Psychische Auffälligkeiten
Über die körperliche Symptomatik hinaus wird in den Quellen ein auffälliges
Abweichen vom Normalverhalten berichtet. Diese Auffälligkeiten werden
jedoch nicht im Bereich des Irreseins oder Wahns angesiedelt, sondern
in einer eigentümlichen Akzeptanz dem religiösen Habitus der Emmerick
zugeordnet. Allein Wesener bemerkte, daß alle ihre Krankheiten einen eigenen
nervösen Anstrich gehabt hätten.
Wie auch bei der körperlichen Symptomatik läßt sich eine ansteigende Entwicklung
der Absonderlichkeiten verfolgen. Wird Anna Katharina Emmerick in Jugend
und Adoleszenz als fromm und angepaßt beschrieben, gibt es mit der Ablehnung
eines Heiratsantrages und dem Entschluß in ein Kloster einzutreten einen
Bruch. Zur Durchsetzung ihres Wunsches setzt sie alle Kraft ein, psychische
Abnormitäten werden aber nicht berichtet. Diese treten erst allmählich
im Kloster auf, teils als Begleitumstände der körperlichen Erkrankung,
teils autonom. Nach der Säkularisierung des Klosters steigern sich die
psychischen und körperlichen Symptome nochmals, dann aber in Richtung
motorische Störungen.
A. K. Emmerick lebte wohl schon in ihrer Kindheit in einer Phantasiewelt
und vollzog Rituale, die sie bis kurz vor ihrem Tod beibehielt. Dazu gehört
das Beten mit ausgestreckten Armen in Kniestellung, eine starre Haltung,
die sie über einen gewissen Zeitraum - bis zu einer halben Stunde - aushalten
konnte. Hatte diese Übung in der Jugend noch eher sportlichen Charakter
(sie betete so gemeinsam mit ihrem Bruder), kam später dieser Figur eine
wundersame, religiöse Ausnahmebedeutung zu. Sie verblüffte damit in schöner
Regelmäßigkeit verschiedene Besucher, die nach dieser Übung meist von
der Übernatürlichkeit ihrer Kräfte überzeugt waren.
An Kopfschmerzen kann sich die Emmerick seit ihrer Zeit bei Söntgen erinnern.
In wie weit diese eine Folge körperlicher Erkrankung sind oder eine psychische
Ursache haben, läßt sich verständlicherweise retrospektiv nicht feststellen.
Psychogene Kopfschmerzen, etwa migräneartige Beschwerden, lassen sich
jedoch nicht ohne weiteres ausschließen.
Die auffallenden Änderungen im Verhalten A. K. Emmericks begannen in der
Klosterzeit mit zwanghaftem Weinen. Dieser Drang überkam sie während der
Messe und auch außerhalb der Kirche. Sie sei oft deswegen ausgescholten
und der Eigenliebe bezichtigt worden. Sie befürchtete, einen heimlichen
Haß gegen die Mitschwestern zu hegen, was ihr zwar der Beichtvater ausredete,
den sie nichtsdestotrotz gehabt haben wird.
Die nächste Steigerung sind Ohnmachten und Ekstasen ab etwa 1808. Zunächst
traten die Ohnmachten spontan, später regelmäßig auf. Erst fanden diese
Ereignisse nach der Kommunion statt, dann auch bei anderen Gelegenheiten,
bis sie dann nach dem Auszug aus dem Kloster mehrmals täglich, aber mindestens
allabendlich auftraten. Die Ohnmachten verbanden sich nach und nach mit
ekstatischen Erlebnissen. Die Ausfälle konnten kataleptisch, schlaff,
konvulsisch mit oder ohne Wahrnehmung oder Erinnerung auftreten. In der
Regel reagierte die Ekstatische auf Aktionen oder Anweisungen von Klerikern.
Zwischen Weihnachten 1812 und Fastnacht 1813 begann die dauerhafte Bettlägerigkeit,
die Füße hätten sie nicht mehr tragen wollen. Ein eigentlicher äußerlicher
Anlaß ist nicht zu erkennen Schon im Kloster hatte sie längere Phasen
bis zu mehreren Monaten im Bett zugebracht, jedoch immer im Zusammenhang
mit körperlichen Erkrankungen. Mit der Astasie fallen leicht versetzt
mehrere Veränderungen zusammen. Da ist einerseits der Beginn der Hautblutungen
und auf der anderen die Reduktion der Nahrungsaufnahme. Vorübergehend
sich sich Taubheit ein.
Die Veränderungen erregen bald öffentliche Anteilnahme, Besucher und Neugierige
kommen an ihr Bett, weil die Leiden sofort in einen religiösen Kontext
gebracht werden. Die Ekstasen werden als mystische Ereignisse betrachtet.
A. K. Emmerick entwickelte nun eine außerordentliche Sensibilität für
ihre Zuhörer, die ihre Phantasien als göttliche Eingebungen deuteten.
Besonders wird diese Sensibilität für Versuche während der Ekstasen bemüht,
indem AKE geweihte Gesten (Bekreuzigung) und Gegenstände (Weihwasser,
Reliquien) erkennen soll (=Hierognosie). Brentano widmete den ekstatischen
Äußerungen besondere Aufmerksamkeit, zeichnete die "Gesichte"
auf und nahm sie als Grundlage für seine religiöse Literatur. Ihre Phantasien
bezogen sich meist auf ihren engeren Umkreis und biblische Topoi, politische
und gesellschaftliche Phantasien fehlen mit seltenen Ausnahmen (Napoleon)
gänzlich (sie irrt sich hierin auch WTb 194).
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