften über zwei Somnambule als auch Friederike Hauffe, der "Seherin von Prevorst".

Die 16-jährige Christiane Kepplinger und die 17-jährige Caroline Stähle waren die ersten Patientinnen, über die Kerner 1824, also im Todesjahr der Emmerick, ein Buch veröffentlichte. Es handelte sich um Protokolle, die sich ähnlich wie in das Dülmener Schrifttum, mit dem Krankheitsverlauf, den Symptomen und den Begleiterscheinungen befassen. Kerner beschreibt Verhaltensweisen, wie wir sie auch von A. K. Emmerick kenne: kataleptische Anfälle und besonders bei Caroline Stähle phantastische Gesichte. Beide Patientinnen konnten geheilt werden, der Ruhm Kerners als "Magier von Weinsberg" entfaltete sich im Lande. Der große Erfolg wurde aber die Krankengeschichte von Friederike Hauffe "Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben und über das Hineinragen einer Geisterwelt in die unsere" (1829). Dieses Buch hatte zu Kerners Lebzeiten vier Auflagen, wurde ins Englische übersetzt und bis in die Gegenwart, meist bearbeitet, immer wieder veröffentlicht, ein Bestseller in Spiritistenkreisen. Friederike Hauffe stammte aus dem Dorf Prevorst bei Löwenstein und wurde 1801 als Tochter eines Revierförsters geboren. Sie wurde wegen Depressionen behandelt, geriet in Dämmerzustände, hatte Erscheinungen, begann ein "inneres Leben und sah Geister. Sie wurde mit Aderlässen traktiert, von zwei Schwangerschaften versprach man sich Besserung. Man fühlte sich hilflos, weil keine Kur ansprach. Schließlich wurde Kerner mit der Behandlung betraut. Friederike Hauffe kam im November 1826 in Weinsberg an, "ein Bild des Todes, völlig verzehrt, sich zu heben und zu legen unfähig".

Jeden Abend fiel die Patientin pünktlich um 7 Uhr in einen psychogenen Dämmerzustand ("magnetischer Schlaf"). Kerner begann mit einer magnetischen Behandlung, die einige Erfolge zeitigte. Er hatte nun aber Feuer gefangen und begann mit Experimenten. Diese Art Versuchsanordnung ist uns schon von Hauser bekannt: verschiedene Mineralien (Kalkspat, Granat, Smargd, Türkis, Eisen, Gold usw. usf.) sollten erkannt werden, die Wirkung auf die Patientin wurde akribisch notiert. "Der weiße Schwerspat vermochte hauptsächlich auch ihr die von Krämpfen gekrümmten Glieder wieder zu lösen, er wirkte in jeder Lage nur wohltätig und erwärmend auf sie....". Dann gab es natürlich die üblichen Pflanzenexperimente, die Wirkung von Mond, Sonne und Wurstgift! wurde nicht verabsäumt festzustellen. Kerner wollte die Aufhebung der Schwerkraft beobachtet haben (wie auch die Dülmer Visitatoren solches an A. K. Emmerick erlebt haben wollen: "Levitation"). Zum Inventar der Kranheitserscheinungen gehörten selbstverständlich Halluzinationen und das Sprechen in einer unverständlichen, angeblich orientalischen Sprache (auch hier eine Übereinstimmung mit Dülmen) und das Erkennen und Heilen von anderen Kranken. Es erstaunt den Leser nichts mehr! Das eigentlich interessante ist aber eine andere Reaktion, die in Hinblick auf die Dülmener Ereignisse eine Erklärung näherbringen. Aus Kerners Berichten wird erkenntlich, daß und wie die Patientin allmählich Kerners Theorie des Nervengeistes und dessen Wirkung übernahm. Sie entwickelte sogar eine eigene Apparatur, den "Nervenstimmer", der den Nervengeist (das, was bei Mesmer noch Fluidum hieß) günstig beeinflussen sollte. Ähnlich kann die Entwicklung auch bei Anna Katharina Emmerick abgelaufen sein, nämlich eine allmähliche Übernahme von irrationalen, metaphysischen Deutungen ihrer Krankheit, der sich die Kranke in ihren Symptomen anpaßte. Die Kranheitssymptome entfalteten sich nicht schlagartig, zunächst einmal sogar im Verborgenen, so konnten sie sich je nach Erwartung entwickeln.

Wie auch in Dülmen das Haus der Emmerick, wurde das Kernerhaus zu einem Pilgerort ersten Ranges. Es erschien die süddeutsche schwärmerische Romantik in Persona: Görres, Baader, F. J. W. Schelling, Schubert, Passavant, Schleiermacher (der natürlich aus Berlin), von Wangenheim und noch viele "Gläubige und Ungläubige, Philosophen, Doktoren, Professoren und Schriftgelehrte aller Art".

Friederike Hauffe verstarb 1829, vier Jahre nach dem Tod Anna Katharina Emmericks. Die Resonanz der Öffentlichkeit war ebenso stark wie im Ansbacher und Dülmener Fall. Was die Fälle voneinander unterscheidet ist, daß der weitverbreitete Wunder- und Aberglaube in den ersteren Fällen auf völlig weltliche Art erregt wurde. Kerners Geistergeschichten, sein Nervengeist, die Wunderheilungen der Hauffe sind rein weltlicher Natur, vielleicht etwas gruselig, aber nicht göttlich. Ebenso ist auch Kaspar Hauser kein christusgleicher Abgesandter des Himmels. Niemand erhob diesen Anspruch, d. h. eine religiöse Überhöhung entfiel. Das wiederum ist kein Wunder, denn ein Konflikt der Kirche mit dem Staat bzw. kirchlicher Würdenträger mit der weltlichen Obrigkeit gab es hier nicht. Die Deutung der Dülmener Erscheinungen als ein göttliches Zeichen des Protests wurde ausgelöst durch die Stigmata, ist aber im wesentlichen ein Produkt von Kirchenpolitik.