Anna Katharina Emmerick 1774-1824

von Peter Groth

Übersicht - Einleitung - Preußen und Westfalen - Romantik - Freud und das Unheimliche (Schauergeschichten) - Romantische Medizin/Mesmerismus - Parallelfälle (Hauser/Prevorst) - Brentano - Brentano und Luise Hensel - Leben der A. K. Emmerick - Krankengeschichte - Wunden - medizinische Deutungsversuche - Psychische Auffälligkeiten - Hysterie - psychologische Deutungsversuche - Zusammenfassung


Psychopathologie

Allgemeines über Psychosomatik

Viele der körperlichen Symptome von Anna Katharina Emmerick haben eine enge Beziehung zu der Gruppe von Krankheiten, die als psychosomatische Erkrankungen bezeichnet werden. Der Begriff Psychosomatik geht auf den Mediziner J. Ch. August Heinroth zurück, der die Auffassung vertrat, daß die meisten körperlichen Erkrankungen psychisch bedingt seien. Psychosomatik ist jedoch ein Oberbegriff, der voraussetzt, daß tatsächliche Läsionen (Schädigungen) körperlicher Organe vorliegen.

Neuere Denkmodelle der Psychosomatik gehen auf Freuds "Studien über Hysterie" zurück ("Wenn wir der Kürze halber die Bezeichnung 'Konversion' für die Umsetzung psychischer Erregung in körperliche Dauersymptome wählen...."). In seiner fast gleichzeitig erschienenen Studie "Die Abwehr - Neuropsychosen" stellt er fest: "Bei der Hysterie erfolgt die Unschädlichmachung der unverträglichen Vorstellung dadurch, daß deren Erregungssumme ins Körperliche umgesetzt wird, wofür ich den Namen 'Konversion' vorschlagen möchte". Otto Fenichel, ein Mitglied der psychoanalytischen Gesellschaft um Freud teilt seine Standard - Übersicht der Symptome in Gruppen ein:

1. Die eigentlichen Konversionssymptome, die als im Zentrum des hysterischen Syndroms stehend angenommen werden, (diese müssen aber keine Organläsionen aufweisen, hier kann auch ein "Als ob" angetroffen werden, ohne daß eine bewußte Simulation vorliegt);

2. "oganneurotische" Symptome, die im wesentlichen durch funktionelle Störungen verursacht werden, wobei die entstehenden somatischen Krankheitszeichen keinen eigenen psychischen Ausdruckscharakter besitzen, nicht Übersetzungen in die Körpersprache sind und keine spezifischen Phantasien oder Triebimpulse ausdrücken.

3. Prägenitale Konversionsneurosen wie Stottern, Tics und Asthma.

Inzwischen sind eine Reihe neuerer Denkansätze entwickelt worden, von denen die meisten nach wie vor auf psychodynamischen Annahmen fußen, also eine Weiterentwicklung des Freudschen Ansatzes darstellen (Alexander, 1951; Grace / Graham 1952; Schmale / Engel 1977; Nemiah / Sifneos 1970). Darüber hinaus gibt es das Streß - Modell (Selye 1953; Deneke / Dahme 1977) und lerntheoretische Modelle (Dekker / Pelser / Groen 1957; Turnbull 1962).

Zu den klassischen psychosomatischen Krankheiten werden einige Infektionskrankheiten gezählt, in diesem Zusammenhang besonders die Tuberkulose. In Bezug auf die Emmerick sind es außerdem psychosomatische Erkrankungen des oberen und unteren Verdauungstraktes (besonders Magen - und Zwölffingerdarmgeschwür), der Haut, des Eßverhaltens (Anorexia nervosa = psychogene Magersucht) und motorische Störungen.

In der Krankengeschichte Anna Katharina Emmericks finden sich alle Merkmale einer schweren Hysterie, in einigen Phänomenen ist sie geradezu prototypisch für die Hysterien des 19. Jahrhunderts.

Hysterie

Die Hysterie scheint die älteste aller beobachteten psychischen Störungen zu sein. Im 19. Jahrhundert hatte dieses Leiden Hochkonjunktur, es wird gemeinhin als das Zeitalter der Hysterie bezeichnet. Es gibt unzählige Indikatoren, um diese Aussage zu verifizieren, nicht zufällig führte Freuds Weg zur Psychoanalyse über die Hysterie und den berühmten Spezialisten für diese Störung, Jean Marie Charcot (1825 - 1893). Der Begriff "Hysterie" wurde von Freud durch den der "Konversionsneurose" ersetzt, weil er erkannte, daß psychisches Leiden in körperliches konvertiert. Der Begriff wurde auch deshalb ersetzt, weil ihm traditionell etwas pejoratives anhaftete und anhaftet. Das Abwertende hängt sicherlich zusammen mit der vorgeblichen geschlechterspezifischen Bindung, mit der Abwertung der Frau, obwohl schon Sydenham (s.o. Tuberculose) und Charcot darauf hinwiesen, daß Hysterie nicht ausschließlich eine Frauenkrankheit sei. Seit neuestem wird der Begriff "Hysterie" auch in der medizinisch - psychologischen Terminologie wieder vermehrt eingesetzt, im Umgangssprachlichen war er ohnehin durchgehend gebräuchlich. Auch der Begriff "Konversionsneurose" ist inzwischen fragwürdig, wenn nicht sogar hinfällig, weil in jeder Neurose Konversionsphänomene auftreten.

Die klassischen Merkmale der Hysterie sind

  • psychische Funktionsstörungen (dissoziative Erscheinungen: Halluzinationen, Dämmerzustände, Amnesien),
  • körperliche Funktionsstörungen (Konversionssymptome: Muskelschwächen, Lähmungen, Anästhesien, Erbrechen, Zittern, Asthasien) und drittens
  • hysterische Verhaltensmuster (unbewußte Inszenierung: Dramatisierung, exaltiertes Verhalten) und Charakterzüge (Übererregbarkeit, Egozentrismus mit einem unersättlichen Verlangen nach Anerkennung und Liebe, dem das häufig verführerische Verhalten gilt, ausgeprägte Suggestibilität, verlangende Abhängigkeit).

Der hysterische Mensch sucht bewußt oder unbewußt sein Publikum. Die Ausdrucksgebung mit den Mitteln der hysterischen Symptombildung oder der hysterischen Verhaltensweisen hat einen eindeutig kommunikativen Charakter. Sie will in ganz bestimmter Weise beeindrucken, beeinflussen, überzeugen. Das Gros der hysterischen Symptome und Charakterbildungen kommt nur bei Anwesenheit von Zuschauern zur Wirkung. Hysterische Symptombilder lassen sich mit Inszenierungen vergleichen, die nur dann einen Sinn haben, wenn ein Publikum da ist, welches Inhalt, Dekoration, Dramatik der gespielten Handlung sowie die bevorzugten Schwerpunkte zu schätzen weiß. Gerade dieses Charakteristikum hysterischer Symptombildung hat dazu geführt, daß besonders im vorwissenschaftlichen Feld die Diagnose "Hysterie" vielfach als Abwertung oder sogar als Schimpfwort für Simulanten, Phantasten, geltungssüchtige und schauspielende Blender benutzt wird.

Kennzeichnend für die Hysterie ist ihre Anpassungsfähigkeit an die kulturellen Gegebenheiten und iatrogene (vom Arzt induzierte) Erklärungsmuster. Die Hysterie schöpft aus einem Symptompool (wie alle psychogenen Erkrankungen übrigens auch), aus denen diejenigen Symptome herausgefischt werden, die geeignet sind, ärztliche oder gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Ganz auffällig ist dies in der Anhäufung von Krankheitsbildern in bestimmten Zeitabschnitten, die jeweils mit den zeitgemäßen Erklärungsmustern korrespondieren.

Im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit finden sich die Besessenheitssymptome. Besessenheit ist eine Erklärung von Hysterie, die aus dem Teufelsglauben hervorgeht. Der Mallaeus maleficarum, der Hexenhammer, im Jahre 1494 im Auftrag des Papstes Innozenz VIII verfaßt, enthält eine aufschlußreiche Fülle von Schilderungen, die auch in einem psychiatrischen Lehrbuch für Hysterie stehen könnten. Die Besessenheitsidee ist für die Patienten so schlecht nicht, spendet sie doch eine Entlastung für das Über - Ich: "Nicht ich, sondern der Teufel ist für meine sexuellen Gefühle, Visionen, Taten verantwortlich". Solcherart die Schuld von sich wendenden Patienten konnte natürlich mit einem Exorzismus à la Gassner gut geholfen werden.

In altägyptischen Papirii, von Plato und Hippokrates sind sehr frühe Beschreibungen der Hysterie überliefert (Hysterà, griech. = Uterus). Für sie war es die wandernde Gebärmutter, die das Leiden verursachte, eine Theorie, die in Variationen über die Jahrtausende Bestand haben sollte. Sydenham (1624 - 1689) war der erste Arzt, der sich von solchen überkommenen Vorstellungen abwandte. Sydenham widersprach der lange gültigen Auffassung, die Hysterie hinge mit der Unruhe der Gebärmutter zusammen und stellte auch die Besessenheit in Frage. Ihm wird die Erkenntnis zugeschrieben, daß Hysterie nicht nur eine Erkrankung der Frauen, sondern auch der Männer ist. Sydenhams Begriff der Hysterie umfaßte aber auch die Hypochondrien und depressiven Syndrome. Er stand vor dem Dilemma, vor dem alle vor- und frühmodernen Ärzte standen, die sich mit Hysterie befaßten: "Die Erkenntnis und Heilart dieser Krankheit ist vor allem übrigen schwer (...) Meine Tage sind zu kurz, wenn ich alle Symptome erzählen wollte; sie nimmt unterschiedliche und widersprüchliche Gestalten an. Sie hält auch keinen ordentlichen Typus ein." Im 18. und 19. Jahrhundert war das dann entsprechend dem Zeitgeist die irritierten Nerven, die Spinalirritation. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gewannen dann die verschiedenen Organreflextheorien die Oberhand, insbesondere die Reflexe des Uterus; mit Janet und Freud wurden es die Neurosen, also etwa die Kriegzitterer des ersten Weltkrieges. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Kriegssymptom Zittern von Magenbeschwerden abgelöst. Heute sprechen die Ärzte von Kreislaufbeschwerden, Kopfschmerzen, Mattigkeit als typische Symptome. In den letzten Jahren scheint mit den Allergien ein neues (iatrogenes) Angebot psychogener Erkrankungen hinzugekommen zu sein - Neurodermitis. Eine andere moderne Variante der Hysterie ist die Bulimie, eine Verwandte der Anorexia nervosa.

Moderne Theorien gehen davon aus, daß die hysterische Reaktion eine Form der psychischen Konfliktlösung ist, die dem Betroffenen einen Ausweg aus einer psychischen Krise läßt. "Wir wissen, daß bestimmte Neurosen feste Beziehungen zu bestimmten Abwehrtechniken haben, wie etwa die Hysterie zur Verdrängung, die Zwangsneurose zur Isolierung und zum Ungeschehen machen. (z. B. Waschzwang) (....) Für Hysterie und Zwangsneurose ist uns diese Parallele, besonders zwischen Symptombildung und Widerstandsform am ehesten geläufig. Der hysterische Patient gebraucht bei der Symptombildung im Kampf mit dem Trieb vor allem die Verdrängung: er entzieht den Vorstellungen, die den sexuellen Anspruch repräsentieren wollen, das Bewußtsein. Dem entspricht die Form seines Widerstandes gegen die freie Assoziation. Einfälle, die die Abwehr des Ichs herausfordern werden einfach beseitigt. Der Patient empfindet nur eine Leere im Bewußtsein." Die Art der Konfliktlösung ist einerseits angepaßt, indem sie allgemein akzeptierte Erklärungsmuster bedient, sie verdeckt die Krise. Andererseits ist sie krankhaft, neurotisch, weil eine Ersatzlösung und somit die Wahl der Mittel nicht angepaßt sind. Die vorhandene echte Not wird mit unechten Mitteln dargestellt, daher auch das Mißtrauen gegen das Hysterische. Die hysterische Abwehrform kommt aber nicht nur als manifeste Krankheit daher. Israel gibt zu bedenken, daß es vermutlich eine Menge geglückter Hysterien gibt, erst die mißglückte Hysterie würde als Krankheit mit dem Arzt Bekanntschaft machen. Wenn aber eine gescheiterte Hysterie sich als Krankheit äußert, muß ihr um jeden Preis der Platz einer wirklichen Krankheit wie andere auch zugewiesen werden. Das Unregelmäßige, das "keinen ordentlichen Typus einhaltende" der Krankheit rührt daher, daß die Patienten die Symptome entweder durch Identifikation oder Nachahmung übernehmen. Die Symptomgestaltung ist häufig von der ärztlichen Deutung, der kulturell zugestandenen Symptomatik oder schlicht von der Vorstellung des Patienten abhängig. Gerade weil die Vorstellung der Patienten nicht den medizinischen Erfahrungen folgt, hält sie eben auch keinen Typus ein.

Stavros Mentzos geht hingegen so weit, Hysterie als nosologische Einheit (Nosologie = Krankheitslehre) aufzugeben und statt dessen von einem hysterischen Verarbeitungsmodus zu sprechen.

Das Spezifische und Gemeinsame in allen hysterischen Erscheinungen ist nach Mentzos folgendes "Der Betreffende versetzt sich innerlich (dem Erleben nach) und äußerlich (dem Erscheinungsbild nach) in einen Zustand, der ihn sich selbst quasi anders erleben und in den Augen der umgebenden Personen anders als er ist erscheinen läßt." Mentzos steht mit seiner Meinung nicht allein. Farber (1961) betrachtet die Aufrechterhaltung einer Illusion über sich und andere als das Wesentliche der Hysterie. Angyal (1965) meint, daß der hysterische Mensch eine Ersatzpersönlichkeit auslebe, weil er sein eigentliches Selbst verbannt habe. Die hysterische "Lösung" sei also der Versuch, das innere Gefühl der Leere durch die Flucht in eine Pseudopersönlichkeit zu vermeiden. Eidelberg (1938) sprach von einer Pseudoidentifikation beim Hysteriker. Schließlich vermutet auch Wolowitz (1971), daß der Hysteriker ein Pseudoselbst aufbaue, um damit gewisse emotionale Reaktionen der Umgebung zu erhalten - im Grunde bleibe aber das Gefühl der Leere bestehen. Die Leere ist nach Mentzos das Resultat eines langanhaltenden Verdrängungsprozesses des zugrundeliegenden Konflikts. Der Unterschied zu anderen Neurosen besteht also darin, daß andere neurotischen Leistungen eine tatsächliche Bedeutung haben, während die Hysterie davon überzeugen will, daß eine Bedeutung vorliege. Zwanghaftes Händewaschen soll tatsächlich eine Wiedergutmachung, eine Säuberung bewirken; der Melancholiker inszeniert keine pseudoregressive Szene, sondern er regrediert tatsächlich.

Noch einmal ist wiederholend festzustellen: den hysterisch Kranken geht es darum ihr "Über - Ich" zufriedenzustellen, es geht um die Selbstrepräsentanz; diese innere Instanz gilt es zu überzeugen, unabhängig davon ob die Umwelt Beifall zollt. Denn nicht diese ist Gegenstand der Anstrengungen. Die soziale Umwelt soll nur bestätigen, was dem "Über -Ich" dargeboten wird. Das "Ich" will sich freilich auch nicht lächerlich machen, daher der Symptomwandel. Kriegszitterer des Ersten Weltkriegs waren ab einem bestimmten Zeitpunkt nur Hysteriker und deshalb nicht ernsthaft krank. Der Hysteriker fürchtet die Unglaubwürdigkeit, fürchtet bloßgestellt zu werden. Deshalb war die Diagnose Kriegszitterer im Zweiten Weltkrieg auch nicht mehr goutiert. Man wurde magenkrank.

Der hysterische Mensch erzielt aus seiner Neurose erheblichen Nutzen, der in der Psychoanalyse in primären und sekundären Krankheitsgewinn geschieden wird. Der Primärgewinn ist ein vierfacher; die hysterische Person kann ihren Gefühlen ohne Schuld- und Schamgefühlen Ausdruck geben, da ihr der Zusammenhang unbewußt bleibt. Triebbefriedigung kann ohne Strafe und Reue herbeigeführt werden (Aggression, Sexualität usw). Der narzißtische Gewinn führt zur Verbesserung des Selbstwertgefühls (die Person kann sich als etwas besonderes erleben). Die Innere Leere wird ausgefüllt. Emotionalisierung, Exaltiertheit, sich hineinsteigern hilft, eine gefühlsmäßige innere Leere auszufüllen, d. h. nicht gezwungen zu sein, den ursprünglichen intrapsychischen Konflikt real zu lösen.

Der Sekundäre Krankheitsgewinn besteht in Zuwendung und Pflege. Das Selbsterleben des Kranken wird durch seine soziale Umwelt bestätigt, die gelungene Inszenierung sichert die Pseudolösung des intrapsychischen Konflikts.

Die Heilung einer neurotischen Krankheit ist davon abhängig, in wie weit der Patient auf den Krankheitsgewinn verzichten kann, bzw. in wie weit er seine Triebansprüche sublimiert oder tatsächlich ausleben kann. Die krankhafte, neurotische Variante kann besonders gut in den Hysterien des 19. Jahrhunderts beobachtet werden.

Motorische Hysterie im 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert standen die motorischen Störungen im Symptompool der hysterischen Krankheitswahl vornan. Weder im achtzehnten noch im zwanstigsten Jahrhundert war Lähmung als Bewältigungsstrategie für Verlust, Trauer und Traumatisierung sonderlich häufig zu beobachten. Kulturgeschichtlich war sie die Art und Weise des neunzehnten Jahrhunderts, auf extreme Gefühlslagen zu reagieren. Bedenkt man, daß die Opfer hysterischer Lähmungen hauptsächlich junge Frauen waren, kommt man um die Schlußfolgerung nicht herum, daß in das Geschehen auch umfassendere, die weiblichen Lebensbedingungen im allgemeinen berührende kulturelle und soziale Wandlungsprozesse mit hineinspielten. Wenn die Kultur des neunzehnten Jahrhunderts ein bestimmtes Bild von der 'idealen Frau' zur Norm erhob, warum hätte sie dann nicht auch die körperlichen Symptome dekretieren sollen, die Renitenzlerinnen als Strafe für die Nichterfüllung jener Norm drohten? Hier liegt die Schnittstelle zwischen den Bedingungen des Krankseins und der 'Kultur'. Ur-Matrix aller Symptomgestaltung sind die kulturellen Normen für 'Legitimität' und 'Illegitimität' von Symptomen. Die Funktion des Arztes in der iatrogenen Symptomgestaltung ist lediglich die eines Agenten des kulturellen Milieus.

Die Einschränkung des Verhaltens und der Bewegungsfreiheit der Frauen fand seinen Ausdruck und sein Äquivalent in der Somatisierung als Lähmung.

Beispiele wurden im Zusammenhang mit Friederike Hauffe schon genannt. Heilungserfolge solcher Krankheiten sind insbesondere im ausgehenden 18. Jahrhundert zu verzeichnen, nämlich diejenigen Mesmers und Puiségurs, die so erfolgreich mit Hilfe des Mesmerismus von den Leiden hysterischer Pseudoepilepsien befreiten. Es handelte sich meist um spontane Heilungen, die somatogene Erkrankungen mit tatsächlichen Organläsionen ausschließen dürften. Keine organisch kranke Person beispielsweise mit Temporallappenepilepsie wird durch magnetisches Fluidum zu heilen sein, Patienten mit hysterischer Katalepsie jedoch sehr wohl.

Motorische Störungen zeigen sich in unterschiedlichen Ausformungen: Lähmungen mit teilweisem oder völligem Funktionsausfall also Paresen und Paralysen (Lähmungen schlaffer Art, Teile oder den ganzen Körper betreffend) auch als -plegie, also Hemiplegie oder Paraplegie (Symmetrische Lähmungen längs und quer), Astasie - Abasie(Unfähigkeit zu stehen oder zu gehen) und steife Lähmungen mit Kontraktur der Muskeln (Katatonie); sowie Lähmungen mit konvulsischen Zuckungen, die an Epilepsie erinnern (Pseudoepilepsien).

Bei Anna Katharina Emmerick sind alle Formen von Lähmungen beschrieben, Katalepsie (Verharrung in einem starren Zustand), Paresen (schlaffe Lähmungen) wie auch konvulsische Anfälle. Zwei Formen möchte ich herausgreifen.

Hysterischer Anfall und Lähmungen

Große Hysterische Paroxismen folgten im 19. Jahrhundert oft einem festen Muster, beginnend mit pseudoepileptischen Anfällen, im weiteren Katalepsie, halluzinatorischen Zuständen und Erschöpfungsphasen, die von einer nachfolgenden Amnesie begleitet sind.

Der Verlauf eines Anfalls

Die konvulsischen Anfälle gehörten zum festen Bestandteil der hysterischen Phänome, bekannt schon durch die Zuordnung zur Besessenheit. Hysterische Paroxismen (Anfälle) gehen oft einher mit einer konvulsischen Synkope (Ohnmachtsanfall mit tonischem Krampf = Katalepsie) und äußern sich durch unkontrollierte motorische Aktivitäten wie Um - sich - Schlagen, Zittern oder Zucken. Die Schwierigkeit bei dieser Erscheinung ist es, sie von echten hirnorganischen Leiden zu unterscheiden. Das entsprechende Leiden ist hierbei die Epilepsie, hervorgerufen durch "wilde" elektrische Entladungen im Hirn. Die äußerliche Unterscheidung zur Hysterie liegt darin, daß der Anfall für die Hysteriker keine wirklichen körperlichen Schäden hinterläßt, also weder Knochenbrüche noch schwerwiegende Verletzungen der Zunge durch Zungenbisse vorkommen. Da bei der wirklichen Epilepsie die Kontrolle über jegliche Muskulatur verlorengeht, versagt häufig der Anulus (Schließmuskel des Enddarms), so daß die Betroffenenen während des Anfalls inkontinent werden. Pseudoepileptische Anfälle hinterlassen selten Verletzungen, Inkontinenzen werden nicht registriert, auch wenn es zu unkontrolliertem Harnlassen kommen kann.

Der klassische Höhepunkt eines hysterischen Anfalls im 19. Jahrhundert ist der von Charcot beschriebene "Arc de cercle", der hysterische Bogen. Charcot beschreibt diesen als unlogische Stellung. Der rückwärts gebogene Körper ist dabei nur am Kopf und an den Füßen aufs Bett gestützt; es handelt sich dabei um eine kataleptische Form von Lähmung, in der alle Muskeln angespannt sind. Oft folgen dann halluzinatorische Phasen, bei der Emmerick als Extasen beschrieben, in der dann Trauminhalte oder Visionen zum besten gegeben werden. Der Anfall schließt dann mit einer Erschöpfungs- und Erschlaffungsphase, in und nach der sich eine Amnesie einstellt.

Die Lähmungen folgen also einem nachvollziehbaren Muster: erst übergroße Muskelanspannung mit Zuckungen (Konvulsionen), dann Starre und danach Erschlaffung und schließlich Erschöpfung. Zum Vergleich zur systematisierten Darstellung, die den Höhepunkt der elaborierten Entfaltung motorischer Hysterien im 19. Jahrhundert um 1880 umfaßt, möchte ich die Beschreibung des Verlaufs hysterischer Anfälle bei Anna Katharina Emmerick heranziehen:

"Freitag den 27. Oktober 1815 ... gegen 9 Uhr führte ich die 2 Söhne des Grafen von Galen nebst dessen Hofmeister und Gouvernante zu der Kranken. Sie war recht elend, klagte sehr über Kopfschmerzen und die Hand- und Fußmale schienen schon anzufangen zu bluten. Es war warm auf dem Zimmer und die Anwesenheit der vielen Personen machte die Kranke mehrere Male husten. Sie zitterte übrigens am ganzen Leibe, wahrscheinlich vor Schmerz, und verfiel bald nachher in die ekstatische Ohnmacht. Dabei hörte die Respiration gänzlich auf, die Kranke war am ganzen Körper steif und unbiegsam, wovon sich die Anwesenden alle überzeugten, und war auf keine Weise wieder zum Bewußtsein zu bringen, indessen fuhr sie sogleich zusammen und erwachte mit tiefer Respiration, als ihr ihr Beichtvater Gehorsam befahl.

Nachmittags und abends lag sie immerfort ohne Bewußtsein. Gegen 4 Uhr nachmittags kam das Blut an der Stirne durch die Haube, auch fingen nun die Hand- und Fußmale deutlich zu bluten an. Abends bemerkte ich, daß auch das Seitenmal geblutet hatte. Die Kranke war indessen auch jetzt noch nicht besser. Sie war ohne deutliches Bewußtsein und hatte allerhand Delirien und verworrene Bilder."

Deutlich ist die kommunikative Form des hysterischen Anfalls zu erkennen. Der Anfall dauert über einen halben Tag, die Reihenfolge der oben beschriebenen Systematik ist auch hier zu erkennen. Wesentlich, darauf werde ich später noch eingehen, ist das gleichzeitige Auftreten der Blutungen. Also ergeben auch diese, da sie im Zusammenhang mit dem Anfall auftreten, der seinerseits in Anwesenheit der prominenten Gäste auftritt, einen kommunikativen Sinn. Die ganze Angelegenheit bietet das Bild - trotz der Filterung durch die schriftliche Aufzeichnung - einer Theaterinszenierung mit Hauptdarsteller und Publikum. Die Blutungen sind dabei ein Bestandteil des gesamten hysterischen Erscheinungsbildes.

Ein weiteres Beispiel aus den unzähligen Schilderungen Weseners und anderer zeigt die genaue Beobachtungsgabe der Kranken:

"Montags, den 15. Januar 1816 morgens erfuhr ich folgendes: Bis gegen ½ 1 Uhr schien die Kranke zu schlafen, weshalb sich der Wächter auch dem Schlafe überließ. Hierauf wurde er plötzlich, wie angestoßen, wach und fand die Kranke in Erstickungszufällen. Auf Geschrei kamen Hr. Limberg, Hr. Lambert und die Schwester herbei und meinten sämtlich, daß die Kranke sogleich sterben werde. Sie war auf keine Weise zu irgend einer Besinnung zu bringen, röchelte, klemmte die Kienlade fest aneinander und der Schaum trat ihr vor den Mund. In den Gliedern aber waren keine Zuckungen. Die schreckliche Szene dauerte wohl eine Stunde, darauf kehrte etwas Besinnung wieder, jedoch war die Kranke todschwach, bis sie, durch die hl. Kommunion frühmorgens gestärkt, wieder zur vollen Besinnung und einigermaßen zu Kräften gebracht wurde. Jetzt eben fand ich sie munter und sie unterhielt sich eine Weile ohne Beschwerden mit mir, nur klagte sie über Zerschlagenheit der Glieder. Abends war sie schwach, aber bei Vernunft."

Der Erstickungsanfall kann in den Zusammenhang mit der Lungentuberkulose gebracht werden. Kann sein, muß aber nicht. Genauso deutlich ist hier die hysterische Komponente. Die Verspannung des Kiefers und das Schlagen von Schaum im Mund folgt exakt dem Bild eines tatsächlichen epileptischen Anfalls. Der Schaum kommt dadurch zustande, daß die Zunge - ein großer Muskel - während des Anfalls im Mund unkontrolliert zuckt und kreist, dabei den Schaum aus Speichel schlägt.

A. K. Emmerick muß also für diese Darstellung ein entsprechendes Vorbild gehabt haben. Und das hatte sie auch. Erinnern möchte ich an die Auflösung des Tollhauses, das sich bis 1810 im Kloster Agnetenberg befand. In dieser Einrichtung waren mit einiger Sicherheit epileptische und pseudoepileptische Personen untergebracht. Von ihnen kann A. K. Emmerick ohne weiteres das Krankheitsbild übernommen haben. Bezeichnend ist der Beginn ihrer Anfälle, nämlich etwa vier Jahre vor Aufhebung des Kloster, also 1807/1808. Zu dieser Zeit wurden noch "wahnsinnige Personen" im Kloster betreut.

Erstickungsanfälle und Erbrechen scheinen bei konvulsischen Paroxysmen eine übliche Begleiterscheinung gewesen zu sein. Pierre Adolph Piorry schildert in seinem neunbändigen Werk über Hysterie (1841 - 1851) den Anfall eines Mädchens.

"Sehr häufig fährt die Frau während eines konvulsischen Anfalls mit den Händen zum Hals, als wolle sie ihn aufreißen und einen Fremdkörper, der sie erstickt, beseitigen (....) die Hysterikerin schlägt mit den Gliedmaßen nach den Gegenständen in ihrer Umgebung und selbst nach dem Kopfteil ihres Betts, in dem sie wie ein Gummiball auf und ab hüpft. (...) Man kann erleben, daß ein schmächtiges, zartgliedriges junges Mädchen sechs kräftig gebaute Männer, die sie festhalten sollen, im Handgemenge ins Schwitzen bringt. Sie schluchzt, schreit, tobt, stammelt abgebrochene Worte hervor, führt wütende Klagen, redet über Dinge, die ihr Verdruß bereiten, oder über den Mann, den sie liebt (...)."

Eine andere Schilderung, welche die Systematik der Anfälle besonders berücksicht, hat der französische Psychiater Pierre Briquet in seiner Sammlung von 450 Fallstudien in den Jahren 1849 - 1859 gegeben.

Ein elfjähriges Mädchen fällt in einen hysterischen Zustand (ein Hund hatte sie erschreckt), der zunächst drei Monate anhält.

"Am Ende dieses Zeitraums wandelt sich das Bild zu ungemein heftigen chronischen Kopfschmerzen, Schmerzen im Bauch, Rücken und der linken Körperhälfte, Beklemmungen Herzklopfen, anhaltendem Erstickungsgefühl, heftigem Erbrechen jedweder Ingesta. Dann kommen periodische Anfälle von Lethargie hinzu, die jedesmal vierundzwanzig Stunden dauern und nach dem Abklingen eine so extreme allgemeine Schwäche hinterlassen, daß die Kleine ans Bett gefesselt bleibt. Diese Symptome halten drei Jahre lang mit unverminderter Intensität an."

Über die Parallelität zu den Paroxysmen der Emmerick braucht wohl kaum ein Wort verloren werden. Die Erfindungsgabe der Hysterischen ist unerschöpflich, schon Freud bemerkte, das sie zur Nachahmung jedweder Krankheit in der Lage seien. Sie sind aber auch in der Lage, die einzelnen Symptome kreativ abzuwandeln. Anna Katharina Emmerick erweiterte ihre Anfälle durch eine originelle Variante der tonischen Krämpfe, dem Beten mit ausgestreckten Armen:

"(...) Sie ist so schwach, daß sie weder stehen noch sitzen, auch nicht einmal vernehmbar reden kann. (...) Sie hat oft Ohnmachten, während deren ihr ganzer Körper steif wie ein Stück Holz ist. (...) Sie, die vor Schwäche nicht einmal auf einem Stuhl sitzen kann, hat sich während dieser Ohnmachten zuweilen im Bette auf die Kniee gesetzt und länger als eine Viertelstunde mit stark ausgestreckten Händen gebetet; wenn sie zu sich kommt, so weiß sie wohl, daß sie gebetet hat, aber nicht, in welcher Stellung."

Hier wird neben den katatonischen Zuständen auch die Amnesie erwähnt, die Ärzte bei ihren hysterischen Patienten nach solchen Ereignissen ebenfalls beobachteten.

Eine weitere "paranormale" Erscheinung von gewisser Originalität wären noch die scheintoten Zustände, die besonderen Anklang bei Romantischen Literaten gefunden haben dürften (Scheintod war eines der großen Themen der Romantik). Wesener berichtet darüber, daß sich Puls und Respiration verloren und von direkten Scheintodanfällen. Auch dies sind Varianten der "Starrsucht", für die es zahlreiche Parallelfälle gibt, besonders im Amerika des 19. Jahrhunderts um den Ersten Weltkrieg herum. Einer dieser skurrilen Vorfälle sei noch kurz zitiert:

"Sie sagte zu mir: 'Gleich werde ich einen Anfall haben. Fühlen Sie mal meinen Puls. In ein paar Minuten bin ich tot.'

Ihr Puls, der zuvor bei hundert gelegen hatte, raste jetzt so schnell, daß man mit dem Zählen gar nicht mehr nachkam, während Regellosigkeit und Heftigkeit der Herztätigkeit mir einfach unfaßlich erschienen. Mit dem Enthusiasmus der Hysterika für ihre eigenen Darbietungen sagte sie zu mir: 'Und jetzt passen Sie gut auf - Sie werden staunen.'

Und in der Tat, ich staunte nicht schlecht. Nach wenigen Minuten begann die Pulsfrequenz zu fallen und (...) lag nach etwa einer Viertelstunde bei bloßen vierzig Schlägen. Immer mal wieder fiel jetzt ein Schlag aus. Unterdessen wurde der Puls schwächer und schwächer, bis schließlich weder ein Puls zu tasten noch ein Herzschlag zu hören war. In diesem Scheintod-Zustand, bleich und reglos, ohne wahrnehmbare Atemtätigkeit noch Blutzirkulation, konnte die Frau zwei bis vier Tage lang liegen bleiben."

Die Anfälle der Emmerick vermischten sich in der Regel mit dissoziativen Geisteszuständen. D. h. abgespaltene (dissoziative) innere Erlebnisinhalte wurden losgelöst von tatsächlichen Beziehungen zu sich selbst und anderen entäußert. Diese Inhalte (Gefühle, Gedanken, Einstellungen) können nebeneinander ohne logischen Bezug bestehen bleiben. Häufig sind Personen in solchem Zustand hoch suggestibel. Eine der suggestiblen dissoziativen Zustände habe ich schon im Somnambulismus geschildert. Dissoziative Zustände reichen in Extremformen bis zur gespaltenen Persönlichkeit, der sogenannten multiplen Persönlichkeit. In diesem Falle existieren in einer Person mehrere voneinander unabhängige Personen. Im Falle Anna Katharina Emmerick ging die Suggestion in eine homogene Richtung, andere als religiöse Betrachtungen wurden kaum von ihr verlangt, denn ihr engerer Umgang war auf den Kreis religiös orientierter Menschen beschränkt. Hier noch eine letzte Schilderung eines hysterischen Anfalls mit dissoziativen Zuständen:

"Es unterscheiden sich in den ekstatischen Zuständen der Kranken deutlich drei verschiedene Arten. Die erste habe ich schon erwähnt, es ist jener allgemeine Tetanus, wo ihr Körper einer Bildsäule gleich dalag und spezifisch schwerer zu sein schien. Die Schauungen in diesem Zustande waren Allegorien moralischer und religiöser Gesetze, Bilder über das Verhältnis der Menschen zu Gott und untereinander, auch Handlungen im Geiste an den entferntesten Orten der Welt. ... Da sie aber in diesem Zustande das Wesen der Dinge anschaute, so litt sie manchmal in demselben die schrecklichsten Qualen, welche sich in ihrer Physiognomie ausdrückten, wenn ihr z. B. der Greuel der Sünde vor Gott und das unnennbare Elend jener Menschen, die freiweillig sich ins Verderben stürzen, gezeigt wurde.

Der zweite Zustand der Geistesabwesenheit war dem vorigen gerade entgegengesetzt. Er schien ein Zustand himmlischer Beseligung zu sein. Ihr Körper war federleicht, alle ihre Gelenke waren so schlaff und biegsam, daß man beim Anfühlen meinte, sie fielen auseinander. Ihr Gesicht war unbeschreiblich heiter und sie erwachte ganz erquickt aus diesem Zustande. Dieser letzte Zustand war der seltenste, ich habe ihn in den letzten zwei Jahren meiner Beobachtung gar nicht mehr gesehen. Sehr merkwürdig waren zwei Dinge in den beschriebenen beiden Zuständen, nämlich die gänzliche Unempfindlichkeit für alle Sinneseindrücke, kein Rufen, kein Rütteln, kurz nichts war im Stande sie in's wachende Bewußtsein zurückzurufen als der Befehl eines geweihten Priesters. ... Ihren dritten Zustand halte ich dem wahren Traume gleich. Er trat fast nur in der Nacht ein, doch scheint er auch am Tage manchmal fortgewährt zu haben, wenigstens war ihre Geistesabwesenheit oft nicht zu verkennen, indem sie unzusammenhängend sprach und sich oft von dem Gesprochenen und von den Personen, womit sie gesprochen, nachher nichts zu erinnern wußte. Dieser Traumzustand war faßt ausschließlich dem Leben Jesu gewidmet."

So ganz nebenbei vermerkt Overberg (s. o.) eines der Hauptsymptome der klassischen Hysterien, das sogenannte Astasie - Abasiesyndrom:

Der kleinste gemeinsame Nenner aller hysterischen Lähmungen im 19. Jahrhundert war die Störung des Steh- und Gehvermögens (Astasie - Abasie). Im Ärztejargon sollte sich später die Wendung von den horizontalen Fällen etablieren. Die Pandemie der hysterischen Lähmungen begann bereits Ende des 18. Jahrhunderts, vermutlich unter Mitwirkung des Mentalitätswandels und der zivilisatorischen Einschränkungen, die Norbert Elias eindrucksvoll beschreibt.

Über den Beginn der Geh- und Stehunfähigkeit der Emmerick berichtet Wesener:

"Unsere Kranke wurde täglich hinfälliger, wie ein Schemen schlich sie von der Kirche in ihre Wohnung und in dieser herum, und gegen Weihnachten 1812 wollten ihre Füße sie nicht mehr tragen. Durch die gewöhnlichen Erquickungsmittel brachte sie ihr Brotherr (der Pater Lambert, dem sie den Haushalt führte) jedoch noch einmal wieder auf die Beine. Aber um Faßtnacht 1813 fiel sie gänzlich und blieb nun bis zu ihrem Tode in dem Bett gebannt. Merkwürdig ist, daß ihre Katamenen (Periode) bis zu Anfang dieser Krankheit (Weihnachten 1812) immer noch regelmäßig, obgleich schwach flossen, dann aber nie wieder erschienen"

Kurz rekapituliert: Nov. 1811 Aufhebung des Klosters, Frühjahr 1812 Auszug aus demselben zu Lambert, im Spätsommer beginnen Blutungen, zwischen Weihnachten und Neujahr 1812 beginnen die Stigmata zu bluten. Zwischen Weihnachten 1812 und Faßnacht 1813 hatten sich die Symptome also voll ausgebildet. Gleichzeitig verschwinden die Katamenien. Hieraus einen Schluß zu ziehen ist zugleich schwierig als auch einfach. Einerseits kann es sich um eine verzögerte Reaktion auf die Klosterschließung handeln; der Schutzraum, der Anna Katharina Emmerick gegen weltliche Anforderungen abschirmte war zusammengebrochen. Freilich hatte sie dort schon kein angenehmes Leben, im Gegenteil; alles was aus dieser Zeit berichtet wird, riecht nach hysterisch - somatisiertem Protest. Der Zeitraum zwischen den Ereignissen, also zwischen Auszug aus dem Kloster und Weihnachten, immerhin neun Monate ist jedoch ungewöhnlich lang. Aus den Berichten lassen sich keine neuen oder zusätzlichen Belastungen oder Veränderungen entnehmen. Etwas muß dazugekommen sein, was die Symptombildung aktiviert hat. Darüber läßt sich nur spekulieren, möglich ist, daß nach dem Kollusionsmodell die Beziehung mit Lambert die Flucht in die Krankheit befördert hat. Möglich auch, daß sexuelle Wünsche gegen Lambert die Symptombildung begünstigten. Im Jahr 1812 ist jedenfalls der Schlüssel für die neue Symptombildung zu suchen.

Kehren wir zu den Lähmungserscheinungen zurück. Zugrunde liegt ihnen wie allen hysterischen Symptomen eine Vorstellung, die eines imaginären Körpers, dem im Vergleich zum realen Körper eine Funktion fehlt. Genauso gut könnte man sich aber auch einen imaginären Körper denken, der sich gerade von den Funktionen oder Lasten befreit hat, die der reale Körper auf sich nehmen muß. In jedem Fall aber besteht ein Unterschied zwischen diesem imaginären Körper und dem, der dem Menschen von der Natur auferlegt ist. Es kommt einem der Gedanke, eine der Forderungen der Hysterikerin könnte vielleicht darin bestehen, von den "natürlichen" Aufgaben des Körpers befreit zu sein, also eine Forderung nach größerer "menschlicher" Freiheit im Vergleich zur "Kreatur".

Stigmata

Was sich in diesem Traumkörper noch lesen läßt, ist bei den Anästhesien deutlicher als bei den Lähmungen. Auch für die Anästhesien ließe sich sagen, daß sie zu beschreiben unmöglich ist. Alle Lokalisierungen, Formen oder Intensitätsgrade können vorkommen. Deshalb braucht man auf die Unterscheidung zwischen Dys- und Parästhesien (Sensibilitätsstörungen, bei denen Reize qualitativ anders und unangenehm empfunden werden; Dysäst. betr. äußeren Reiz z. B. Berührung, Paräst. subjektive Empfindung wie Kribbeln u. ä.) nicht einzugehen. Ein entscheidendes Charakteristikum gibt es aber. Man hat es bei den Untersuchungen über die Hysterie nicht sofort hervorgehoben, und wenngleich es schon die Autoren des 19. Jahrhunderts bemerkt hatten, so wurde die Tragweite dieser Besonderheit doch erst in unseren Tagen erkannt. Solange man nämlich die Theorie der Hysterie nur auf eine anatomische Grundlage stellte, konnten manche Symptome den Beobachter allenfalls stutzig machen; meist jedoch führte das dazu, sie zu vernachlässigen. Beim Studium der Hemianästhesien war aufgefallen, daß die Grenzlinie der anästhetischen Zone genau der Körpermitte entlang lief. Dann fand man auch bei den partiellen Anästhesien eine glatte Begrenzung, die weder einer peripheren Nervenbahn oder einem zentralnervösen Muster entsprach, noch zu irgendeiner Metamerie passen wollte. Die Grenzlinien schienen wie bei Kleidungsstücken zu verlaufen, woraus die bildhaften Benennungen entstanden: Handschuh-, Strumpf-, Gürtel-, Manschette- oder Gamaschenanästhesie. Man findet eine scharfe Grenzlinie auf der Haut, eine regelrechte Amputationslinie, geradezu eine Aufforderung, sie nachzuschneiden.

Anästhesien an Hautmalen sind schon im Mallaeus maleficum als "Hexenmale" benannt. Diese Hexenmale seien die Folgen satanischer Berührungen. In der Prüfung durch den Inquisitor, ob es sich um Hexenmale handelt, wird genau unterschieden. Mit Krätze oder Flechten werden diese Punkte nicht verwechselt, weil hier nur die Krusten unempfindlich sind. Aussatz und Lähmungen werden ausgeschieden, indem die Geprüften mit Nadeln gestochen werden. Tritt Blut hervor, handelt es sich um kein Hexenmal, erscheint jedoch kein Blut ist dies ein unzweifelhafter Beweis. Eine besondere Beziehung von diesen "Hexenmalen" besteht zu Stigmata, weil es sich auch hier um cutane Phänomene handelt, die lokale sensorische Abweichungen zeigen, jedoch verbunden mit sekretorischen Anomalien.

Sensorische Auffälligkeiten zeigten sich auch an den Hautdefekten der Emmerick. Die Stigmata bereiteten ihr immer wieder starke Schmerzen, im Sinne von Dysästhesie und Parästhesie, d. h. starke Schmerzen traten an den Hautdefekten ohne äußeren Reiz als auch durch Berührung auf.

Hysterogene Hautblutungen sollten nach oben Geschildertem kaum noch verwundern. Im 19. Jahrhundert wurden sie für vicariierende Menstruationen bei Ämenorrhoe gehalten. Man kann zwei verschiedene Arten solcher spontanen Blutungen unterscheiden: einmal das Erscheinen von Blutströpfchen auf der Haut, sodann die Bildung von Blutblasen, welche anfänglich eine wässerige, dann blutig gefärbte Flüssigkeit enthalten und später aufbrechen. Diese Beschreibung stimmt exakt mit denen der kirchlichen Untersuchungskommission im Falle Emmerick überein. Das, was von einer gewöhnlichen psychosomatischen Hautblutung zur Stigmatisation dazukommen muß, ist die oben von Israel genannte Grenzlinie.

Solche Grenzlinien gelten in besonderem Maße für religiös inspirierte Vorstellungen des Körpers. Die wichtigsten Punkte am Körper Christi sind die in der Kunst ikonographisch hervorgehobenen Wundmale. Eine Person wie die Emmerick, deren Selbstrepräsentanz an den Leiden Christi orientiert ist, hatte alle Voraussetzungen an diesen Punkten Erscheinungen hervorzubringen.

Die Einordnung der Stigmatisation als Teil der hysterischen Phänomene wird von allen Autoren, die sich zur Hysterie äußern, zugestanden. Umgekehrt wird auch von katholischen Spezialisten, namentlich Schleyer und Thurston, die Psychogenie eingeräumt. Bei Anna Katharina Emmerick ist das nicht zu übersehen. Unter dem Eindruck der nahenden staatlichen Untersuchung, der sich unausweichlich verdichtenden Realität, versiegten die Blutungen. Eine weitere Vermutung liegt nahe, nämlich daß sie der Überforderung durch Brentanos Zudringlichkeit überdrüssig ist, sie die Ursache der unangenehmen Folgen unterdrückt.

Fast alle Stigmatisierten boten ein ähnliches, beinahe identisches Krankheitsbild. Es handelte sich fast ausschließlich um Frauen aus einfachem Milieu, oft Bauerntöchter. Bei fast allen sind einschneidende lebensgeschichtliche Traumata nachzuweisen. Alle boten eine breite Palette hysterischer Symptome dar, allen ist das Auftreten des großen hysterischen Anfalls mit Dissoziationserscheinungen gemeinsam. Alle hatten massive Eßstörungen, die weit über das im Kloster übliche Maß hinausgingen.

Insofern kann man bei Stigmatisierten von einer speziellen religiös geformten Hysterie sprechen.

Ein besonderes Merkmal der religiösen Hysterie ist das veränderte Eßverhalten.. Die Störung des Eßverhaltens in Form von Extremfasten ist fast allen Stigmatisierten gemein. Der Verzicht auf Ernährung bedeutet diesen Personen die völlige Kontrolle über ihren Körper zu gewinnen und damit sich und ihrer Umwelt ihre Autonomie beweisen. Die Anorexie stellt eine Reaktion auf orale Triebimpulse dar, diese werden aber nicht notwendigerweise unterdrückt. Die anorektischen Frauen nehmen ja häufig Nahrung zu sich, können oder besser wollen diese aber nicht "bei sich behalten" (im wahrsten Sinne des Wortes), sie erbrechen sich also. Lediglich Nahrung mit Symbolgehalt (Hostie) nehmen sie wirklich an, bestreiten damit ihren meist äußerst niedrigen Energieumsatz.