Krise im ausgehenden 18.Jahrhundert
Die Entwicklung hin zum romantischen Weltbild, weg von der Aufklärung
ist nicht sprunghaft vor sich gegangen. Die allmähliche Veränderung des
Denken bewirkten die sozialen und wirtschaftlichen Krisen in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ursächlich für die gesellschaftlichen Krisen
war in erster Linie die Bevölkerungsvermehrung, mit der das wirtschaftliche
Wachstum nicht schritthielt. Kennzeichnend für die vorrevolutionäre Zeit
ist die allgemeine Verarmung und ein Anwachsen der Städte. Für das Bürgertum
bedeutete das Wachstum der Städte, ohne daß sich zugleich deren wirtschaftliche
Kraft erhöhte, eine enorme Konkurrenz untereinander, wobei die Gefahr
von Verarmung und sozialer Deklassierung jederzeit gegeben war. Hemmend
für jede "vernünftige" Lösung der Krise im Sinne der Aufklärung
war die politische und gesellschaftliche Vorrangstellung des Adels, der
seinen Lebensunterhalt vor allem aus den Renten seiner agrarischen Güter
sicherte und am Verteilungskampf nur insofern beteiligt war, daß er seine
privilegierte Stellung politisch verteidigen mußte. Die höfische Kultur
hatte inzwischen jegliche Ausdruckskraft eingebüßt. Die bürgerliche Kunst
rang zwar noch immer mit den höfischen Manierismen, hatte sich gegen 1800
aber endgültig durchgesetzt und diktierte den Zeitgeschmack.
Die Entmachtung des Adels in der Französischen Revolution und die damit
verbundene Emanzipation des Bürgertums war für Deutschland aus vielerlei
Gründen kein praktisches Modell. Die französischen Ereignisse haben sich
insofern in Deutschland niedergeschlagen, daß die alleinige Herrschaft
des Adels erschüttert war, der Spielraum des Bürgertums in wirtschaftlichen
Angelegenheiten und insbeondere im Kulturellen erweitert war. An der politischen
Vorherrschaft des Adels hatte sich aber grundsätzlich nichts geändert.
Die Unauflöslichkeit der bedrückenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse
in Deutschland bewirkte, quasi als Ersatz einer tatsächlichen Lösung,
die Flucht in Innerlichkeit und ins Übernatürliche. Ganz allgemein ist
eine Wendung hin zu Metaphysik, Mystik und Religion zu verzeichnen, wenn
auch die Spätaufklärung noch die offizielle Kultur in Preußen bestimmte.
Während die Revolution sich ganz auf die Aufklärung bezog, ihren künstlerischen
Ausdruck im Heroischen und in der Klassik fand, entwickelte sich im deutschen
Bürgertum, nach einer kurzen Phase der Anlehnung an die französischen
Ideale, eine zunächst spezifisch deutsche Kunstrichtung, die Romantik.
Literarische Romantik
Die Romantik war ursprünglich eine literarische Bewegung, folgend, anknüpfend
und sich abgrenzend von der vorangegangenen Sturm und Drang Episode. Ihr
Name ist abgeleitet von der literarischen Gattung des Romans und meint
das Unwahrscheinliche und Phantastische, das im 17. Jh. diese Literaturgattung
prägte, ebenso war auch das Empfindsame, Gefühlvolle, ja Stürmische intendiert.
Die Romantik war eine Geisteshaltung, die fast alle Gebiete der Künste
und des Wissens ihrer Zeit beeinflußte. Das ganze 19. Jahrhundert war
künstlerisch von der Romantik abhängig, die Romantik selbst aber war noch
ein Produkt des 18. Jahrhunderts und hatte das Bewußtsein des Übergangscharakters
und ihrer problematischen historischen Stellung nie verloren. Zeitlich
bildete die Romantik einen Schwerpunkt etwa zwischen 1797 bis 1830, wobei
einzelne Kunstdisziplinen, - etwa die Musik bis zum ersten Weltkrieg -
länger romantisch geprägt bleiben.
Herausragende Autoren waren an allererster Stelle Schelling mit seiner
Naturphilosophie und Friedrich Schlegel, um den sich später die Jenenser
Gruppe des Athenaeum scharen wird. Die Gruppe um die Zeitschrift Athenaeum
war die einzige, die philosophisch "sympathetisierend" nach
außen wirkte und eine gewisse einheitliche Richtung zustande brachte.
Die Romantik war kein philosophisch geschlossenes System, wie es die Aufklärung
darstellte, sondern eine künstlerische Bewegung, die wie ein Flickenteppich
aus verschiedensten Ansätzen zusammengeflickt war. Ihre Protagonisten
arbeiteten mehr oder minder individuell, wenn auch das universitäre Milieu
ihre gemeinsame Grundlage bildete.
Die verschiedenen Phasen der Romantik unterscheiden sich deutlich, wenn
auch generalisierende Aussagen schwer zu treffen sind. Die Frühromantik
charakterisiert sich durch literarische Gruppenbildung (Jena / Berlin:
Gebr. Schlegel, Tieck, Wackenroder, Novalis - Hardenberg, Dorothea Veit,
Jean Paul um die Zeitschrift "Athenäum") während in ihrer Mitte
(1801 - 1815) eher "dezentrierte Zentrenbildung" anzufinden
ist. Dezentrierte Zentrenbildung meint, daß von verschiedenen Zentren,
meist Universitätsstädten wie Jena, Bamberg, Göttingen, Marburg oder Heidelberg
aber auch Dresden und Wien produktive Impulse ausgingen, ohne daß eines
dieser Zentren eine Priorität für sich beanspruchen konnte. In der literarischen
Produktion treten romantische Autoren wie Kleist, Brentano, Arnim, Gebr.
Grimm oder E.T.A. Hoffmann hervor. Die ausmäandernde Spätromantik geht
ab 1815 in das restaurative "Biedermeier" über, einer Zeit der
politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Stagnation. Hier stehen
deutlich restaurative, nationale und konfessionelle Ideen im Vordergrund.
Weitgehend ist die Romantik eine Generationserscheinung gewesen, denn
ihre Vertreter gehörten der gleichen Generation an, derjenigen, die um
die Jahrhundertwende zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt war. Vielleicht
kann man die Romantik am besten als erste deutsche Jugend- und Protestbewegung
verstehen. Ihr Protest richtete sich künstlerisch gegen die Erstarrung
der Spätaufklärung, in der jegliche Lebendigkeit, also Subjektivität,
Spontaneität verloren war. Vor allem war es aber die bürgerliche Jugend,
die auf das Recht einer eigenen Kultur pochte.
Die literarische Jugend scherte sich wenig um spätaufklärerische Bildungsideale,
die noch in Sturm- und Drang Dramen Schillers und Herders bestimmend waren.
Wesentlich für die Romantik ist die Absage an die Aufklärung, in der geistige
Systematik, Naturbeobachtung und enzyklopädisches Wissen Voraussetzung
waren. Die Romantiker verstanden sich geradezu als Gegenprojekt zum Modell
der "reinen Vernunft" und der antikisierenden Klassik. Als künstlerische
Bewegung charakterisiert sich die Romantik durch das subjektive Moment,
das Hervorheben des Individuellen und durch das Ersetzen des Vernunftprinzips
durch die schöpferische Willkür. Im Mittelpunkt der romantischen Kunstauffassung
steht die Empfindung und das Unbewußte, Natur wird zur Metapher des Unverdorbenen
im Gegensatz zur "philisterhaften" Zivilisation. Selbstentdeckung,
Selbstreflektion ist im Gewande unzähliger Gedichte, Erzählungen und Romane
das Leitmotiv der Bewegung. Die Seele wird erstmalig zur weltlichen Instanz,
wobei die Spätromantik jedoch zum religiösen Sinngehalt zurückkehrt. Die
Entdeckung der Seele, genauer des Unbewußten, als Kern des Individuums
kann als die epochale Leistung der Romantik angesehen werden. Seele als
Lebendiges, als Prozess, als Agens des Seins setzt aber vor allem den
Willen und die Fähigkeit zu erinnern voraus. So erscheint, quasi als Vorgriff,
1785 der erste psychologische Roman "Anton Reiser" von Karl
Philipp Moritz. Diesem Vorbild werden dann zahlreiche weitere folgen,
für die Romantiker besonders prägend "Wilhelm Meisters Wanderjahre"
von Johann Wolfgang von Goethe. Moritz und Goethe waren nun freilich keine
Romantiker, Goethe distanzierte sich von ihnen entschieden.
Die Romantik lebte aber geradezu von der Konkurrenz zu Spätaufklärung
und Weimarer Klassik, in dem sie sich als Gegenmodell profilieren konnte.
Der Idealisierung der klassischen griechischen Themen, die allgemein als
erstarrt und festgelegt empfunden wurden, andererseits eine immense Bildung
verlangten, setzten die Romantiker mehr zeitgemäße Regungen der Seele
entgegen. Zeitgemäße, immer wieder aufgegriffene Motive waren das Unheimliche,
Sehnsucht, Ganzheitlichkeit, sie finden sich in fast allen Werken der
Romantiker.
Rückwärtsgewandtheit der Romantiker war Progamm. Erinnern war ihnen,
das Eigentliche finden. So nimmt nicht wunder, daß die Romantiker mit
der Wiederentdeckung der nationalen Vergangenheit Besonderes leisteten.
Vergangenheitssuche war ihnen nicht Legitimation von Herrschaftsansprüchen,
sondern Suche nach Wahrhaftigkeit und Identität. Sehnsüchtig wurde das
katholische Mittelalter als eine Zeit ursprünglicher Harmonie verklärt,
die wiedergefunden werden sollte. Das Mittelalter galt als ganzheitliches
Ideal, weil in ihm eine universelle Kirche in einem universellen Staat
vereinigt war, die Gesellschaft wohlgeordnet schien. Als Reaktion auf
die Verwerfungen der Französischen Revolution und ihrer Auswirkungen auf
Deutschland gewann die Idee eines Nationalstaates an Attraktivität. Im
"Volk", besonders im Nationalvolk meinte man ebenfalls eine
natürliche Harmonie zu finden, allerdings erst, nachdem Napoleon mit seiner
Gewaltherrschaft das geeinte christliche Europa als romantische Idee zerschlagen
hatte. Künstlerischen Ausdruck fanden diese Strömungen zunächst in der
"Kunstvolksdichtung". Ein Zentrum dieses neuen Genres wurde
Heidelberg, wo Brentanos und Arnims "Des Knaben Wunderhorn"
erschien, aber auch Görres und die Gebrüder Grimm eifrig "Teutsche
Volksbücher" und deutsche Volksmärchen sammelten.
In fast allen Erklärungsversuchen erscheint die Romantik als etwas Quecksilberhaftes,
der Begriff ist kaum zu fassen, er widersetzt sich oder er zerfließt sogleich.
Schon den Romantikern selbst schien das Phänomen schwer zu beschreiben,
Schlegel meinte zur Erklärung der Romantik 125 Druckbogen zu brauchen.
Selbst das Handbuch der Romantik ist mehrere hundert Seiten stark, ohne
den Anspruch zu erheben, die Romantik vollständig zu erfassen und übt
sich in Bescheidenheit, indem es sich als ein Projekt in Arbeit darstellt.
Hierin stimmt es mit Carus überein, der darauf hinwies, daß dem Romantischen
immer die Abgeschlossenheit fehlen wird, daß immer noch auf ein Weiteres,
auf ein Fortschreiten gedeutet würde.
Mentalitätswandel und Wunderglaube
"Der Romantiker ist im wesentlichen durch seine Wundergläubigkeit
gekennzeichnet. Alle anderen Charakterzüge lassen sich davon ableiten.
Die Vorzüge, die er dem Gefühl der Intelligenz, der Inspiration vor der
Arbeit, der Revolution vor der Reform gibt, sind nur verschiedene Ausdrucksformen
dieses Glaubens. Eine derartige Geisteshaltung ist zweifellos nicht neu;
man begegnet ihr zu allen Zeiten bei bestimmten Individuen und in bestimmten
Bereichen; doch am Ende des 18. Jahrhunderts manifestiert sie sich in
Preußen bei der gesamten Jugend und auf fast allen Gebieten"
Die übernatürliche Deutung des Lebens ist geradezu eine charakteristische
Reaktion auf Krisenerscheinungen, die individuell oder kollektiv nicht
bewältigt werden können; das betrifft die Zeit um 1800 genauso wie moderne
Zeiten. Um 1800 war diese Auffassung allgemein. Ob es sich um Religionen,
Hygiene und Gesundheit, Mode oder Sitten handelte, immer und überall bestand
starkes Interesse an obskuren Lösungen.
Spätaufklärung und Scharlatanerie
Die Wundergläubigkeit des 18. Jahrhunderts nahm teils skurile Züge an,
der Scharlatanerie war Tür und Tor geöffnet. Aufklärung und Wunderglauben
existierten nebeneinander. Nur gelang es der übernatürlichen Deutung des
Lebens nicht ohne weiteres, sich als vorherrschende Mentalität zu etablieren.
Exemplarisch für die Wundersüchtigkeit des späten 18. Jahrhunderts ist
die Geschichte des Hochstaplers und Betrügers Joseph Balsamo, der als
Graf Cagliostro bekannt wurde, welcher in ganz Europa, in seinen besten
Zeiten in Paris, sein Unwesen trieb. Er produzierte ein Lebenselexier,
magnetisierte, hypnotisierte und erleichterte einige Seigneurs, deren
Bekanntschaft er auf seinen Reisen und in Pariser Kreisen machte. Cagliostro
gründete eine Loge, in der dreißig Stufen der Hierarchie erklommen werden
sollten. Von den Logenbrüdern und -schwestern sammelte er - wie sollte
es anders sein? - Spenden ein. Die Affaire um eine Kette, die der Kardinal
Rohan 1785 für die Königin Marie Antoinette bestellt haben soll, bei dieser
aber nie eintraf, leitete den Abstieg des Betrügers ein. Cagliostro war
in die Affaire verstrickt, er stand dem Kardinal sehr nahe. Ob nun er
den Betrug angezettelt hat und ob er der Nutznießer des 600.000 Livres
teuren Bubenstücks war, bleibt offen. Cagliostro, der Kardinal und die
Vertraute der Königin und Rohans, Gräfin de la Motte, verschwanden fürs
erste in der Bastille. Der Betrüger wurde 1791 durch die Inquisition zu
lebenslänglicher Haft verurteilt und starb dort 1795.
Für den Zusammenhang mit Anna Katharina Emmerick ist wichtig, daß Cagliostro
sich einer Methode bediente, die obwohl obskur, gerade Konjunktur hatte:
dem Mesmerismus. Die Heilmethode des "animalischen Magnetismus"
geriet wegen des häufigen Mißbrauchs, u. a. Cagliostros, in Mißkredit.
Um das Besondere des Betrügers Cagliostro gleich zu relativieren möchte
ich kurz auf zahlreiche moderne Parallelen hinweisen, z. Zt. etwa den
Hochstapler "Johannes von Buttlar", der allerdings mehr zu astronomischer
Schwärmerei neigt. Für plumpe Betrügereien steht Uri Geller, der gerade
einmal Löffel verbiegen konnte. Raffiniertere Methoden sind bei amerikanischen
Wunderheilern zu finden, vor allem aus dem Milieu amerikanischer Erweckungsbewegungen,
die mit suggestiven Methoden "heilen" und einen enormen finanziellen
Gewinn erzielen. Die "Wunderheilungen" werden durch das Fernsehen
der Öffentlichkeit präsentiert und unterstreichen den missionarischen
Anspruch dieser Sekten. Auch sie heilen per Suggestion, wenn sie nicht
sogar auf direkten Betrug zurückgreifen; teils verschmelzen die Methoden.
Zumindestens um 1880 - 90 war die Spätaufklärung noch in der Lage, sich
des aufkommenden Wunderglaubens zu erwehren. Zu Cagliostro erschienen
zahlreiche Veröffentlichungen, die den Betrüger bloßstellten. Zur Illustration
hier ein Zitat aus einer Schrift zum Fall Cagliostro von der russischen
Kaiserin Katharina persönlich:
"Obwohl unser Jahrhundert", heißt es da, "von allen
Seiten das Kompliment erhält, das philosophische Jahrhundert zu heißen,
und obwohl wir demselben das große Wort "Aufklärung" schon zum
voraus zur Grabschrift bestellen: so werden dennoch überall eine Menge
Köpfe von einem so anhaltenden Schwindel ergriffen, daß die Göttin der
Weisheit sich genötigt sieht, die komische Muse um Arzenei für diese Kranken
zu erbitten. Man mögte seinen eigenen Augen nicht trauen, so oft man lieset,
was für wunderbare Dinge um und neben uns vorgehen. Man zitieret Geister,
man sieht durch dicke Wände, hält Klubben mit Verstorbenen, distilliert
Universaltinkturen und präserviert sich auf ewig gegen den Tod - man schmiedet
Diamanten, kocht Gold, trägt den Stein der Weisen schon in der Tasche,
zaubert ohne weitere Umstände den Mond herab und reißt die Welt aus ihrer
Achse. Tierischer Magnetismus und Kabbala, Desorganisation und Mystik
sind aus Worten zu Ideen geworden, die dem Scharfsinn zum Wetzstein dienen.
Und die Depositäre dieser Wundergaben versammlen nicht etwa die leichtgläubige
Menge um eine Jahrmarktsbude, nein, Mesmer, Cagliostro und Compagnie sehen
sich in geschmückten vollgedrängten Assembleen; - die Pariser Welt hascht
ihnen ein Geheimnis nach dem andern weg, und verschickt die Pariser Puppe
so eiligst als möglich nach allen Residenzen zum angestaunten Modemodell
u. f. Dazu schüttelt nun freilich wohl die wahre Philosophie den Kopf
und legt nicht immer den Finger auf den Mund; aber ihre leise Stimme wird
nicht überall vernommen; man hört eben auf zu megnetisieren, und fängt
mit dem Herrn Marquis von Puysegur an, zu desorganisieren. Erst mußten
die Akademisten zu Paris in Atem gesetzt werden, ehe Mesmers Heiligenschein
verschwand; Kardinal Rohan mußte erst denVerhaftsbefehl lesen, ehe er
und halb Paris mit ihm sich überzeugen konnte, daß ihn Cagliostro nicht
wirklich mit Heinrich dem Vierten zu Abend hatte speisen und die Nacht
über in Cleopatras Armen schlummern lassen; Bayern mußte erst Männer in
ansehnlichen Posten auf die Wanderung senden, ehe es in den Köpfen Tag
ward, Berlin mußte seinen Philosophen volle Arbeit geben, um nachbarlichen
Philosophen Behutsamkeit anzuempfehlen. Der glückliche Norden bedurfte
dieser mächten Anstalten nicht, ein lachendes Lustspiel reicht hin, die
schwindelnden Köpfe zu heilen und die gesunden auf immer zu präservieren.
Das bezauberte Schloß, gegen welches andrer Orten Justiz und Philosophie
mit Katapulten und Ballisten anzieht, wird hier mit Knallpulver des Witzes
gesprengt."
Ähnlich wie in dieser Affaire ging es u. a. auch bei der Dülmener Nonne
um die grundsätzliche Auseinandersetzung von Wunderglaube und Aufklärung,
nur daß im Dülmener Fall sich die Kräfte der Vernunft nicht mehr lautstark
artikulierten. Für die aufgeklärte Position stand die preußische Regierung,
die das Dülmener Wunder nicht ausschließlich wegen der politischen Wirkung
untersucht wissen wollte, sondern auch das Primat der Vernunft gesichert
sehen wollte. In Berlin hatte mit der französischen Besatzungszeit ein
Mentalitätswandel stattgefunden. Obskure Ideen hatten den kritischen Geist
der Spätaufklärung unterminiert. Trotzdem hatte sich mit den preußischen
Reformen die von der Spätaufklärung geprägte Generation in den Institutionen
des Staates etablieren können. Die Zeitschrift, die dieses Denken repräsentierte,
war die "Berlinische Monatsschrift, deren Erscheinen jedoch bezeichnenderweise
1792 eingestellt wurde. In dieser Zeitschrift wurden genau die gleichen
Themen behandelt wie später im "Museum des Wundervollen", jedoch
mit gänzlich anderen Intentionen. Die Autoren waren scharf antikatholisch
(so gab sich ein Autor das Pseudonym "Akatholikus") und rundherum
religionskritisch. Die Monatsblätter befaßten sich fortwährend und aufklärerisch
mit Aberglauben, Religion, Hexen und "paranormalen Phänomenen".
Nach den Befreiungskriegen war von dieser offenen und kritischen Geisteshaltung
kaum noch etwas zu spüren. Ein Grund für die Wundergläubigkeit mag darin
liegen, daß das wissenschaftliche Interesse der Spätaufklärung eine Fülle
von Ergebnissen zeitigte. Dies allein kann aber nicht als alleinige Ursache
der Wundergläubigkeit angesehen werden, weil die Empfänglichkeit für übernatürliche
Deutungen weit über die übliche Sensationslust hinausging. Der Ausbruch
von Leichtgläubigkeit und Sentimentalität hätte wenige Jahrzehnte zuvor
als lächerlich gegolten.
Ein Beispiel: das Glücksspiel
Ein Phänomen des sich ausbreitenden Wunderglaubens war der allgemeine
Erfolg des Glückspiels, insbesondere der staatlichen Lotterien. Friedrich
II. unterzeichnete am 8. Februar 1763 das Patent, das die Zahlenlotterie
einführte. Mit den Einnahmen gedachte der König die Staatsfinanzen aufzubessern,
die durch den Siebenjährigen Krieg arg in Mitleidenschaft gezogen waren.
Doch daraus wurde vorerst nichts. 1765 ging die Finanzgesellschaft, die
als Pächter der preußischen Lotterie auftrat, mangels Nachfrage in den
Konkurs. Lief dieses Geschäft Mitte des 18. Jahrhunderts eher schleppend,
nahmen Ende des Jahrhunderts alle Schichten an diversen Veranstaltungen
teil. Ab 1770 war der Erfolg gesichert. 1776 bezog der Staat 40.000 Taler
Pachtgewinn, im Jahre 1796 wuchsen die Staatseinnahmen aus der Pacht auf
467.000 Taler. Hinter dem ansteigenden Interesse am Glückspiel stand -
wie heute - die Hoffnung, dem Leben durch ein Wunder eine jähe Wende zu
geben. Die Lebenserfahrung zeigte, daß durch eigene Kraft das Leben nur
geringfügig in bessere Bahnen zu bringen sei. Die geringe Mobilität innerhalb
der Gesellschaft ließ einen Aufstieg aus eigenen Kräften kaum zu. Gleichwohl
war die Gefahr aus der sozialen Bahn geworfen zu werden, ein Abstieg in
die Armut, sehr real. Der Sieg der Mentalität des Wunders war durch
die Arbeitslosigkeit bedingt, die alle Schichten bedrohte; die Arbeitslosigkeit,
die aus dem Tagelöhner einen Vagabunden, aus dem Handwerker einen Bettler
und aus dem Studierten einen Schriftsteller machte.
Die Schauergeschichte
Die zeitgenössische Presse spiegelt den Trend zum Übernatürlichen. Entsprechende
Artikel erschienen im "Journal des Luxus und der Moden", Kleists
Abendblätter griffen die Sensationsmeldungen des Tages auf, vornehmlich
solche mit schauerlichem Hintergrund. Am originellsten sind die Zeitschriften,
die sich direkt mit den "allerlei merkwürdigen Stücklein" befaßten,
wie das "Museum des Wundervollen". Dieses Magazin befriedigte
die Neugier der Leser mit Nachrichten von außergewöhnlichen Naturereignissen,
besonderen menschlichen Fähigkeiten, von Abnormitäten in der Tier- und
Pflanzenwelt, von Sitten und Gebräuchen exotischer Völker. Themen sind
etwa "ein Mädchen mit männlichen Zeugungsgliedern an den Armen",
"Ein Affe, den man für eine verstorbene Frau ansieht", "Ein
Kriegsrath geht mit einer trächtigen Kuh schwanger", "Haberkörner
schlagen in dem Magen eines Menschen Wurzel und gehen darin auf",
"Ein Affe schließt richtig von Wirkung auf Ursache, und übt Kriminaljustiz",
"Furchtbare Folgen, welche die Unterlassung des Branntweintrinkens
nach sich zieht" usf.. Das Ungewöhnliche wurde häufig in Form von
Reiseberichten kolportiert. Tatsächlich häuften sich Forschungsreisen,
das Innere der fremden Kontinente war noch weitgehend unerforscht. Beispiele
geben da die Seereisen von James Cook, die mit seinem Tod auf Hawaii endeten,
die berühmte Reise der Bounty (die literarische Verarbeitung "Meuterei
auf der Bounty" erschien erst später), auf der Kapitän Bligh Pflanzen
nach Europa bringen sollte, Napoleons Expedition nach Ägypten, auf der
ihn 167 Fachgelehrte begleiteten, Georg Forsters Weltreise und die späteren
Südamerikaexpeditionen Alexander von Humboldts.
Auch bei diesem Phänomen gibt es einen Wandel von der Früh- zur Spätromantik.
Der Gegenstand der Frühromantik ist noch das Wunder, das Rätselhafte,
in dem das Bedrohliche eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielte.
Erst in der Spätromantik findet sich die Schauergeschichte, die speziell
das Beängstigende, Unbehagliche, Gruselige sucht. Diese Literaturgattung
hält sich das ganze Jahrhundert in Form der Kurzgeschichte, berühmte spätere
Autoren sind Poe und Beaudelaire. Die Wundergeschichten wurden zuerst
als Kunstmärchen nachempfunden oder als Volksmärchen gezielt gesammelt.
Die bekannteste Märchensammlung ist die der Brüder Grimm, aber auch andere
Romantiker haben gesammelt, dazu gehörten u. a. Arnim / Brentano und Tieck.
Gruselige Kunstmärchen oder Sagen waren ebenso beliebt wie die der Volkskultur.
In Brentanos Märchen fließt das Blut und das Unheimliche ist ständig präsent.
Der vollkommendste Autor von unheimlichen Geschichten dürfte wohl E. T.
A. Hoffmann gewesen sein. E. T. A. Hoffmanns "Sandmann" hat
dann auch Freud zu seinem Aufsatz "Das Unheimliche" angeregt.
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