Allgemeines über Psychosomatik
Viele der körperlichen Symptome von Anna Katharina Emmerick haben eine
enge Beziehung zu der Gruppe von Krankheiten, die als psychosomatische
Erkrankungen bezeichnet werden. Der Begriff Psychosomatik geht auf den
Mediziner J. Ch. August Heinroth zurück, der die Auffassung vertrat, daß
die meisten körperlichen Erkrankungen psychisch bedingt seien. Psychosomatik
ist jedoch ein Oberbegriff, der voraussetzt, daß tatsächliche Läsionen
(Schädigungen) körperlicher Organe vorliegen.
Neuere Denkmodelle der Psychosomatik gehen auf Freuds "Studien über
Hysterie" zurück ("Wenn wir der Kürze halber die Bezeichnung
'Konversion' für die Umsetzung psychischer Erregung in körperliche Dauersymptome
wählen...."). In seiner fast gleichzeitig erschienenen Studie "Die
Abwehr - Neuropsychosen" stellt er fest: "Bei der Hysterie erfolgt
die Unschädlichmachung der unverträglichen Vorstellung dadurch, daß deren
Erregungssumme ins Körperliche umgesetzt wird, wofür ich den Namen 'Konversion'
vorschlagen möchte". Otto Fenichel, ein Mitglied der psychoanalytischen
Gesellschaft um Freud teilt seine Standard - Übersicht der Symptome in
Gruppen ein:
1. Die eigentlichen Konversionssymptome, die als im Zentrum des hysterischen
Syndroms stehend angenommen werden, (diese müssen aber keine Organläsionen
aufweisen, hier kann auch ein "Als ob" angetroffen werden, ohne
daß eine bewußte Simulation vorliegt);
2. "oganneurotische" Symptome, die im wesentlichen durch funktionelle
Störungen verursacht werden, wobei die entstehenden somatischen Krankheitszeichen
keinen eigenen psychischen Ausdruckscharakter besitzen, nicht Übersetzungen
in die Körpersprache sind und keine spezifischen Phantasien oder Triebimpulse
ausdrücken.
3. Prägenitale Konversionsneurosen wie Stottern, Tics und Asthma.
Inzwischen sind eine Reihe neuerer Denkansätze entwickelt worden, von
denen die meisten nach wie vor auf psychodynamischen Annahmen fußen, also
eine Weiterentwicklung des Freudschen Ansatzes darstellen (Alexander,
1951; Grace / Graham 1952; Schmale / Engel 1977; Nemiah / Sifneos 1970).
Darüber hinaus gibt es das Streß - Modell (Selye 1953; Deneke / Dahme
1977) und lerntheoretische Modelle (Dekker / Pelser / Groen 1957; Turnbull
1962).
Zu den klassischen psychosomatischen Krankheiten werden einige Infektionskrankheiten
gezählt, in diesem Zusammenhang besonders die Tuberkulose. In Bezug auf
die Emmerick sind es außerdem psychosomatische Erkrankungen des oberen
und unteren Verdauungstraktes (besonders Magen - und Zwölffingerdarmgeschwür),
der Haut, des Eßverhaltens (Anorexia nervosa = psychogene Magersucht)
und motorische Störungen.
In der Krankengeschichte Anna Katharina Emmericks finden sich alle Merkmale
einer schweren Hysterie, in einigen Phänomenen ist sie geradezu prototypisch
für die Hysterien des 19. Jahrhunderts.
Hysterie
Die Hysterie scheint die älteste aller beobachteten psychischen Störungen
zu sein. Im 19. Jahrhundert hatte dieses Leiden Hochkonjunktur, es wird
gemeinhin als das Zeitalter der Hysterie bezeichnet. Es gibt unzählige
Indikatoren, um diese Aussage zu verifizieren, nicht zufällig führte Freuds
Weg zur Psychoanalyse über die Hysterie und den berühmten Spezialisten
für diese Störung, Jean Marie Charcot (1825 - 1893). Der Begriff "Hysterie"
wurde von Freud durch den der "Konversionsneurose" ersetzt,
weil er erkannte, daß psychisches Leiden in körperliches konvertiert.
Der Begriff wurde auch deshalb ersetzt, weil ihm traditionell etwas pejoratives
anhaftete und anhaftet. Das Abwertende hängt sicherlich zusammen mit der
vorgeblichen geschlechterspezifischen Bindung, mit der Abwertung der Frau,
obwohl schon Sydenham (s.o. Tuberculose) und Charcot darauf hinwiesen,
daß Hysterie nicht ausschließlich eine Frauenkrankheit sei. Seit neuestem
wird der Begriff "Hysterie" auch in der medizinisch - psychologischen
Terminologie wieder vermehrt eingesetzt, im Umgangssprachlichen war er
ohnehin durchgehend gebräuchlich. Auch der Begriff "Konversionsneurose"
ist inzwischen fragwürdig, wenn nicht sogar hinfällig, weil in jeder Neurose
Konversionsphänomene auftreten.
Die klassischen Merkmale der Hysterie sind
- psychische Funktionsstörungen (dissoziative Erscheinungen:
Halluzinationen, Dämmerzustände, Amnesien),
- körperliche Funktionsstörungen (Konversionssymptome:
Muskelschwächen, Lähmungen, Anästhesien, Erbrechen, Zittern, Asthasien)
und drittens
- hysterische Verhaltensmuster (unbewußte Inszenierung:
Dramatisierung, exaltiertes Verhalten) und Charakterzüge (Übererregbarkeit,
Egozentrismus mit einem unersättlichen Verlangen nach Anerkennung und
Liebe, dem das häufig verführerische Verhalten gilt, ausgeprägte Suggestibilität,
verlangende Abhängigkeit).
Der hysterische Mensch sucht bewußt oder unbewußt sein Publikum. Die
Ausdrucksgebung mit den Mitteln der hysterischen Symptombildung oder der
hysterischen Verhaltensweisen hat einen eindeutig kommunikativen Charakter.
Sie will in ganz bestimmter Weise beeindrucken, beeinflussen, überzeugen.
Das Gros der hysterischen Symptome und Charakterbildungen kommt nur bei
Anwesenheit von Zuschauern zur Wirkung. Hysterische Symptombilder lassen
sich mit Inszenierungen vergleichen, die nur dann einen Sinn haben, wenn
ein Publikum da ist, welches Inhalt, Dekoration, Dramatik der gespielten
Handlung sowie die bevorzugten Schwerpunkte zu schätzen weiß. Gerade dieses
Charakteristikum hysterischer Symptombildung hat dazu geführt, daß besonders
im vorwissenschaftlichen Feld die Diagnose "Hysterie" vielfach
als Abwertung oder sogar als Schimpfwort für Simulanten, Phantasten, geltungssüchtige
und schauspielende Blender benutzt wird.
Kennzeichnend für die Hysterie ist ihre Anpassungsfähigkeit an die kulturellen
Gegebenheiten und iatrogene (vom Arzt induzierte) Erklärungsmuster. Die
Hysterie schöpft aus einem Symptompool (wie alle psychogenen Erkrankungen
übrigens auch), aus denen diejenigen Symptome herausgefischt werden, die
geeignet sind, ärztliche oder gesellschaftliche Anerkennung zu finden.
Ganz auffällig ist dies in der Anhäufung von Krankheitsbildern in bestimmten
Zeitabschnitten, die jeweils mit den zeitgemäßen Erklärungsmustern korrespondieren.
Im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit finden sich die Besessenheitssymptome.
Besessenheit ist eine Erklärung von Hysterie, die aus dem Teufelsglauben
hervorgeht. Der Mallaeus maleficarum, der Hexenhammer, im Jahre 1494 im
Auftrag des Papstes Innozenz VIII verfaßt, enthält eine aufschlußreiche
Fülle von Schilderungen, die auch in einem psychiatrischen Lehrbuch für
Hysterie stehen könnten. Die Besessenheitsidee ist für die Patienten so
schlecht nicht, spendet sie doch eine Entlastung für das Über - Ich: "Nicht
ich, sondern der Teufel ist für meine sexuellen Gefühle, Visionen, Taten
verantwortlich". Solcherart die Schuld von sich wendenden Patienten
konnte natürlich mit einem Exorzismus à la Gassner gut geholfen werden.
In altägyptischen Papirii, von Plato und Hippokrates sind sehr frühe
Beschreibungen der Hysterie überliefert (Hysterà, griech. = Uterus). Für
sie war es die wandernde Gebärmutter, die das Leiden verursachte, eine
Theorie, die in Variationen über die Jahrtausende Bestand haben sollte.
Sydenham (1624 - 1689) war der erste Arzt, der sich von solchen überkommenen
Vorstellungen abwandte. Sydenham widersprach der lange gültigen Auffassung,
die Hysterie hinge mit der Unruhe der Gebärmutter zusammen und stellte
auch die Besessenheit in Frage. Ihm wird die Erkenntnis zugeschrieben,
daß Hysterie nicht nur eine Erkrankung der Frauen, sondern auch der Männer
ist. Sydenhams Begriff der Hysterie umfaßte aber auch die Hypochondrien
und depressiven Syndrome. Er stand vor dem Dilemma, vor dem alle vor-
und frühmodernen Ärzte standen, die sich mit Hysterie befaßten: "Die
Erkenntnis und Heilart dieser Krankheit ist vor allem übrigen schwer (...)
Meine Tage sind zu kurz, wenn ich alle Symptome erzählen wollte; sie nimmt
unterschiedliche und widersprüchliche Gestalten an. Sie hält auch keinen
ordentlichen Typus ein." Im 18. und 19. Jahrhundert war das dann
entsprechend dem Zeitgeist die irritierten Nerven, die Spinalirritation.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts gewannen dann die verschiedenen Organreflextheorien
die Oberhand, insbesondere die Reflexe des Uterus; mit Janet und Freud
wurden es die Neurosen, also etwa die Kriegzitterer des ersten Weltkrieges.
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Kriegssymptom Zittern von Magenbeschwerden
abgelöst. Heute sprechen die Ärzte von Kreislaufbeschwerden, Kopfschmerzen,
Mattigkeit als typische Symptome. In den letzten Jahren scheint mit den
Allergien ein neues (iatrogenes) Angebot psychogener Erkrankungen hinzugekommen
zu sein - Neurodermitis. Eine andere moderne Variante der Hysterie ist
die Bulimie, eine Verwandte der Anorexia nervosa.
Moderne Theorien gehen davon aus, daß die hysterische Reaktion eine Form
der psychischen Konfliktlösung ist, die dem Betroffenen einen Ausweg aus
einer psychischen Krise läßt. "Wir wissen, daß bestimmte Neurosen
feste Beziehungen zu bestimmten Abwehrtechniken haben, wie etwa die Hysterie
zur Verdrängung, die Zwangsneurose zur Isolierung und zum Ungeschehen
machen. (z. B. Waschzwang) (....) Für Hysterie und Zwangsneurose
ist uns diese Parallele, besonders zwischen Symptombildung und Widerstandsform
am ehesten geläufig. Der hysterische Patient gebraucht bei der Symptombildung
im Kampf mit dem Trieb vor allem die Verdrängung: er entzieht den Vorstellungen,
die den sexuellen Anspruch repräsentieren wollen, das Bewußtsein. Dem
entspricht die Form seines Widerstandes gegen die freie Assoziation. Einfälle,
die die Abwehr des Ichs herausfordern werden einfach beseitigt. Der Patient
empfindet nur eine Leere im Bewußtsein." Die Art der Konfliktlösung
ist einerseits angepaßt, indem sie allgemein akzeptierte Erklärungsmuster
bedient, sie verdeckt die Krise. Andererseits ist sie krankhaft, neurotisch,
weil eine Ersatzlösung und somit die Wahl der Mittel nicht angepaßt sind.
Die vorhandene echte Not wird mit unechten Mitteln dargestellt, daher
auch das Mißtrauen gegen das Hysterische. Die hysterische Abwehrform kommt
aber nicht nur als manifeste Krankheit daher. Israel gibt zu bedenken,
daß es vermutlich eine Menge geglückter Hysterien gibt, erst die mißglückte
Hysterie würde als Krankheit mit dem Arzt Bekanntschaft machen. Wenn aber
eine gescheiterte Hysterie sich als Krankheit äußert, muß ihr um jeden
Preis der Platz einer wirklichen Krankheit wie andere auch zugewiesen
werden. Das Unregelmäßige, das "keinen ordentlichen Typus einhaltende"
der Krankheit rührt daher, daß die Patienten die Symptome entweder durch
Identifikation oder Nachahmung übernehmen. Die Symptomgestaltung ist häufig
von der ärztlichen Deutung, der kulturell zugestandenen Symptomatik oder
schlicht von der Vorstellung des Patienten abhängig. Gerade weil die Vorstellung
der Patienten nicht den medizinischen Erfahrungen folgt, hält sie eben
auch keinen Typus ein.
Stavros Mentzos geht hingegen so weit, Hysterie als nosologische Einheit
(Nosologie = Krankheitslehre) aufzugeben und statt dessen von einem hysterischen
Verarbeitungsmodus zu sprechen.
Das Spezifische und Gemeinsame in allen hysterischen Erscheinungen ist
nach Mentzos folgendes "Der Betreffende versetzt sich innerlich
(dem Erleben nach) und äußerlich (dem Erscheinungsbild nach) in einen
Zustand, der ihn sich selbst quasi anders erleben
und in den Augen der umgebenden Personen anders als er ist erscheinen
läßt." Mentzos steht mit seiner Meinung nicht allein.
Farber (1961) betrachtet die Aufrechterhaltung einer Illusion über sich
und andere als das Wesentliche der Hysterie. Angyal (1965) meint, daß
der hysterische Mensch eine Ersatzpersönlichkeit auslebe, weil er sein
eigentliches Selbst verbannt habe. Die hysterische "Lösung"
sei also der Versuch, das innere Gefühl der Leere durch die Flucht in
eine Pseudopersönlichkeit zu vermeiden. Eidelberg (1938) sprach von einer
Pseudoidentifikation beim Hysteriker. Schließlich vermutet auch Wolowitz
(1971), daß der Hysteriker ein Pseudoselbst aufbaue, um damit gewisse
emotionale Reaktionen der Umgebung zu erhalten - im Grunde bleibe aber
das Gefühl der Leere bestehen. Die Leere ist nach Mentzos das Resultat
eines langanhaltenden Verdrängungsprozesses des zugrundeliegenden Konflikts.
Der Unterschied zu anderen Neurosen besteht also darin, daß andere neurotischen
Leistungen eine tatsächliche Bedeutung haben, während die Hysterie davon
überzeugen will, daß eine Bedeutung vorliege. Zwanghaftes Händewaschen
soll tatsächlich eine Wiedergutmachung, eine Säuberung bewirken; der Melancholiker
inszeniert keine pseudoregressive Szene, sondern er regrediert tatsächlich.
Noch einmal ist wiederholend festzustellen: den hysterisch Kranken geht
es darum ihr "Über - Ich" zufriedenzustellen, es geht um die
Selbstrepräsentanz; diese innere Instanz gilt es zu überzeugen, unabhängig
davon ob die Umwelt Beifall zollt. Denn nicht diese ist Gegenstand der
Anstrengungen. Die soziale Umwelt soll nur bestätigen, was dem "Über
-Ich" dargeboten wird. Das "Ich" will sich freilich auch
nicht lächerlich machen, daher der Symptomwandel. Kriegszitterer des Ersten
Weltkriegs waren ab einem bestimmten Zeitpunkt nur Hysteriker und deshalb
nicht ernsthaft krank. Der Hysteriker fürchtet die Unglaubwürdigkeit,
fürchtet bloßgestellt zu werden. Deshalb war die Diagnose Kriegszitterer
im Zweiten Weltkrieg auch nicht mehr goutiert. Man wurde magenkrank.
Der hysterische Mensch erzielt aus seiner Neurose erheblichen Nutzen,
der in der Psychoanalyse in primären und sekundären Krankheitsgewinn geschieden
wird. Der Primärgewinn ist ein vierfacher; die hysterische Person kann
ihren Gefühlen ohne Schuld- und Schamgefühlen Ausdruck geben, da ihr der
Zusammenhang unbewußt bleibt. Triebbefriedigung kann ohne Strafe und Reue
herbeigeführt werden (Aggression, Sexualität usw). Der narzißtische Gewinn
führt zur Verbesserung des Selbstwertgefühls (die Person kann sich als
etwas besonderes erleben). Die Innere Leere wird ausgefüllt. Emotionalisierung,
Exaltiertheit, sich hineinsteigern hilft, eine gefühlsmäßige innere Leere
auszufüllen, d. h. nicht gezwungen zu sein, den ursprünglichen intrapsychischen
Konflikt real zu lösen.
Der Sekundäre Krankheitsgewinn besteht in Zuwendung und Pflege. Das Selbsterleben
des Kranken wird durch seine soziale Umwelt bestätigt, die gelungene Inszenierung
sichert die Pseudolösung des intrapsychischen Konflikts.
Die Heilung einer neurotischen Krankheit ist davon abhängig, in wie weit
der Patient auf den Krankheitsgewinn verzichten kann, bzw. in wie weit
er seine Triebansprüche sublimiert oder tatsächlich ausleben kann. Die
krankhafte, neurotische Variante kann besonders gut in den Hysterien des
19. Jahrhunderts beobachtet werden.
Motorische Hysterie im 19. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert standen die motorischen Störungen im Symptompool der
hysterischen Krankheitswahl vornan. Weder im achtzehnten noch im zwanstigsten
Jahrhundert war Lähmung als Bewältigungsstrategie für Verlust, Trauer
und Traumatisierung sonderlich häufig zu beobachten. Kulturgeschichtlich
war sie die Art und Weise des neunzehnten Jahrhunderts, auf extreme Gefühlslagen
zu reagieren. Bedenkt man, daß die Opfer hysterischer Lähmungen hauptsächlich
junge Frauen waren, kommt man um die Schlußfolgerung nicht herum, daß
in das Geschehen auch umfassendere, die weiblichen Lebensbedingungen im
allgemeinen berührende kulturelle und soziale Wandlungsprozesse mit hineinspielten.
Wenn die Kultur des neunzehnten Jahrhunderts ein bestimmtes Bild von der
'idealen Frau' zur Norm erhob, warum hätte sie dann nicht auch die körperlichen
Symptome dekretieren sollen, die Renitenzlerinnen als Strafe für die Nichterfüllung
jener Norm drohten? Hier liegt die Schnittstelle zwischen den Bedingungen
des Krankseins und der 'Kultur'. Ur-Matrix aller Symptomgestaltung sind
die kulturellen Normen für 'Legitimität' und 'Illegitimität' von Symptomen.
Die Funktion des Arztes in der iatrogenen Symptomgestaltung ist lediglich
die eines Agenten des kulturellen Milieus.
Die Einschränkung des Verhaltens und der Bewegungsfreiheit der Frauen
fand seinen Ausdruck und sein Äquivalent in der Somatisierung als Lähmung.
Beispiele wurden im Zusammenhang mit Friederike Hauffe schon genannt.
Heilungserfolge solcher Krankheiten sind insbesondere im ausgehenden 18.
Jahrhundert zu verzeichnen, nämlich diejenigen Mesmers und Puiségurs,
die so erfolgreich mit Hilfe des Mesmerismus von den Leiden hysterischer
Pseudoepilepsien befreiten. Es handelte sich meist um spontane Heilungen,
die somatogene Erkrankungen mit tatsächlichen Organläsionen ausschließen
dürften. Keine organisch kranke Person beispielsweise mit Temporallappenepilepsie
wird durch magnetisches Fluidum zu heilen sein, Patienten mit hysterischer
Katalepsie jedoch sehr wohl.
Motorische Störungen zeigen sich in unterschiedlichen Ausformungen: Lähmungen
mit teilweisem oder völligem Funktionsausfall also Paresen und Paralysen
(Lähmungen schlaffer Art, Teile oder den ganzen Körper betreffend) auch
als -plegie, also Hemiplegie oder Paraplegie (Symmetrische Lähmungen längs
und quer), Astasie - Abasie(Unfähigkeit zu stehen oder zu gehen) und steife
Lähmungen mit Kontraktur der Muskeln (Katatonie); sowie Lähmungen mit
konvulsischen Zuckungen, die an Epilepsie erinnern (Pseudoepilepsien).
Bei Anna Katharina Emmerick sind alle Formen von Lähmungen beschrieben,
Katalepsie (Verharrung in einem starren Zustand), Paresen (schlaffe Lähmungen)
wie auch konvulsische Anfälle. Zwei Formen möchte ich herausgreifen.
Hysterischer Anfall und Lähmungen
Große Hysterische Paroxismen folgten im 19. Jahrhundert oft einem festen
Muster, beginnend mit pseudoepileptischen Anfällen, im weiteren Katalepsie,
halluzinatorischen Zuständen und Erschöpfungsphasen, die von einer nachfolgenden
Amnesie begleitet sind.
Der Verlauf eines Anfalls
Die konvulsischen Anfälle gehörten zum festen Bestandteil der hysterischen
Phänome, bekannt schon durch die Zuordnung zur Besessenheit. Hysterische
Paroxismen (Anfälle) gehen oft einher mit einer konvulsischen Synkope
(Ohnmachtsanfall mit tonischem Krampf = Katalepsie) und äußern sich durch
unkontrollierte motorische Aktivitäten wie Um - sich - Schlagen, Zittern
oder Zucken. Die Schwierigkeit bei dieser Erscheinung ist es, sie von
echten hirnorganischen Leiden zu unterscheiden. Das entsprechende Leiden
ist hierbei die Epilepsie, hervorgerufen durch "wilde" elektrische
Entladungen im Hirn. Die äußerliche Unterscheidung zur Hysterie liegt
darin, daß der Anfall für die Hysteriker keine wirklichen körperlichen
Schäden hinterläßt, also weder Knochenbrüche noch schwerwiegende Verletzungen
der Zunge durch Zungenbisse vorkommen. Da bei der wirklichen Epilepsie
die Kontrolle über jegliche Muskulatur verlorengeht, versagt häufig der
Anulus (Schließmuskel des Enddarms), so daß die Betroffenenen während
des Anfalls inkontinent werden. Pseudoepileptische Anfälle hinterlassen
selten Verletzungen, Inkontinenzen werden nicht registriert, auch wenn
es zu unkontrolliertem Harnlassen kommen kann.
Der klassische Höhepunkt eines hysterischen Anfalls im 19. Jahrhundert
ist der von Charcot beschriebene "Arc de cercle", der hysterische
Bogen. Charcot beschreibt diesen als unlogische Stellung. Der rückwärts
gebogene Körper ist dabei nur am Kopf und an den Füßen aufs Bett gestützt;
es handelt sich dabei um eine kataleptische Form von Lähmung, in der alle
Muskeln angespannt sind. Oft folgen dann halluzinatorische Phasen, bei
der Emmerick als Extasen beschrieben, in der dann Trauminhalte oder Visionen
zum besten gegeben werden. Der Anfall schließt dann mit einer Erschöpfungs-
und Erschlaffungsphase, in und nach der sich eine Amnesie einstellt.
Die Lähmungen folgen also einem nachvollziehbaren Muster: erst übergroße
Muskelanspannung mit Zuckungen (Konvulsionen), dann Starre und danach
Erschlaffung und schließlich Erschöpfung. Zum Vergleich zur systematisierten
Darstellung, die den Höhepunkt der elaborierten Entfaltung motorischer
Hysterien im 19. Jahrhundert um 1880 umfaßt, möchte ich die Beschreibung
des Verlaufs hysterischer Anfälle bei Anna Katharina Emmerick heranziehen:
"Freitag den 27. Oktober 1815 ... gegen 9 Uhr führte ich die
2 Söhne des Grafen von Galen nebst dessen Hofmeister und Gouvernante zu
der Kranken. Sie war recht elend, klagte sehr über Kopfschmerzen und die
Hand- und Fußmale schienen schon anzufangen zu bluten. Es war warm auf
dem Zimmer und die Anwesenheit der vielen Personen machte die Kranke mehrere
Male husten. Sie zitterte übrigens am ganzen Leibe, wahrscheinlich vor
Schmerz, und verfiel bald nachher in die ekstatische Ohnmacht. Dabei hörte
die Respiration gänzlich auf, die Kranke war am ganzen Körper steif und
unbiegsam, wovon sich die Anwesenden alle überzeugten, und war auf keine
Weise wieder zum Bewußtsein zu bringen, indessen fuhr sie sogleich zusammen
und erwachte mit tiefer Respiration, als ihr ihr Beichtvater Gehorsam
befahl.
Nachmittags und abends lag sie immerfort ohne Bewußtsein. Gegen 4
Uhr nachmittags kam das Blut an der Stirne durch die Haube, auch fingen
nun die Hand- und Fußmale deutlich zu bluten an. Abends bemerkte ich,
daß auch das Seitenmal geblutet hatte. Die Kranke war indessen auch jetzt
noch nicht besser. Sie war ohne deutliches Bewußtsein und hatte allerhand
Delirien und verworrene Bilder."
Deutlich ist die kommunikative Form des hysterischen Anfalls zu erkennen.
Der Anfall dauert über einen halben Tag, die Reihenfolge der oben beschriebenen
Systematik ist auch hier zu erkennen. Wesentlich, darauf werde ich später
noch eingehen, ist das gleichzeitige Auftreten der Blutungen. Also ergeben
auch diese, da sie im Zusammenhang mit dem Anfall auftreten, der seinerseits
in Anwesenheit der prominenten Gäste auftritt, einen kommunikativen Sinn.
Die ganze Angelegenheit bietet das Bild - trotz der Filterung durch die
schriftliche Aufzeichnung - einer Theaterinszenierung mit Hauptdarsteller
und Publikum. Die Blutungen sind dabei ein Bestandteil des gesamten hysterischen
Erscheinungsbildes.
Ein weiteres Beispiel aus den unzähligen Schilderungen Weseners und anderer
zeigt die genaue Beobachtungsgabe der Kranken:
"Montags, den 15. Januar 1816 morgens erfuhr ich folgendes: Bis
gegen ½ 1 Uhr schien die Kranke zu schlafen, weshalb sich der Wächter
auch dem Schlafe überließ. Hierauf wurde er plötzlich, wie angestoßen,
wach und fand die Kranke in Erstickungszufällen. Auf Geschrei kamen Hr.
Limberg, Hr. Lambert und die Schwester herbei und meinten sämtlich, daß
die Kranke sogleich sterben werde. Sie war auf keine Weise zu irgend einer
Besinnung zu bringen, röchelte, klemmte die Kienlade fest aneinander und
der Schaum trat ihr vor den Mund. In den Gliedern aber waren keine Zuckungen.
Die schreckliche Szene dauerte wohl eine Stunde, darauf kehrte etwas Besinnung
wieder, jedoch war die Kranke todschwach, bis sie, durch die hl. Kommunion
frühmorgens gestärkt, wieder zur vollen Besinnung und einigermaßen zu
Kräften gebracht wurde. Jetzt eben fand ich sie munter und sie unterhielt
sich eine Weile ohne Beschwerden mit mir, nur klagte sie über Zerschlagenheit
der Glieder. Abends war sie schwach, aber bei Vernunft."
Der Erstickungsanfall kann in den Zusammenhang mit der Lungentuberkulose
gebracht werden. Kann sein, muß aber nicht. Genauso deutlich ist hier
die hysterische Komponente. Die Verspannung des Kiefers und das Schlagen
von Schaum im Mund folgt exakt dem Bild eines tatsächlichen epileptischen
Anfalls. Der Schaum kommt dadurch zustande, daß die Zunge - ein großer
Muskel - während des Anfalls im Mund unkontrolliert zuckt und kreist,
dabei den Schaum aus Speichel schlägt.
A. K. Emmerick muß also für diese Darstellung ein entsprechendes Vorbild
gehabt haben. Und das hatte sie auch. Erinnern möchte ich an die Auflösung
des Tollhauses, das sich bis 1810 im Kloster Agnetenberg befand. In dieser
Einrichtung waren mit einiger Sicherheit epileptische und pseudoepileptische
Personen untergebracht. Von ihnen kann A. K. Emmerick ohne weiteres das
Krankheitsbild übernommen haben. Bezeichnend ist der Beginn ihrer Anfälle,
nämlich etwa vier Jahre vor Aufhebung des Kloster, also 1807/1808. Zu
dieser Zeit wurden noch "wahnsinnige Personen" im Kloster betreut.
Erstickungsanfälle und Erbrechen scheinen bei konvulsischen Paroxysmen
eine übliche Begleiterscheinung gewesen zu sein. Pierre Adolph Piorry
schildert in seinem neunbändigen Werk über Hysterie (1841 - 1851) den
Anfall eines Mädchens.
"Sehr häufig fährt die Frau während eines konvulsischen Anfalls
mit den Händen zum Hals, als wolle sie ihn aufreißen und einen Fremdkörper,
der sie erstickt, beseitigen (....) die Hysterikerin schlägt mit den Gliedmaßen
nach den Gegenständen in ihrer Umgebung und selbst nach dem Kopfteil ihres
Betts, in dem sie wie ein Gummiball auf und ab hüpft. (...) Man kann erleben,
daß ein schmächtiges, zartgliedriges junges Mädchen sechs kräftig gebaute
Männer, die sie festhalten sollen, im Handgemenge ins Schwitzen bringt.
Sie schluchzt, schreit, tobt, stammelt abgebrochene Worte hervor, führt
wütende Klagen, redet über Dinge, die ihr Verdruß bereiten, oder über
den Mann, den sie liebt (...)."
Eine andere Schilderung, welche die Systematik der Anfälle besonders
berücksicht, hat der französische Psychiater Pierre Briquet in seiner
Sammlung von 450 Fallstudien in den Jahren 1849 - 1859 gegeben.
Ein elfjähriges Mädchen fällt in einen hysterischen Zustand (ein Hund
hatte sie erschreckt), der zunächst drei Monate anhält.
"Am Ende dieses Zeitraums wandelt sich das Bild zu ungemein heftigen
chronischen Kopfschmerzen, Schmerzen im Bauch, Rücken und der linken Körperhälfte,
Beklemmungen Herzklopfen, anhaltendem Erstickungsgefühl, heftigem Erbrechen
jedweder Ingesta. Dann kommen periodische Anfälle von Lethargie hinzu,
die jedesmal vierundzwanzig Stunden dauern und nach dem Abklingen eine
so extreme allgemeine Schwäche hinterlassen, daß die Kleine ans Bett gefesselt
bleibt. Diese Symptome halten drei Jahre lang mit unverminderter Intensität
an."
Über die Parallelität zu den Paroxysmen der Emmerick braucht wohl kaum
ein Wort verloren werden. Die Erfindungsgabe der Hysterischen ist unerschöpflich,
schon Freud bemerkte, das sie zur Nachahmung jedweder Krankheit in der
Lage seien. Sie sind aber auch in der Lage, die einzelnen Symptome kreativ
abzuwandeln. Anna Katharina Emmerick erweiterte ihre Anfälle durch eine
originelle Variante der tonischen Krämpfe, dem Beten mit ausgestreckten
Armen:
"(...) Sie ist so schwach, daß sie weder stehen noch sitzen,
auch nicht einmal vernehmbar reden kann. (...) Sie hat oft Ohnmachten,
während deren ihr ganzer Körper steif wie ein Stück Holz ist. (...) Sie,
die vor Schwäche nicht einmal auf einem Stuhl sitzen kann, hat sich während
dieser Ohnmachten zuweilen im Bette auf die Kniee gesetzt und länger als
eine Viertelstunde mit stark ausgestreckten Händen gebetet; wenn sie zu
sich kommt, so weiß sie wohl, daß sie gebetet hat, aber nicht, in welcher
Stellung."
Hier wird neben den katatonischen Zuständen auch die Amnesie erwähnt,
die Ärzte bei ihren hysterischen Patienten nach solchen Ereignissen ebenfalls
beobachteten.
Eine weitere "paranormale" Erscheinung von gewisser Originalität
wären noch die scheintoten Zustände, die besonderen Anklang bei Romantischen
Literaten gefunden haben dürften (Scheintod war eines der großen Themen
der Romantik). Wesener berichtet darüber, daß sich Puls und Respiration
verloren und von direkten Scheintodanfällen. Auch dies sind Varianten
der "Starrsucht", für die es zahlreiche Parallelfälle gibt,
besonders im Amerika des 19. Jahrhunderts um den Ersten Weltkrieg herum.
Einer dieser skurrilen Vorfälle sei noch kurz zitiert:
"Sie sagte zu mir: 'Gleich werde ich einen Anfall haben. Fühlen
Sie mal meinen Puls. In ein paar Minuten bin ich tot.'
Ihr Puls, der zuvor bei hundert gelegen hatte, raste jetzt so schnell,
daß man mit dem Zählen gar nicht mehr nachkam, während Regellosigkeit
und Heftigkeit der Herztätigkeit mir einfach unfaßlich erschienen. Mit
dem Enthusiasmus der Hysterika für ihre eigenen Darbietungen sagte sie
zu mir: 'Und jetzt passen Sie gut auf - Sie werden staunen.'
Und in der Tat, ich staunte nicht schlecht. Nach wenigen Minuten begann
die Pulsfrequenz zu fallen und (...) lag nach etwa einer Viertelstunde
bei bloßen vierzig Schlägen. Immer mal wieder fiel jetzt ein Schlag aus.
Unterdessen wurde der Puls schwächer und schwächer, bis schließlich weder
ein Puls zu tasten noch ein Herzschlag zu hören war. In diesem Scheintod-Zustand,
bleich und reglos, ohne wahrnehmbare Atemtätigkeit noch Blutzirkulation,
konnte die Frau zwei bis vier Tage lang liegen bleiben."
Die Anfälle der Emmerick vermischten sich in der Regel mit dissoziativen
Geisteszuständen. D. h. abgespaltene (dissoziative) innere Erlebnisinhalte
wurden losgelöst von tatsächlichen Beziehungen zu sich selbst und anderen
entäußert. Diese Inhalte (Gefühle, Gedanken, Einstellungen) können nebeneinander
ohne logischen Bezug bestehen bleiben. Häufig sind Personen in solchem
Zustand hoch suggestibel. Eine der suggestiblen dissoziativen Zustände
habe ich schon im Somnambulismus geschildert. Dissoziative Zustände reichen
in Extremformen bis zur gespaltenen Persönlichkeit, der sogenannten multiplen
Persönlichkeit. In diesem Falle existieren in einer Person mehrere voneinander
unabhängige Personen. Im Falle Anna Katharina Emmerick ging die Suggestion
in eine homogene Richtung, andere als religiöse Betrachtungen wurden kaum
von ihr verlangt, denn ihr engerer Umgang war auf den Kreis religiös orientierter
Menschen beschränkt. Hier noch eine letzte Schilderung eines hysterischen
Anfalls mit dissoziativen Zuständen:
"Es unterscheiden sich in den ekstatischen Zuständen der Kranken
deutlich drei verschiedene Arten. Die erste habe ich schon erwähnt, es
ist jener allgemeine Tetanus, wo ihr Körper einer Bildsäule gleich dalag
und spezifisch schwerer zu sein schien. Die Schauungen in diesem Zustande
waren Allegorien moralischer und religiöser Gesetze, Bilder über das Verhältnis
der Menschen zu Gott und untereinander, auch Handlungen im Geiste an den
entferntesten Orten der Welt. ... Da sie aber in diesem Zustande das Wesen
der Dinge anschaute, so litt sie manchmal in demselben die schrecklichsten
Qualen, welche sich in ihrer Physiognomie ausdrückten, wenn ihr z. B.
der Greuel der Sünde vor Gott und das unnennbare Elend jener Menschen,
die freiweillig sich ins Verderben stürzen, gezeigt wurde.
Der zweite Zustand der Geistesabwesenheit war dem vorigen gerade entgegengesetzt.
Er schien ein Zustand himmlischer Beseligung zu sein. Ihr Körper war federleicht,
alle ihre Gelenke waren so schlaff und biegsam, daß man beim Anfühlen
meinte, sie fielen auseinander. Ihr Gesicht war unbeschreiblich heiter
und sie erwachte ganz erquickt aus diesem Zustande. Dieser letzte Zustand
war der seltenste, ich habe ihn in den letzten zwei Jahren meiner Beobachtung
gar nicht mehr gesehen. Sehr merkwürdig waren zwei Dinge in den beschriebenen
beiden Zuständen, nämlich die gänzliche Unempfindlichkeit für alle Sinneseindrücke,
kein Rufen, kein Rütteln, kurz nichts war im Stande sie in's wachende
Bewußtsein zurückzurufen als der Befehl eines geweihten Priesters. ...
Ihren dritten Zustand halte ich dem wahren Traume gleich. Er trat fast
nur in der Nacht ein, doch scheint er auch am Tage manchmal fortgewährt
zu haben, wenigstens war ihre Geistesabwesenheit oft nicht zu verkennen,
indem sie unzusammenhängend sprach und sich oft von dem Gesprochenen und
von den Personen, womit sie gesprochen, nachher nichts zu erinnern wußte.
Dieser Traumzustand war faßt ausschließlich dem Leben Jesu gewidmet."
So ganz nebenbei vermerkt Overberg (s. o.) eines der Hauptsymptome der
klassischen Hysterien, das sogenannte Astasie - Abasiesyndrom:
Der kleinste gemeinsame Nenner aller hysterischen Lähmungen im 19. Jahrhundert
war die Störung des Steh- und Gehvermögens (Astasie - Abasie). Im Ärztejargon
sollte sich später die Wendung von den horizontalen Fällen etablieren.
Die Pandemie der hysterischen Lähmungen begann bereits Ende des 18. Jahrhunderts,
vermutlich unter Mitwirkung des Mentalitätswandels und der zivilisatorischen
Einschränkungen, die Norbert Elias eindrucksvoll beschreibt.
Über den Beginn der Geh- und Stehunfähigkeit der Emmerick berichtet Wesener:
"Unsere Kranke wurde täglich hinfälliger, wie ein Schemen schlich
sie von der Kirche in ihre Wohnung und in dieser herum, und gegen Weihnachten
1812 wollten ihre Füße sie nicht mehr tragen. Durch die gewöhnlichen Erquickungsmittel
brachte sie ihr Brotherr (der Pater Lambert, dem sie den Haushalt führte)
jedoch noch einmal wieder auf die Beine. Aber um Faßtnacht 1813 fiel sie
gänzlich und blieb nun bis zu ihrem Tode in dem Bett gebannt. Merkwürdig
ist, daß ihre Katamenen (Periode) bis zu Anfang dieser Krankheit (Weihnachten
1812) immer noch regelmäßig, obgleich schwach flossen, dann aber nie wieder
erschienen"
Kurz rekapituliert: Nov. 1811 Aufhebung des Klosters, Frühjahr 1812 Auszug
aus demselben zu Lambert, im Spätsommer beginnen Blutungen, zwischen Weihnachten
und Neujahr 1812 beginnen die Stigmata zu bluten. Zwischen Weihnachten
1812 und Faßnacht 1813 hatten sich die Symptome also voll ausgebildet.
Gleichzeitig verschwinden die Katamenien. Hieraus einen Schluß zu ziehen
ist zugleich schwierig als auch einfach. Einerseits kann es sich um eine
verzögerte Reaktion auf die Klosterschließung handeln; der Schutzraum,
der Anna Katharina Emmerick gegen weltliche Anforderungen abschirmte war
zusammengebrochen. Freilich hatte sie dort schon kein angenehmes Leben,
im Gegenteil; alles was aus dieser Zeit berichtet wird, riecht nach hysterisch
- somatisiertem Protest. Der Zeitraum zwischen den Ereignissen, also zwischen
Auszug aus dem Kloster und Weihnachten, immerhin neun Monate ist jedoch
ungewöhnlich lang. Aus den Berichten lassen sich keine neuen oder zusätzlichen
Belastungen oder Veränderungen entnehmen. Etwas muß dazugekommen sein,
was die Symptombildung aktiviert hat. Darüber läßt sich nur spekulieren,
möglich ist, daß nach dem Kollusionsmodell die Beziehung mit Lambert die
Flucht in die Krankheit befördert hat. Möglich auch, daß sexuelle Wünsche
gegen Lambert die Symptombildung begünstigten. Im Jahr 1812 ist jedenfalls
der Schlüssel für die neue Symptombildung zu suchen.
Kehren wir zu den Lähmungserscheinungen zurück. Zugrunde liegt ihnen
wie allen hysterischen Symptomen eine Vorstellung, die eines imaginären
Körpers, dem im Vergleich zum realen Körper eine Funktion fehlt. Genauso
gut könnte man sich aber auch einen imaginären Körper denken, der sich
gerade von den Funktionen oder Lasten befreit hat, die der reale Körper
auf sich nehmen muß. In jedem Fall aber besteht ein Unterschied zwischen
diesem imaginären Körper und dem, der dem Menschen von der Natur auferlegt
ist. Es kommt einem der Gedanke, eine der Forderungen der Hysterikerin
könnte vielleicht darin bestehen, von den "natürlichen" Aufgaben
des Körpers befreit zu sein, also eine Forderung nach größerer "menschlicher"
Freiheit im Vergleich zur "Kreatur".
Stigmata
Was sich in diesem Traumkörper noch lesen läßt, ist bei den Anästhesien
deutlicher als bei den Lähmungen. Auch für die Anästhesien ließe sich
sagen, daß sie zu beschreiben unmöglich ist. Alle Lokalisierungen, Formen
oder Intensitätsgrade können vorkommen. Deshalb braucht man auf die Unterscheidung
zwischen Dys- und Parästhesien (Sensibilitätsstörungen, bei denen Reize
qualitativ anders und unangenehm empfunden werden; Dysäst. betr. äußeren
Reiz z. B. Berührung, Paräst. subjektive Empfindung wie Kribbeln u. ä.)
nicht einzugehen. Ein entscheidendes Charakteristikum gibt es aber. Man
hat es bei den Untersuchungen über die Hysterie nicht sofort hervorgehoben,
und wenngleich es schon die Autoren des 19. Jahrhunderts bemerkt hatten,
so wurde die Tragweite dieser Besonderheit doch erst in unseren Tagen
erkannt. Solange man nämlich die Theorie der Hysterie nur auf eine anatomische
Grundlage stellte, konnten manche Symptome den Beobachter allenfalls stutzig
machen; meist jedoch führte das dazu, sie zu vernachlässigen. Beim Studium
der Hemianästhesien war aufgefallen, daß die Grenzlinie der anästhetischen
Zone genau der Körpermitte entlang lief. Dann fand man auch bei den partiellen
Anästhesien eine glatte Begrenzung, die weder einer peripheren Nervenbahn
oder einem zentralnervösen Muster entsprach, noch zu irgendeiner Metamerie
passen wollte. Die Grenzlinien schienen wie bei Kleidungsstücken zu verlaufen,
woraus die bildhaften Benennungen entstanden: Handschuh-, Strumpf-, Gürtel-,
Manschette- oder Gamaschenanästhesie. Man findet eine scharfe Grenzlinie
auf der Haut, eine regelrechte Amputationslinie, geradezu eine Aufforderung,
sie nachzuschneiden.
Anästhesien an Hautmalen sind schon im Mallaeus maleficum als "Hexenmale"
benannt. Diese Hexenmale seien die Folgen satanischer Berührungen. In
der Prüfung durch den Inquisitor, ob es sich um Hexenmale handelt, wird
genau unterschieden. Mit Krätze oder Flechten werden diese Punkte nicht
verwechselt, weil hier nur die Krusten unempfindlich sind. Aussatz und
Lähmungen werden ausgeschieden, indem die Geprüften mit Nadeln gestochen
werden. Tritt Blut hervor, handelt es sich um kein Hexenmal, erscheint
jedoch kein Blut ist dies ein unzweifelhafter Beweis. Eine besondere Beziehung
von diesen "Hexenmalen" besteht zu Stigmata, weil es sich auch
hier um cutane Phänomene handelt, die lokale sensorische Abweichungen
zeigen, jedoch verbunden mit sekretorischen Anomalien.
Sensorische Auffälligkeiten zeigten sich auch an den Hautdefekten der
Emmerick. Die Stigmata bereiteten ihr immer wieder starke Schmerzen, im
Sinne von Dysästhesie und Parästhesie, d. h. starke Schmerzen traten an
den Hautdefekten ohne äußeren Reiz als auch durch Berührung auf.
Hysterogene Hautblutungen sollten nach oben Geschildertem kaum noch verwundern.
Im 19. Jahrhundert wurden sie für vicariierende Menstruationen bei Ämenorrhoe
gehalten. Man kann zwei verschiedene Arten solcher spontanen Blutungen
unterscheiden: einmal das Erscheinen von Blutströpfchen auf der Haut,
sodann die Bildung von Blutblasen, welche anfänglich eine wässerige, dann
blutig gefärbte Flüssigkeit enthalten und später aufbrechen. Diese Beschreibung
stimmt exakt mit denen der kirchlichen Untersuchungskommission im Falle
Emmerick überein. Das, was von einer gewöhnlichen psychosomatischen Hautblutung
zur Stigmatisation dazukommen muß, ist die oben von Israel genannte Grenzlinie.
Solche Grenzlinien gelten in besonderem Maße für religiös inspirierte
Vorstellungen des Körpers. Die wichtigsten Punkte am Körper Christi sind
die in der Kunst ikonographisch hervorgehobenen Wundmale. Eine Person
wie die Emmerick, deren Selbstrepräsentanz an den Leiden Christi orientiert
ist, hatte alle Voraussetzungen an diesen Punkten Erscheinungen hervorzubringen.
Die Einordnung der Stigmatisation als Teil der hysterischen Phänomene
wird von allen Autoren, die sich zur Hysterie äußern, zugestanden. Umgekehrt
wird auch von katholischen Spezialisten, namentlich Schleyer und Thurston,
die Psychogenie eingeräumt. Bei Anna Katharina Emmerick ist das nicht
zu übersehen. Unter dem Eindruck der nahenden staatlichen Untersuchung,
der sich unausweichlich verdichtenden Realität, versiegten die Blutungen.
Eine weitere Vermutung liegt nahe, nämlich daß sie der Überforderung durch
Brentanos Zudringlichkeit überdrüssig ist, sie die Ursache der unangenehmen
Folgen unterdrückt.
Fast alle Stigmatisierten boten ein ähnliches, beinahe identisches Krankheitsbild.
Es handelte sich fast ausschließlich um Frauen aus einfachem Milieu, oft
Bauerntöchter. Bei fast allen sind einschneidende lebensgeschichtliche
Traumata nachzuweisen. Alle boten eine breite Palette hysterischer Symptome
dar, allen ist das Auftreten des großen hysterischen Anfalls mit Dissoziationserscheinungen
gemeinsam. Alle hatten massive Eßstörungen, die weit über das im Kloster
übliche Maß hinausgingen.
Insofern kann man bei Stigmatisierten von einer speziellen religiös geformten
Hysterie sprechen.
Ein besonderes Merkmal der religiösen Hysterie ist das veränderte Eßverhalten..
Die Störung des Eßverhaltens in Form von Extremfasten ist fast allen Stigmatisierten
gemein. Der Verzicht auf Ernährung bedeutet diesen Personen die völlige
Kontrolle über ihren Körper zu gewinnen und damit sich und ihrer Umwelt
ihre Autonomie beweisen. Die Anorexie stellt eine Reaktion auf orale Triebimpulse
dar, diese werden aber nicht notwendigerweise unterdrückt. Die anorektischen
Frauen nehmen ja häufig Nahrung zu sich, können oder besser wollen diese
aber nicht "bei sich behalten" (im wahrsten Sinne des Wortes),
sie erbrechen sich also. Lediglich Nahrung mit Symbolgehalt (Hostie) nehmen
sie wirklich an, bestreiten damit ihren meist äußerst niedrigen Energieumsatz.
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