Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


 

Einleitung

Das Interesse an den Wirrungen eines "Blutwunders" wurde angeregt von Herrn Prof. Dr. Reif, TU Berlin. Gegenstand meiner Nachforschungen ist die merkwürdige Rolle, die ein „Wunder" in der angehenden Spätromantik spielte. Schauplatz dieses „Wunders" war Dülmen, ein eher vergessenes Krähwinkel im ehemaligen Hochstift Münster. Die Protagonistin Anna Katharina Emmerick war eine junge Frau, die ihr bäuerliches Milieu hinter sich gelassen hatte, ins Kloster eintrat und dort schwer erkrankte. Das Kloster wurde aufgehoben, die Krankheit nahm seltsame Formen an - die Deutung als Wunder nahm ihren Lauf.

Mitwirkend an dieser Deutung waren zunächst einmal diverse Ärzte, Beichtväter (ordentliche und außerordentliche), das Domkapitel in Münster, zwei Untersuchungskommissionen, die den Fall mit ihren Mitteln auch nicht eindeutig klären konnten. Als dann auch noch der Lyriker Clemens Brentano am Krankenbett erschien, war die Prominenz der Angelegenheit gesichert. Nebenrollen spielten verschiedene Vertreter der katholischen Bewegung in ganz Deutschland und Österreich, namentlich Sailer und Görres.

Überhaupt gleichen die Ereignisse einem Theaterstück, das außerordentlich besetzt ist: Brentano war ein weitbekannter Salonbesucher mit besten Verbindungen zur deutschen Geisteswelt. Der Münstersche Kreis um die Fürstin Gallitzin war ein Kristallisationspunkt der schwärmerischen Erweckungsbewegung katholischer und protestantischer Provenienz. Ihm standen sowohl Brentano als auch die katholische Geistlichkeit Münsters nahe. Aus dem Domkapitel in Münster ging der streitbare spätere Erzbischof von Köln hervor. An Anna Katharina Emmericks Krankenbett gab sich die katholisch - restaurativ gesinnte Romantikerelite ein Stelldichein.

Vor allem der Argwohn der Regierung Preußens, zu dessen katholischen Westprovinzen das Hochstift Münster seit 1802/13 gehörte, trug zur politischen Brisanz der Angelegenheit bei. Verschiedene Zeitschriften berichteten über den Fall und polarisierten die gebildete öffentliche Meinung in „Aufklärer" und „Wundergläubige". Nicht anders als heute: Wellen schlägt der Fall nochmals, weil seit 1973 die Beatifikation der Augustinerinnennonne wieder angestrebt wird, obwohl der Kanonisierungsprozeß schon 1928 mit der stärksten in solchen Fällen üblichen Bemerkung niedergelegt wurde, daß dem Casus wohl keine genügenden und eindeutigen Voraussetzungen zugrunde lägen, daß die Angelegenheit nie wieder aufgenommen werden solle.

Worin bestand nun das Wunder, das gläubigen Zeitgenossen zur rechten Zeit erschien, das zum politischen Kampf wie gerufen kam? Das Wunder bestand aus verschiedenen Komponenten: sogenannten Stigmata, also Wunden, die als Zeichen der Gnade Gottes gewertet werden, Ekstasen, Nahrungslosigkeit und volkstümlich religiös eingefärbten Visionen. Die exklaustrierte Nonne Anna Katharina Emmerick, der diese Wunder widerfuhren, war seit langem bettlägerig und von der Welt abgeschnitten. Trotzdem gelangte die Kunde ihrer Erscheinungen binnen kurzem erst in die Kleinstadt, darauf nach Münster und verbreitete sich von dort flugs in alle Welt, bis sie letztendlich in Berliner Salons den dichtenden Rekonvertiten Brentano erreichten.

Brentano reiste nach Dülmen und verbrachte, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, fünf Jahre dort, wobei er in der Regel zweimal täglich am Krankenbett der Anna Katharina Emmerick weilte. Er wurde ihr Propagandist, er nahm fast jede ihrer Äußerungen zu Papier, seine Aufzeichnungen umfassen 16.000 Blatt. Er führte in dieser Zeit ein umfassendes Tagebuch. Dieses beschäftigte sich vorwiegend mit den Visionen Anna Katharina Emmericks, die mehr und mehr zu seinem Lebensinhalt wurden. Das gesamte Material, das er im Laufe der Jahre gesammelt hatte, verarbeitete er zu drei Werken, die mit dem Erscheinen des ersten, 1832, zu Bestsellern avancierten und noch heute nachgedruckt werden . Die religiösen Werke Brentanos „nach den Visionen der Anna Katharina Emmerick" zählen nach wie vor zur meistverbreiteten katholischen Frömmigkeitsliteratur in Deutschland und Italien, besonders aber in den süddeutschen, niederrheinischen und westfälischen Kirchenprovinzen. Merkwürdigerweise ist Brentano nur dank dem Erfolg seiner Emmerickschriften nicht in Vergessenheit geraten, denn mit seinem literarischen Werk - mit Ausnahme „Des Knaben Wunderhorn" - ist er mehr oder minder gescheitert.

Eine der Fragen, die mich beschäftigten war die nach dem Wunder an sich, also war es den Quellen gemäß ein solches oder nicht und die Frage nach der Rezeption solcher Wunder. Konsens ist, daß wir uns als Historiker auf die Wechselwirkung eines Geschehens mit Kunst, Gesellschaft und Politik beschränken sollten. Trotzdem meine ich, daß die übernatürliche Deutung den Fall erst interessant macht und man sich mit ihr auseinandersetzen sollte. Ich möchte in meiner Arbeit nachweisen, daß kein Wunder vorlag. Mir liegt es an der inneren Dynamik des Geschehens, also der Wirkung auf die direkt beteiligten Personen und die Kulturgebundenheit der Phänomene, was möglicherweise das Wunder aus sich selbst heraus erklärt und das Wundersame wieder mit rationalem Denken in Einklang bringen könnte. Als Historiker interessieren mich historische Personen und deren Beziehungen untereinander gerade dann, wenn sie im Schnittpunkt verschiedener gesellschaftlicher Bestrebungen stehen, wie es die Beteiligten in diesem Fall tun.

Tatsächlich ist es im Fall Anna Katharina Emmerick/Brentano so, daß alle möglichen Aspekte in der Fachliteratur erörtert werden: kunstgeschichtliche, literarische, gesellschaftliche, kirchliche usw. Gemieden wird merkwürdigerweise die psychologische Ebene ebenso wie die medizinische, die sich nach meinem Empfinden geradezu aufdrängen. Nun ist es so, daß psychologische Betrachtungen in der deutschen Geschichtsschreibung eher unbeliebt sind und mitunter wie der „Gottseibeiuns" gescheut werden. Insbesondere ist die Psychoanalyse, obwohl selbst Gegenstand der historischen Forschung, eine ungeliebte Theorie, wenn es um die Beurteilung historischer Zusammenhänge geht. In der anglophonen Welt ist die Geschichtswissenschaft diesem Thema gegenüber offener, weshalb auf einige anglophone Psychologiehistoriker - insbesondere Ellenberger und Shorter -häufiger Bezug genommen wird. Übrigens liegen die ersten psychoanalytischen Veröffentlichungen Freuds exakt 100 Jahre zurück. 1894 beginnt Freuds Psychoanalyse mit der Darstellung der „Abwehr-Neuro-psychosen", in der erstmals die Begriffe „Abwehr" und „Konversion" als psychologische Termini verwandt werden. 1895 erscheinen die „Studien über Hysterie", eine Gemeinschaftsarbeit mit dem Arzt Josef Breuer. Hierin werden die Krankengeschichten einiger an Hysterie erkrankter junger Frauen dargestellt, deren Symptomatik schlagartig die Erinnerung an Anna Katharina Emmerick wachrufen.

Der Fall A. K. Emmerick steht nicht isoliert in seiner Zeit, Parallelfälle stechen ins Auge. Erinnert sei an Caspar Hauser, die „Seherin von Prevorst" und einige andere Fälle. Für sich allein genommen sind die Individuen als Kranke bedauernswert. Ihre Bedeutung gewinnen sie allerdings erst dadurch, daß sich gesellschaftliche, politische und kulturelle Konflikte an ihnen entzünden und die verschiedenen Kräfte, die in diesem Feld aktiv sind, sich ihrer bedienen. Obwohl nicht gleich offensichtlich, können diese Begebenheiten doch etwas Zeittypisches erfassen. Es ist nicht unbedingt die Wundergläubigkeit an sich, sondern die Art, Ereignisse aufzunehmen und zu verarbeiten. Dieser Modus hat etwas gemein mit dem Vorgang, der in der Psychologie als hysterischer Modus bezeichnet wird.

Der Mesmerismus bspw. ist eine typische Erscheinung seiner Zeit in der Spannung von Empirie und Naturphilosophie. Mit dem Mesmerismus kamen die Somnambulen. Die Somnambulen waren gesellschaftlich integrierte Hysteriker und Hysterikerinnen. Sie leiteten das Zeitalter der Hysterie des 19. Jahrhunderts ein. Anna Katharina Emmerick war eine solche Hysterikerin. Die Betrachtung ihres Schicksals kann stellvertretend Auskunft über die Rezeption, Deutung und innere Dynamik jener Phänomene geben. Was A. K. Emmerick aus der Menge der Hysterikerinnen und Somnambulen heraushebt, ist die Tatsache, daß sie als Projektionsfläche verschiedenster Erwartungen und Interessen diente.

Insgesamt steht man bei diesem Thema in der Gefahr, Einzelaspekte wuchern zu lassen. Ebenso wie die Intentionen der Literatur zu diesem Fall, ist man immer geneigt diesen Einzelaspekten übergewichtig gerecht zu werden. Es sind die der Germanistik (Brentano), Kunstgeschichte (Romantik), Theologie (Stigmata), Religionsgeschichte (Frömmigkeitsbewegung, katholische „Erneuerung"), Staatsgeschichte (Integration der preußischen Westprovinzen, Union der protestantischen Kirche), Sozial- und Alltagsgeschichte (Klosterleben, Abergläubigkeit), feministische Geschichtsforschung (Hexen, Hysterie), Volkskunde (Volksfrömmigkeit, historische Erzählforschung), ebenso wie Psychologie (historische Konzepte zum Unbewußten) und Medizingeschichte (historische Krankheit, historische Theorien zur Krankheitsentstehung). Der bloße biografische Ansatz kann nicht befriedigend greifen, da die Lebensgeschichte der Emmerick für sich allein wenig Auskunft gibt für einen größeren Zusammenhang in ihrer Zeit, obwohl einige wichtige Aspekte gestreift werden, vor allem aus der weiblichen Perspektive: bäuerliches Leben, Erwerbstätigkeit, gesellschaftliche vertikale Durchlässigkeit und die individuellen Folgen der Säkularisation.

Ich möchte, trotz der Widerständigkeit der Quellen, besonders den medizinisch / psychologischen Aspekten den Vorzug geben, ohne jedoch die historische Dimension aus den Augen zu verlieren. Eine breite Schilderung des politisch/kulturellen Hintergrundes ist notwendig, weil die ausgehende Aufklärung und die Auflösung des Reiches als eine Sattelzeit anzusehen ist, in der völlig neue Entwicklungen einsetzen. An Anna Katharina Emmerick lassen sich wie in einem Fokus diese Entwicklungen darstellen. Der Wechsel von der Spätaufklärung über Früh- und Hochromantik zur Spätromantik muß erklärt werden. Ich versuche diesen Prozeß an den Phänomenen der Wundergläubigkeit und des Unheimlichen nachzuvollziehen.

Clemens Brentano war der Propagandist der Stigmatisierten. An ihm läßt sich der Verlauf der Romantik und die Verquickung der sie tragenden Personen nachvollziehen. Gerade weil seine persönliche Lebensgeschichte so verworren war, er sich aber auch gleichzeitig im Zentrum der Romantik befand, muß ihm besonderes Aufmerksamkeit gewidmet werden. Insbesondere die Wendung der Romantik hin zur Religion läßt sich an seiner Entwicklung gut beobachten. Sie gipfelt in der Verbindung seiner Lebensgeschichte mit der Emmericks.

 

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